Im Käfig der Schuld

Von Natascha Pflaumbaum · 29.06.2011
Aulis Sallinens Barabbas-Dialoge dokumentieren die Geschichte des Barabbas und die Geschichte des Judas in einem wechselseitigen Klagedialog – beide Männer haben dieselbe große Geschichte: eine Geschichte der Schuld, der Verdammnis.
Als der Junge das erste Mal in seinem übergroßen weißen Mantel die Bühne im Bockenheimer Depot Frankfurt betritt, spricht er fast prophetisch über Judas, der sich zuvor masochistisch mit einer siebenschwänzigen Katze gegeißelt hatte, und Barabbas, der seine Wut und Trauer in die Welt hinausbrüllt. Die Schrift müsse erfüllt werden, ruft der Junge. Und so plötzlich, wie er aus dem dunklen Nichts auftaucht, verschwindet er auch wieder. Der kleine Junge ist der Erzähler, eine der fünf Figuren, in der Kammerkantate "Barabbas-Dialoge" des finnischen Komponisten Aulis Sallinen, die nun am Bockenheimer Depot in Frankfurt Premiere hatte.

Zwei biblische Gestalten stehen im Mittelpunkt der Barabbas-Dialoge von Aulis Sallinen: Barabbas (Boris Grappe) und Judas (Florian Plock). Sie waren einst Kriminelle: Guerillakämpfer, die Attentate auf die Römer verübten. Beide sind auch verwickelt in den Mord an Jesus, weil sie ihn erst möglich gemacht haben. Der eine – Judas – hat Jesus offensichtlich und augenscheinlich verraten. Der andere - Barabbas - hingegen ist nur indirekt an der Tötung Jesu beteiligt. Er war einer der beiden Männer, die Pontius Pilatus in einer Gerichtsverhandlung auf Geheiß der Juden freiließ. Sein Mithäftling Jesus wurde daraufhin gekreuzigt.

Aulis Sallinens Barabbas-Dialoge dokumentieren die Geschichte des Barabbas und die Geschichte des Judas in einem wechselseitigen Klagedialog – beide Männer haben dieselbe große Geschichte: eine Geschichte der Schuld, der Verdammnis. Sallinen leuchtet diese Schuldgefühle aus, indem er Texte collagiert, die genau diesen prekären, dramatischen Augenblick, in dem die beiden Männer sich schuldig gemacht haben, schildern. Das sind nüchtern beschreibende Texte aus der Bibel, emotionale lyrische Texte des finnischen Dichters Lassi Nummi, und von Sallinen selbst der modernen Sprache angepasste Bibeltexte. So unterschiedlich die Texte auch sind: Sie fügen sich zu einem großen Lamento, durchsetzt von männlichem Selbstmitleid. Dieses Textgeflecht verwebt Sallinen mit einer filigranen, meist sehr düsteren, aber eindringlichen, innigen Musik, gespielt von sieben Solisten: Violine, Cello, Flöte, Klarinette, Akkordeon, Schlagzeug und Klavier.

Wie so häufig bei Aulis Sallinen wirkt auch diese Kammermusik sehr traditionell, so als habe man Vieles schon einmal gehört: die schimmernden Läufe auf dem Akkordeon im französischen Chanson, die Vibrato-schweren Kantilenen in der Geige bei Puccini, die Glocken in der Kirche. Sallinens Kunst besteht darin, aus dem Vielgehörten, Fragmentarischen ein großes Ganzes entstehen zu lassen, ohne dass es eklektizistisch wirkt. Diese Musik hier braucht gute Solisten: Die sieben Musiker, die im Bockenheimer Depot in Frankfurt quasi auf der Bühne spielen, nehmen sich hin und wieder ein paar gestische Freiheiten, mitunter wirkt der Klang aber doch sehr "domestiziert". Sebastian Zierer dirigiert, er organisiert die Klänge präzise und sehr akkurat im Sinne eines Kammer"orchester"klangs. Da diese Musik aber häufig sehr gestisch gedacht und nach dem Prinzip eines großen Dialoges konzipiert ist, wäre es mitunter auch ganz schön gewesen, wenn sich die Solisten tatsächlich stärker solistisch hätten ausdrücken können.

Die Regisseurin Ute M. Engelhardt greift die düstere Stimmung der Musik auf und setzt die Geschichte in einen kleinen, dunklen, quadratischen Raum, der auf verschiedenen Ebenen von schmalen Planken umrandet ist: Im Zentrum dieses Raums sitzt das Musikerensemble, eine Ebene darüber suchen Barabbas und Judas auf den schmalen Planken ihren Weg. Ein mannsgroßer Käfig in der Ecke ist mehr als nur das reale Gefängnis, aus dem Barabbas befreit wird: Er ist das Symbol für das immerwährende Gefangensein des Menschen in seinem eigenen Tun. Weil sich die Geschichten von Judas und Barabbas sehr schnell auserzählen, erfindet Sallinen eine weitere Figur: die Frau des Barabbas. Sharon Carty singt und spielt die Partie beeindruckend aus der Haltung der treuen, aber selbstbewussten Ehefrau, die symbiotisch und kollektiv mit Barabbas gemeinsam die Schuld auf sich nimmt und leidet. Das große Lamento wird also erzählt vor dem Hintergrund einer unerfüllten, gescheiterten Liebe, die einst so aussichtsreich war. Das dramatisiert die Geschichte zwar noch einmal um ein Vielfaches, wirkt aber auf der Bühne in Frankfurt vordergründig kitschig, weil die Regisseurin diese Liebesepisode wie eine Schmonzette aus den 50er Jahren inszeniert – stimmstark gesungen, charakterfest gespielt von Sun Hyung Cho (Das Mädchen) und Simon Bode (Der Jüngling).

Aulis Sallinens Barabbas-Dialoge sind ein Solitär in der Gattungsgeschichte, ein Oratorium sagen die einen, eine Kantate die anderen. Es ist darum eine berechtigte Frage, ob diese Musik überhaupt eine Szene zulässt. Im Frankfurter Fall vermittelt die Inszenierung tatsächlich ein Verständnis der Geschichte, die die Partitur nicht so ohne Weiteres offenbart. Ute M. Engelhardt besetzt die Partie des Erzählers mit diesem kleinen Jungen (Luca Paredes-Montes). Er trägt diesen weißen Mantel, schwarze Schuhe mit weißen Gamaschen: ein Relikt aus einer vornehmen Welt. Seine Stimme ist hell, er artikuliert perfekt, spricht deutlich und doch natürlich - wie ein Prophet, seine Gesten sind die eines Gottes: groß, raumgreifend. Bei allem Lamento der Männer ist es dieser Junge - das personifizierte Schicksal -, der diese Inszenierung so eindrucksvoll macht. Das Schicksal ist rein und unbefangen. Der Mensch ist frei: Schuld entsteht nicht durch eine höhere Macht. Manchmal ist es – wie im Falle Barabbas - nur ein winziger Augenblick, aus dem eine Schuld entsteht, manchmal ist es – wie bei Judas - eine vorsätzliche Tat. Viel Applaus nach 50 Minuten.
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