Düster und tableauhaft

Von Natascha Pflaumbaum · 05.06.2011
Zum Abschluss ihrer Saison hat die Oper Frankfurt Aulis Sallinens zwei-aktige Oper "Kullervo" auf die Bühne gebracht. Die Geschichte erzählt die Lebenschronik des Kullervo, dessen Familie Opfer einer Sippenfehde geworden ist, und der als einziger die Bluttat seines Onkels Unto überlebt hat.
Regisseur Christof Nel machte aus dem vor Archetypen strotzenden finnischen Mythos ein düsteres Familienspektakel, Dirigent Hans Drewanz setzte Sallinens Musik dagegen leicht und farbig in Szene.

Wenn sich zu Beginn der Oper der Chor aus dem düsteren Rücken der Bühne ins Halbhelle schiebt - im ersten Stock eines entkernten Hauses -, von Untos Gräueltaten singt, also von dem brutalen Mord an der Familie seines Bruders Kalervo, beschwört Regisseur Christof Nel in Frankfurt weniger finnisches Epos als die große antike Tragödie herauf. In hartem Staccato deklamiert der Chor die furchtbare Geschichte, sein agitatives Skandieren, die Durchrhythmisierung der Sprache: das ist der Grundmodus der Musik in dieser Oper von Aulis Sallinen. Das ist aber auch der Ton, in dem der Chor in der antiken Tragödie das Geschehen kommentiert, ausleuchtet, nach Draußen trägt.
Aulis Sallinen hat seine Oper "Kullervo" in den 80er-Jahren geschrieben, die Musik klingt aber viel älter: wabernde Klänge und Klangcluster, Sphären, die, wie etwa zu Beginn der Oper, große Assoziationen wecken ("Rheingold"), wechseln mit stark sequenzierten, ausgesprochen eingängigen, mal archaisch, mal folkloristisch anmutenden Rhythmen, die das Werk leicht hörbar machen, die gefällig sind, aber nicht stark genug, um die Geschichte zusammenzuhalten. Zerklüftet wirkt die Musik, zusammengesetzt aus Fragmenten; weil sich aus ihr nichts entwickelt, "steht" sie bisweilen.

Dirigent Hans Drewanz lässt diesen Stillstand nur selten zu, treibt rhythmisch forsch voran, setzt vor allem auf dynamische Effekte und lässt – sofern die Musik das in den Gesangspartien der Mutter (Heide Brunner) und der jungen Frau des Schmieds (Jenny Carlstedt) einfordert – das Orchester geradezu schwelgerisch aufblühen. In diesen Szenen gehört allein den beiden Sängerinnen, die mit jugendlich-dramatischer Kraft ihre Rollen stimmlich ausleben, die Bühne.

Christof Nel - bekannt für seine streng psychoanalytischen Ausleuchtungen von Opernstoffen - hat dieser "stehenden" Musik szenisch nichts entgegenzuhalten: er bebildert den finnischen Mythos spärlich und düster, unbeweglich, tableauhaft. Ein Haus auf zwei Ebenen, vier karge Zimmer, wenige Requisiten: Tische, Stühle, aber viel Theaterblut (Bühne: Jens Kilian). Das komplette Personal in einheitlich graustichiger Kleidung (Kostüme: Ilse Welter) bewegt sich statuarisch. Vater Kalervo sitzt wie ein Roboter am Küchentisch, rührt mechanistisch seinen Kaffee um: diese Welt ist komplett empathiefrei. Anstelle einer Personenregie schafft Nel organisierte Figurenarrangements auf der Bühne: nie hat man den Eindruck, das dramatische Personal spielte sich gegenseitig an, jeder ist gefangen in seinem eigenen subjektiven Monolog. Schon lange – so scheint es – hat man sich hier schweigend auf die Sprache der Gewalt geeinigt.

"Kullervo" hält eine Menge Geschichten parat, die für einen Regisseur wie Christof Nel eine wahre Fundgrube sein müssten: doch Nel umschifft in dieser Frankfurter Inszenierung geradezu jede Versuchung, aus der Figur Kullervo ein therapeutisches Fallbeispiel zu machen. Da ist die Geschichte vom verlorenen Sohn, ein unbewusster Inzest, der Ödipuskomplex, da ist die Rede von Gewaltexzessen, von Schuld. Nel erzählt die Geschichte ohne doppelten Boden, ohne konkrete Botschaft, er transformiert den Stoff auch nicht in die Gegenwart: so bleibt der Stoff recht fremd und unbestimmt.

Ashley Holland, der den Kullervo singt, tritt irritierend oft in den Hintergrund, stimmlich und darstellerisch wirkt er recht eindimensional: düster, gewalttätig, ein Berserker, stimmlich etwas rauh und charakterlos. In Frankfurt stiehlt ihm Peter Marsh, der Kullervos treuen Freund Kimmo mit eiserner, kräftiger, großer Stimme singt, die ganze Aufmerksamkeit, indem er als sensibler Freund dem brutalen Schläger den Spiegel vorhält. Christof Nels Inszenierung bleibt insgesamt dunkel und diffus: er verschenkt die szenischen Möglichkeiten, die ihm Sallinens Musik bietet, die ihm Chor, Ensemble und Orchester bieten. Das Publikum - ein für Frankfurter Verhältnisse ausgesprochen kleines Premierenpublikum - begeisterte sich dennoch.