Im Rausch der Daten

Rezensiert von Florian Felix Weyh · 16.08.2009
Die Historikerin Kristie Macrakis gibt in "Die Stasi-Geheimnisse. Methoden und Technik der DDR-Spionage" einen detaillierten Einblick in die Überwachungsarbeit des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR.
"Im Oktober 1969 stellte Erich Mielke die Techniker der streng geheimen ’Arbeitsgruppe S’ des Ministeriums anlässlich des 20. Geburtstags der DDR vor eine besondere Aufgabe. Sie sollten ein ferngesteuertes Auto bauen, es auf 20 km/h beschleunigen und dann explodieren lassen. (...) Die Techniker hatten Grund zur Nervosität. Ostdeutsche Technologie funktionierte im Durchschnitt nur jedes zweite Mal, und sie sollten eine Demonstration für keinen Geringeren als Erich Mielke organisieren. Als der Tag der Veranstaltung nahte, errichteten sie eine Tribüne mit Ehrenplätzen für die Minister. Ein Beteiligter beschrieb das Szenario 1982: ‚Alle beteiligten Genossen stellten sich die Frage: Wird es klappen? Aber als der Genosse Minister startete, der Wartburg sich in Bewegung setzte und innerhalb von Sekunden in Flammen aufging, hatten wir Freudentränen in den Augen, weil sich die Mühe gelohnt hatte.’"

Was für Debakel: Ein Staat, der es nicht schafft, Autos in ausreichender Zahl für seine Bürger herzustellen, bündelt alle Kräfte, um eines jener kostbaren Fahrzeuge möglichst effektiv zu zerstören. Aber so waren die Verhältnisse in der DDR: Ein kleiner, verborgener, hoch privilegierter Bereich unter dem Dach des MfS sollte unter allen Umständen mit westlicher Technik mithalten können. Es war die Auslandsspionage, dort im Besonderen der "Sektor für Wissenschaft und Technik". Hinter dem unverfänglichen Begriff verbarg sich die erfolgreichste Abteilung der Stasi, eine Mannschaft, die mit einer Armee von Auslandsspionen westliche Forschungseinrichtungen und Industriebetriebe infiltrierte. Entscheidend ist allerdings, wie sehr die reihum gestohlenen Informationen – bis hin zu Blaupausen ganzer industrieller Fertigungsprozesse – der DDR im Überlebenskampf geholfen haben. Die Antwort der amerikanischen Historikerin Kristie Macrakis fällt ernüchternd aus: So gut wie gar nicht. Denn:

"Paradoxerweise schwächte jedes aus dem Westen eingeschmuggelte Dokument den echten wissenschaftlichen Fortschritt in Ostdeutschland, indem dieser weiter vom Westen abhängig blieb."

Nacktes Wissen ohne die Fähigkeit der Integration ins eigene Wirtschaftsleben nützt nichts, und spätestens seit den 70er-Jahren hatte die DDR-Industrie derart den Anschluss an die Weltstandards verloren, dass man für jede ausspionierte Neuerung drei Entwicklungsschritte hätte überspringen müssen, um sie in die eigenen Fabriken zu implementieren. Dennoch taxierte das MfS, schon aus Prestigegründen gegenüber der politischen Führung, jedes aus dem Westen gelieferte Dokument auf seinen Ersparnisfaktor. Über Jahrzehnte hinweg kam eine beeindruckende Zahl zusammen, freilich eine reichlich fiktive. Als in den 80er-Jahren die Mikrochip-Revolution einsetzte, blieben Erich Mielkes Mannen allerdings hoffnungslos zurück. Kaum hatte man das scharfe Embargo des Westens unterlaufen und sich heiße Ware schwarz besorgt, war sie auch schon veraltet, und der neuerlich gestohlene Nachschub passte nicht mehr zur vorigen Typreihe. Der Gegner machte sich sogar darüber lustig.

"Im Westen war es kein Geheimnis, dass Ostblockländer westliche, vom Embargo betroffene Computer stahlen und verändert nachbauten. Der Osten prahlte in der Presse häufig damit. Ostdeutsche Wissenschaftler fassten sich an den Kopf, wenn sie auf einen DEC-Chip stießen, auf dem in schlechtem Russisch eine Nachricht stand: ‚CVAX... Wann habt ihr genug geklaut?"

Nur an solchen Stellen lesen sich "Die Stasi-Geheimnisse" wie eine Thrillerparodie. Kristie Macrakis, die Wissenschaftsgeschichte in Atlanta lehrt und sich lange Jahre mit Stasi-Originalakten in Berlin beschäftigte, ist eher das Gegenteil einer Anekdotenerzählerin, nämlich von Fakten besessen. Nicht selten schießt sie – wie in diesem Beispiel – übers Ziel hinaus, indem sie Nebensächliches unerklärt im Text stehen lässt. CVAX, muss man wissen, lautete schlicht die Markenbezeichnung des Mikrochips der Firma DEC. An anderer Stelle, bei einer Bildunterschrift, wird ein als Maßstab dienendes Lineal dem BKA zugeordnet, obwohl es deutlich das Logo GdP, Gewerkschaft der Polizei, trägt, doch beide Informationen, die falsche wie die richtige, sind im Grunde entbehrlich. Es ist der Rausch der Daten, dem die Autorin genauso erliegt, wie die Spione des MfS vor ihr. Macrakis jagt Daten, und dem Leser erschwert dies die Lektüre beträchtlich. Hunderte von Klarnamen und Pseudonymen rauschen an ihm vorüber, Zahlen, Kürzel, Fakten, Fakten, Fakten:

"Im Jahr 1973 erhielten die Agenten im Ausland so viel Geheimschriftpapier, dass es für mehrere Bücher gereicht hätte (1080 Blatt präpariertes Papier), außerdem mehrere Hundert Einheiten Entwicklerflüssigkeit für das Sichtbarmachen der Geheimtinte sowie über 100 manipulierte Textilien (wie z. B. Schals) und Geheimtintenpatronen für Füller."

Im Grunde demonstriert das Buch damit das Dilemma der Informationsüberflussgesellschaft. Wichtiges kann schon mal untergehen, wo so viel Unwichtiges kommuniziert wird, das ähnelt den Mühen der Überwachungsarbeit in der DDR. Verblüffend etwa, wie ineffizient die Postüberwachung verlief, obgleich das MfS eine automatische Brieföffnungs- und Wiederverschließungsmaschine konstruieren ließ. Von knapp 90.000 untersuchten Briefen im Jahr 1972 wiesen gerade mal 34 jene versteckte Spionageanweisungen westlicher Geheimdienste auf, um derentwillen man den ganzen Aufwand betrieb.

Dieser zweite Teil des Buches mit seiner ausführlichen Dokumentation der Stasi-Überwachungstechnologien erweckt ob deren Primitivität heute nachgerade Rührung, die allerdings fehl am Platze ist. Man darf nicht vergessen, dass es auch um Menschenleben ging; noch 1984 richtete die DDR den "Verräter" Werner Teske hin. Klare Worte zum Sinn oder gar der Legitimität von Spionage – worüber man zumindest in Friedenszeiten streiten könnte –, bekommt man von Macrakis nicht zu hören. Sie bleibt in ihrer Gegenstandsbegeisterung strikt sachlich, mit manchmal durchschimmernder Hochachtung vor den MfS-Erfolgen. Das mag den westdeutschen Leser irritieren, führt aber an manchen Stellen zu Erkenntnisgewinn. So waren die skandalisierenden Geruchsproben ostdeutscher Dissidenten keineswegs eine perfide DDR-Erfindung; das Verfahren wurde schon Anfang des 20. Jahrhunderts von Kriminalisten bei der Tatermittlung eingesetzt. Menschlich schäbig bleibt das Spionagehandwerk dennoch – der strahlende Vaterlandsverteidiger ist in Wahrheit meist ein Säufer, hoch verschuldeter Spielsüchtiger oder bindungsloser Sexualheld; nur Letzteres erinnert an James Bond.

Kristie Macrakis: Die Stasi-Geheimnisse. Methoden und Technik der DDR-Spionage
Aus dem Englischen von Frank M. von Berger und Dirk Oetzmann
Herbig Verlag, München 2009
Kristie Macrakis: "Die Stasi-Geheimnisse"
Kristie Macrakis: "Die Stasi-Geheimnisse"© Herbig Verlag