Sie ringen beide mit sich und den Nationalsozialisten. Ilse Aichinger (1.11.1921-11.11.2016), nach dem Krieg ein Star der deutschen Literatur, ist 1938 in Wien als sogenannte Halbjüdin von der Welt verlassen. Sie muss um ihr Leben, das der Schwester und der Mutter fürchten. Sophie Scholl (9.5.1921-22.2.1943), nach dem Krieg die Ikone des deutschen Widerstands, trägt ein BDM-Halstuch, ist aber bereits wegen ideologisch verdächtiger Äußerungen degradiert worden.
Schreiben statt sich umzubringen
In Briefen, Tagebüchern und literarischen Notizen suchen beide nach Orientierung und Halt, um der Zeit zu widerstehen. "Die härtesten Maßstäbe" will Scholl an sich anlegen, und Aichinger notiert nicht weniger radikal: "Schreiben kann man wie beten eigentlich nur, anstatt sich umzubringen." Aichinger und Scholl sind sich nie begegnet, jedoch in ihren Schriften und Gedanken nah.
Ilse Aichinger erfährt von Sophie Scholl erst, als diese bereits tot ist.
Es war an einem frühen Vorfrühlingstag an einer Mauer der inneren Stadt, nahe dem jüdischen Tempel, nahe der Residenz der geheimen Staatspolizei und nahe von Adalbert Stifters ehemaliger Wohnung in Wien, an dem ich auf einem der unverkennbaren Anschläge, die die zum Tode Verurteilten anprangerten, zum ersten Mal die Namen der Weißen Rose las. (Ilse Aichinger: "Nach der Weißen Rose")
Aichinger hält die Topografie genau fest. Sie zeichnet ein historisches Dreieck, vermerkt aber nicht, wann sie im Jahr 1943 liest, dass die Todesurteile vollstreckt worden sind.
Ich kannte keinen dieser Namen, aber ich weiß, daß von ihnen eine unüberbietbare Hoffnung auf mich übersprang. Das geschah nicht nur mir. Diese Hoffnung hatte, obwohl sie es uns möglich machte, in dieser Zeit weiter zu leben, doch nichts mit der Hoffnung zu überleben zu tun. (Ilse Aichinger: "Nach der Weißen Rose")
Die ersten Hinrichtungen von Mitgliedern der Weißen Rose finden am 22. Februar 1943 gegen 17 Uhr in München statt. Zu diesem Zeitpunkt lebt Ilse Aichinger mit der jüdischen Mutter in einem Zimmer in der Marc-Aurel-Straße, das ihr zugewiesen worden war. Die Marc-Aurel-Straße mündet auf den Morzinplatz, wo sich die Zentrale der Geheimen Staatspolizei befindet. Leben und Tod residieren auf engstem Raum.
Im Namen des deutschen Volkes: In der Strafsache gegen
1. den Hans Fritz Scholl aus München, geboren (…) am 22. September 1918
2. die Sophia Magdalena Scholl aus München, geboren (…) am 9. Mai 1921
3. den Christoph Hermann Probst aus Aldrans bei Innsbruck, geboren (…) am 6. November 1919, (…) hat der Volksgerichtshof, 1. Senat, auf Grund der Hauptverhandlung vom 22. Februar 1943 (…) für Recht erkannt: Die Angeklagten haben im Kriege in Flugblättern zur Sabotage der Rüstung und zum Sturz der nationalsozialistischen Lebensform unseres Volkes aufgerufen, defaitistische Gedanken propagiert und den Führer aufs gemeinste beschimpft und dadurch den Feind des Reiches begünstigt und unsere Wehrkraft zersetzt. Sie werden deshalb mit dem Tode bestraft.
Unterzeichnet ist das Urteil von Dr. Roland Freisler, dem Präsidenten des Volksgerichtshofs. Die Vernichtung der Gegner soll einen Schlusspunkt setzen, doch Ilse Aichinger wächst gerade aus ihr eine Hoffnung zu. Es gibt also Menschen, die sich auflehnen gegen die Nationalsozialisten, und einer dieser Menschen ist genauso alt wie sie.
"Widerstand des Lebens"
Gut zehn Jahre später – Ilse Aichinger ist auf dem Weg, die große Hoffnungsträgerin der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zu werden – studiert sie Aufzeichnungen von Hans und Sophie Scholl. Eine kommende Generation werde beide zum Kostbarsten rechnen, "was von unserer Zeit geblieben ist", schreibt sie. Sie hätten einen Widerstand "von ganz innen her", einen "Widerstand des Lebens." Ihre eigenen Schriften aus jenen Jahren zeigen eine erstaunliche Verwandtschaft zu denen von Sophie Scholl.
Das Manuskript der Sendung können Sie
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Es sprechen: Veronika Bachfischer, Lisa Hrdina, Gilles Chevalier und Ole Lagerpusch
Ton: Alexander Brennecke
Regie: Beatrix Ackers
Redaktion: Jörg Plath