Illegaler Sport

Geheim-Training

Zu Fäusten geballte Hände von Karate-Studenten
Konnte nur im Geheimen stattfinden: Karate in der DDR © Prakash Mathema / AFP
Von Anja Röbekamp |
Wie trainiert man einen Sport, den es gar nicht gibt? Offiziell duldete die Staatsführung der DDR Karate nicht. Das machte sie durch Bespitzelung und Verfolgung der Aktiven auch unmissverständlich deutlich. Trotzdem haben bis zu 2000 Menschen in der DDR heimlich Karate praktiziert.
"Wo wir jetzt sitzen, 200 m Luftlinie, da stand die Turnhalle, die war mitten im Ort – und mitten in der Pampa: Man hat die nicht gesehen von der Straße. Wir haben als Verein dafür gesorgt, dass wir da Zugang hatten, also haben die Wiese freigehalten, haben die Außenanlagen freigehalten. Es gab keine Heizung, kein warmes Wasser, wir haben1985 bei minus 5 Grad trainiert, 1 cm Reifansatz auf dem Parkett. Aber die war immer offen für uns. Die einzigen, die zugeguckt haben waren die Wildschweine."
Berlin Rüdersdorf. Uwe Waskow, der heute als Physiotherapeut arbeitet, hat dort Karate trainiert. Diesen Sport gab es in der ehemaligen DDR eigentlich nicht. Da war es gut, eine Halle zu haben, die nicht einzusehen war.
Karate war unerwünscht. Das geht jedenfalls aus einer Akte des Ministeriums für Staatssicherheit hervor:
Sprecher: Karatesport ist laut Beschluss des Bundesvorstandes des DTSB in der DDR zu unterbinden und ist auch keine Disziplin des Mehrkampfsportes in der GST, der Gesellschaft für Sport und Technik.
Die in der Vergangenheit sich in der DDR nach dem Vorbild von Karateclubs, -gruppen, und -schulen gebildeten Karategruppen wurden vorwiegend im Jahre 1985 aufgelöst und zersetzt
Was hatte der Staat gegen diesen Sport? War er nur unerwünscht oder doch verboten? 30 Jahre danach gehen die Meinungen darüber auseinander. Die Ost-Karateka Dirk Zimmermann, Axel Dziersk und Mario Hohnholz haben unterschiedliche Erfahrungen gemacht
"Ich denke, dass meine Generation, die so um 1980 in irgendwelche Sachen eingestiegen ist, da war das Alles schon auf dem breiten Weg der Entspannung."
"Wie man so schön sagt es ist ein ungeschriebenes Gesetz. Das hat jeder gewusst, genau wie jeder weiß, darf ich stehlen, oder nicht, da guckt keiner nach, jeder weiß das."
"Es gab ja nur Gerüchte, wenn du jetzt Karate machst, musst du ein bisschen aufpassen."
Vordergründig wollte der DTSB, der Deutsche Turn und Sportbund der DDR, die olympischen Kampfsportarten schützen. Talente sollten zum Judo oder anderen Sportarten gehen. So die gängige Meinung. Trotzdem fand Karate in der ehemaligen DDR im Verborgenen statt, erzählt Ralf Masella, heute Präsident der Karateunion Mecklenburg-Vorpommern:
"Wir haben uns weiter getroffen, eben auch auf Privatgrundstück."
Ohne Schulen und Trainer fing der Karateka in der DDR oft als Autodidakt an: mit einem Lehrbuch in der Hand. Das musste man erst mal haben, denn die Bücher kamen aus dem Westen und waren in der DDR nur in den Giftschränken der Bibliotheken vorhanden. Da hatte natürlich nicht jeder Zugang, es sei denn, man hatte Beziehungen und konnte die Bibliothekarin überreden, diesen Schrank einmal offen zu lassen und weg zu gucken. Also wurde die illegale Fachliteratur eingeschmuggelt. Axel Dziersk, ein Karate-Trainer, bat seine Mutter um Hilfe.
"Also, sie ist wieder rübergefahren, Paket geschickt, möglichst zu Weihnachten, da ist soviel Betrieb, haben wir gedacht, die werden ja nicht jedes Paket aufmachen. Zweimal versucht zu schicken, jedes Mal 20 Mark weg. Denn habe ich weiter gelöchert, ich sage Mutter mach, mach, mach und denn hat sie sich das denn doch mal hier oben rin gesteckt und hat das Ding rüber geschmuggelt. Dann hatte ich das erste Buch, von Albrecht Pflüger, 2. Teil. Ich sage, hättste wenigstens den ersten gebracht!"
"Dann kam einer von den Soldaten und sagte: Ich hab n Buch aus dem Westen. Ohohoh! Bloß nicht weitersagen – aber her damit! Rein ins Fotolabor und denn erstmal für jeden ne Kopie gemacht, alles schön beiseite gepackt"
Lehrbücher aus dem Westen wurden verliehen und kopiert
Ein ehemaliger NVA-Soldat erläutert das: Jede einzelne Seite wurde abfotografiert. Das konnte eine Weile dauern und füllte dann vier Aktenordner. Die Kopiergeräte der DDR waren dafür berüchtigt, unscharfe und wenig haltbare Ergebnisse zu liefern, das wollte man nicht riskieren. Es ging ja vor allem darum, ganz genau hin zu sehen, erinnert sich Andreas Förster, ein ehemaliger Sportoffizier
"Das wurden dann so ne Dinger mit Zusammenschrauben – so ne Fotos steif wie Sau aber konntest eben Bilder drauf erkennen"
"Mensch, das ist doch die Idee, das gucken wir uns genau an: Wie macht man das, wie steht der da – machen wir alles so nach wie es im Buch steht!"
Albrecht Pflüger, ein Karatepionier in der Bundesrepublik, hätte in der DDR eine weitere Auflage verkaufen können. Seine Lehrbücher wurden verliehen und kopiert, und so verbreitete sich Karate im ganzen Land: durch diese gemeinsame Basis konnten sich die Sportler organisieren.
Noch heute ist Shotokan Karate in Ostdeutschland sehr stark vertreten. Andere damals verbotene Kampfkünste wie Kung Fu oder Taekwondo hat man trainiert, wenn man zufällig Kontakt mit jemandem bekam, der das vorher im Ausland gelernt hatte. Auch der eine oder andere Karateka hatte das Glück, einen Trainer mit Erfahrung zu treffen. Wie Ralf Masella
"Da haben wir dann mit Algeriern zusammen trainiert, die hier im Überseehafen Umschlagfacharbeiter gelernt haben, und die waren Karateka, und haben uns unter im Prinzip, ja, recht extremen Umständen, ein paar Techniken beigebracht, in alten Häusern, auf dem Dachboden mit Pudelmütze auf dem Kopf bei minus 10 Grad."
Die unerwünschte Sportart fand im ganzen Land statt, und Einzelpersonen fanden sich zu Gruppen zusammen. Die enthusiastischen Zivilisten und die Angehörigen der Staatsorgane, die mehr Karate machen wollten, als es der Dienstsport vorsah, hatten dabei das gleiche Problem: Es braucht ein bisschen Platz um Karate zu trainieren, wie ein damaliger NVA-Soldat erzählt.
"Dann haben wir uns selber zu Lehrern aufgeschwungen und gesagt, jetzt versuchen wir mal, ob wir eine Hallenzeit kriegen, dann machen wir eben den Sport und nennen das Ganze 'Allgemeine Sportgruppe'"
Der Massensport in der DDR lief über die BSGs, die Betriebssportgruppen. Sie wurden kontrolliert. Eine Karate-Gruppe hätte da keine Chance gehabt. Die "illegalen" Sportler haben sich also namentlich getarnt: Von Volks- oder Heilgymnastik über Kraftsport bis zu ostasiatischem Tanz reichten die Deckmäntelchen, und Ralf Masella weiß:
"An der Ingenieurshochschule für Seefahrt Warnemünde hieß das Ganze nicht Karate, sondern maritime Selbstverteidigung."
Naheliegend und daher oft verwendet waren auch Judo und Selbstverteidigung – das fiel allerdings früher oder später meistens auf, und die Sportler mussten die Halle verlassen. Uwe Waskows Gruppe ist das in Adlershof passiert.
"Nach sechs Wochen ist irgendjemand aufgefallen, dass wir gar kein Judo machen, sondern Karate … da hat jemand durch die Vorhänge geguckt und dann mussten wir leider raus und damit war erst mal vorbei."
Axel Dziersk hat das Raumproblem damals anders gelöst: er baute sich gleich einen eigenen Übungsraum, Anfang der 70er-Jahre. Das erste Karate-Dojo der DDR entstand aus einer alten Müllkutte, die zum Pferdestall umgebaut wurde. Dahinter wurde das Dojo versteckt - mit einer Fluchttür versehen. Das Pferd hatte er sich angeschafft, um als Stuntman (in der DDR hieß das Kaskadeur) arbeiten zu können, und dieses Pferd brauchte einen Stall, der ihm dann doppelt zur Tarnung diente. Ein Kaskadeur muss ja auch kämpfen können, und unter diesem Deckmantel konnte Dziersk halb offen, halb versteckt Karate trainieren.
"Ich hätte es so oder so gemacht, aber es hat mir parallel dazu ins Konzept gepasst, wo ich gesagt habe, okay, jetzt kann ich’s ja mehr oder weniger doch machen, fast offiziell."
Irgendwann kam er mit dem Lehrbuch allein vor dem Spiegel nicht mehr weiter, und Dziersk begann, Kontakte in die sozialistischen Bruderstaaten aufzunehmen, um dort Hilfe von erfahrenen Trainern zu bekommen. Denn das Karateverbot in der DDR war ein Sonderweg des kleinen Landes: in allen anderen Staaten des Ostblocks war Karate erlaubt. Die Karateka in Warnemünde hatten Hilfe aus Polen, erzählt Ralf Masella.
"Dazu kam, dass es hier eine zweite Karate-Gruppe gab, und die haben damals schon gute Verbindungen zum polnischen Karate-Verbandspräsidenten gehabt, und wir haben die genutzt."
Trainer aus dem Ausland unterrichteten im Osten
Wer mehr lernen und Prüfungen oder Wettkämpfe absolvieren wollte, brauchte Hilfe aus dem Ausland: Trainer, die das Risiko auf sich nahmen in die DDR zu kommen um dort aktiv zu werden. Oder er musste selbst reisen – nicht ganz einfach in der DDR, denn auch Besuche der sozialistischen Nachbarstaaten waren eingeschränkt. Nach 1980, als die Solidarnosc-Bewegung begann, brauchte man eine Einladung, um nach Polen fahren zu können. Nach Ungarn durfte man nur eine bestimmte Summe Geld mit hinein nehmen, und Kontrollen gab es auf beiden Seiten. Axel Dziersk kommt in dieser Zeit auf eine andere Idee
"Das Gute liegt doch ganz nah. Warum guckst du so weit? Ich sage Westberlin! Anrufen, scheiße, nicht durchgekommen, stundenlang."
Es gab zehn direkte Telefonleitungen von Ost- nach West-Berlin, mit einer vierstelligen Vorwahl. Irgendwann hat es geklappt mit dem Kontakt zu Trainern aus West-Berlin. Peter Wirbeleit z.B. ist regelmäßig in den Osten gefahren, um dort unentgeltlich Training zu geben. Eigentlich sollte er in Sachen Fachliteratur helfen. Aber er war und ist überzeugt
"Karate kann man nicht aus Büchern lernen! Das muss so 1985 gewesen sein. Dann habe ich mit denen Kontakt aufgenommen, und die waren völlig platt, als ich da auflief."
Es kam zu einem ersten "konspirativen Treffen" am Alexanderplatz, das sich zu einem regelmäßigen Training entwickelte. Bis zur Wende hat Wirbeleit im Osten Training gegeben. Der Verdacht, dabei beobachtet worden zu sein, bestätigte sich: Seine Besuche waren der Stasi eine Akte wert.
"Da findet man am Anfang so eine OPK, Operative Personenkontrolle, da wird definiert: Was ist der Auftrag die Abteilung ist dann irgendwie Terrorismusbekämpfung oder sowas, und ich denke, Hallo, ich habe da Sport gemacht, nichts weiter! Ich habe auch immer darauf geachtet, dass da – auch sprachlich – nichts anderes passiert."
Vorsichtig waren die Karateka in vieler Hinsicht: neue Leute kamen nur auf Zuruf in die Gruppen, und die wurden möglichst klein gehalten. Die Sportler haben sich natürlich auch wohlweislich gehütet, ihr Können mal auf der Straße oder in der Disco anzuwenden. Uwe Waskow erinnert sich
"Na, das wäre ein richtiger Treffer gewesen!"
Trotzdem befasste sich die Hauptabteilung XXII, die Terrorabwehr, mit dem unerwünschten Sport. Es gab keine Karategruppe in der DDR, die nicht von der Stasi beobachtet wurde.
In einer Akte liest sich das so:
Sprecher: Zu den im Rahmen der Operativen Personenkontrolle "Karate" bekanntgewordenen Karateanhängern und offiziell existierenden Karategruppen in den BSGs sowie im Klubhaus der FDJ, werden weiter zielgerichtete inoffizielle Kontrollmaßnahmen, entsprechend der Orientierung der Abt. XXII des MFS Berlin, geführt.
Was Uwe Waskow erzählt, gilt für viele Karate-Gruppen:
"Wir hatten einen BSG-Vorsitzenden, der musste tatsächlich einmal im Monat in die Keibelstraße fahren, und wurde dort von der Stasi verhört, was wir da machen."
Wohnungen wurden verwanzt, Telefonate abgehört, die Post kontrolliert und der Arbeitgeber befragt, wie bei Mario Hohnholz.
"Da hat unser Chef Besuch bekommen vom Staatssicherheitsdienst, war eine ganze Stunde im Büro und kam mit rotem Kopf raus: Mario, die wissen alles über dich, alles, auch dass du Karate machst!"
Wovor hatten die Beteiligten denn konkret Angst?
"Man weiß es letzten Endes nicht. Wegen der Gerüchte, das Schlimmste wäre gewesen wenn es geheißen hätte: Aufhören oder Strafe!"
Für Mario Hohnholz war eher unklar, was die Stasi eigentlich von ihm wollte. Axel Dziersk weiß inzwischen mehr:
"Mein bester Kumpel war Stasi und musste mich beobachten. Und dann sind auf mich 44 IMs angesetzt worden. Ich war eingestuft als der gefährlichste Mann der DDR: Er kann Judo, er kann Karate, er besitzt Waffen und er kann mit Waffen umgehen. Und er bildet eine Truppe aus."
Die Truppe, die er angeblich ausbildete, bestand aus drei Schülern. Aber der Begriff "Truppe" macht vielleicht deutlich, worum es ging: Wenn ein Mensch ein Verbot ignoriert, ist das eine Sache. Wenn er sich mit weiteren Menschen dazu verabredet, regelmäßig und kontinuierlich dieses Verbot zu übertreten, kann es gefährlich werden. Trotzdem ging es weiter: Nach dem "Schneeballprinzip" verbreitete sich Karate im ganzen Land und Dziersk wurde zu einer Art Guru in diesem Sport.
Angeblich waren Mitte der 80er-Jahre die illegalen Karategruppen aufgelöst. In Wirklichkeit ging es da für viele erst richtig los. Es fanden große Lehrgänge statt, und das sogar in jährlicher Folge. So zum Beispiel in Ahlbeck, Anklam und Bad Schandau. Dabei waren teilweise über hundert Menschen versammelt, die gemeinsam das Karate-Verbot ignorierten. Außerdem formierte sich der "Karateverband der DDR", mit Vorsitzenden in allen 15 DDR-Bezirken. Das konnte den Staat nicht kalt lassen!
Hat die Stasi deshalb auch mal hart durchgegriffen?
Bernd Hartmann, der heute als Personal Trainer arbeitet, erzählt von elf Verhaftungen, die er erlebt hat, bevor er ausreisen konnte. Er ist damals regelmäßig …
"… in die Tschechoslowakei gefahren und jedes Mal wenn ich wieder zurückgekommen bin, Herr Hartmann, bitte mal an die rechte Seite rüber, Hände auf den Rücken und klick klick, kommen Sie bitte mit!"
Die Stasi kam offiziell zu Besuch
Aber es ging auch anders: Mathias Gäbel, heute Musiker und Trainer, ging selbst in die Offensive. Er hat einfach allen erzählt, dass die Stasi ihn anwerben wollte. Das hat funktioniert. Aus seiner Akte ist ersichtlich, dass die …
"… schon irgendwie Angst hatten, dass wir den Staatsrat aufräumen und Erich Honecker platt machen, was überhaupt gar nicht in unserem Interesse war."
Die Stasi gab sich keine Mühe, unauffällig im Hintergrund zu bleiben, im Gegenteil. Uwe Waskow hatte sie ganz offiziell zu Besuch.
"Da geht die Tür auf und drei Typen kommen rein. Guckt mich an, sagt, Schönen guten Tag, wir sind vom Ministerium für Staatssicherheit, wir möchten hier mit trainieren. Also ich muss ja sagen, ich hab den angeguckt und gedacht: Was hast du gerade gesagt? Was, du bist von der Stasi? Ich sag: Bitte! Zieht euch um, da ist alles… die waren tatsächlich drei mal da, dann nie wieder."
Die Stasi zeigt Präsenz und macht unmissverständlich klar, dass ihr nichts entgeht. Sie baut eine Drohkulisse auf, und die Angst, die sie erzeugt, ist selbst das Druckmittel. Das funktioniert auch ohne Gesetz und Justiz sehr gut: Noch heute verstecken sich Menschen vor dem damaligen Gegner, und mehr als ein Gesprächspartner warnt, da "zu tief zu graben".
Wie groß war die Macht der Stasi wirklich? Zumindest in den Akten der Karateka ist viel Datenmüll angehäuft, der wenig Informationswert hat. Trotz der 44 Inoffiziellen Mitarbeiter, die auf Dziersk angesetzt sind, ist er mit seiner Samurai-Show ein beliebter Gast im DDR-Fernsehen und macht zwei Dan-Prüfungen in der DDR. Dafür fuhr der damalige Bundestrainer Hideo Ochi nach Ost-Berlin!
Die Karateka kommen in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre aus der Deckung und gehen den Staat an. Sie hinterfragen das ominöse Verbot beim Radio, stellen Anfragen an den DTSB und in Warnemünde soll die "maritime Selbstverteidigung" mit dem Hinweis auf die Piraten der Weltmeere legitimiert werden: denen könne man schließlich nicht nur das Seefahrtsschulbuch entgegenhalten!
Dziersk spricht im Sportministerium vor, und will eine Freigabe des Karate erreichen, oder zumindest das Verbot hinterfragen. Wie erwartet hört er:
"Diesen Mörder- und Totschlägersport wollen wir hier nicht im Sozialismus!"
Karate sei gefährlich, heißt es, und Dziersk führt daraufhin internationale Statistiken an über Verletzungen und Todesfälle beim Boxen und beim Karate. Sein Clou ist jedoch der Angelsport: Laut den Statistiken sterben dabei jährlich an die 1000 Menschen.
"Die sind alle in Ausübung dieses Sports gestorben, warum verbieten Sie diesen Mördersport nicht?"
Aber bis 1987 gilt: Wir wollen es nicht! Wir? Ein Teil der Staatsorgane dann aber doch…
(Ausschnitt aus einem Ausbildungsfilm)
"In vielen Ländern, besonders in den Spezialeinheiten, die üben alle Karate und wir als DDR-Sonderspezialeinheit, wir machen sowas nicht, die DDR war da so n bisschen hinterm Mond."
Andreas Förster war Sportoffizier und Ausbilder bei einer Elite- und Vorzeigeeinheit. Das Fallschirmjägerbatallion 40 wollte Karate nutzen, um aus den Rekruten schneller und effizienter Kämpfer zu machen. Wie das genau gehen könnte, wurde in Diplomarbeiten und einem Ausbildungshandbuch akribisch erarbeitet. Auch hier wird die Fachliteratur gebraucht.
"Dann kam irgendeine Kontrolle vom Kommando, Jahresabschlussüberprüfung nannte sich das, da wurde das ganze Truppenteil auf Leistung überprüft. Der Politoffizier hat meinen Schrank aufgemacht und da findet der Westliteratur! 'Was ist das?!' Ich sag, das ist von meinem Fachvorgesetzten aus dem Kommando. Hat der sich so n Exemplar genommen und alle eingezogen."
Der Fachvorgesetzte wäre in dem Jahr eigentlich befördert worden, aber das blieb dann aus.
War Karate bei dieser Einheit offiziell anerkannt oder nicht?
"Das durfte nicht Karate genannt werden, das wurde richtig militärischer Nahkampf genannt wir haben uns mit den Funktionären gestritten, warum der Name so verfälscht wird, warum das nicht Karate genannt wird. Es hieß immer, kommt aus dem kapitalistischen Ausland und so richtig verbohrte, dumme Theoretiker waren das, da haste keine Chance gehabt."
Karate - ein Wort aus dem gegnerischen Westen
Dirk Zimmermann, ein heutiger Banker, ergänzt:
"Als gerade ein Film gedreht wurde, wurde festgestellt, dass Karate eigentlich kein Wort aus dem Osten ist, sondern aus dem gegnerischen Westen, insofern wurden die Wände überpinselt, da stand dann wieder militärischer Nahkampf dran. An der Wand stand schon am Trainingsraum Karate-Raum, und an den Wänden standen Katas, die man sich irgendwoher kopiert hat, rangezeichnet. Und das wurde zum Teil verhängt für diesen Film, den es bei der NVA dann gab, und an der Tür wurde das Schild Karate abgemacht."
War das Karate-Verbot in der DDR vor allem ein Sprachverbot? Wir machen es zwar, aber es darf nicht so genannt werden? Fast scheint es so: Wer unter dem Radar blieb, hatte wenig zu befürchten, und wer sich weiter aus der Deckung wagte, wurde härter angegangen. Dziersk ist dabei die Ausnahme: er war mit seiner Samurai-Show über die DDR hinaus bekannt und hatte als Quasi-Prominenter wohl mehr Spielraum.
Oder war gerade die massive Bespitzelung, der er ausgesetzt war, ein Grund für diese Freiheiten? Die Stasi glaubte, alles über ihn zu wissen und ihn damit unter Kontrolle zu haben. Aber es gab auch Personen, die der Stasi freiwillig berichtet haben, um ihre Ruhe zu haben.
Peter Wirbeleit hat sich mit der Person getroffen, die der Stasi über ihn berichtet hat:
"Der sagte mir: ihm war klar, dass wenn er Karate will, das ist illegal irgendwie in der DDR, und da hat er mit den Wölfen geheult. Er hat gesagt: 'Ich kooperiere von vornherein, weil: Ich will Karate haben'"
Spitzel haben bewusst kooperiert um des Karate-Trainings willen. Wer hat da wen infiltriert? Und dann wurde der eine oder andere heimlich privat trainierende Sportler ja auch mal Rekrut, z.B. bei Andreas Förster:
"Wir konnten auch ab und zu auf Leute zurückgreifen, die das schon mal im Zivilleben, in Studentengruppen oder irgendwelchen Arbeitsgemeinschaften (gemacht haben). Von solchen Leuten habe ich dann natürlich auch profitiert."
Der Ausbilder einer Eliteeinheit hat von den Zivilisten profitiert, und ebenso die Stasi. Die hatte auch eigene Gruppen, in denen sie nach Dienstschluss extra Karate trainierte. Waren die eigentlich legal?
Für die Zivilisten jedenfalls war es hilfreich, jemanden vom Personenschutz oder einen hochrangigen Polizisten in der Gruppe zu haben. Ralf Masella:
"Auf alle Fälle haben dann auch mal Polizisten bei uns angefangen, Karate zu treiben, unter anderem der Chef des Pass- und Meldewesens hier in Rostock und sicherlich auch durch die heimliche Unterstützung haben wir ziemlich Ruhe gehabt."
Die Karategruppen in der DDR durchmischten sich, und die Organe, die eigentlich für die Durchsetzung der Staatsdoktrin sorgen sollten, waren begeistert mit dabei.
1988 muss ein Umdenken im Staat eingesetzt haben, denn Anfang Februar 1989 heißt es in einem Schreiben von DTSB-Präsident Eichler:
Sprecher: Deshalb wird bereits in den nächsten Wochen ein erforderlicher Beschluss vorbereitet und die personellen und materiellen Erfordernisse zur Förderung von Karate abgesteckt.
Zu der Zeit gab es schon 110 Gruppen mit insgesamt fast 3000 Mitgliedern, die in der DDR Karate trainiert haben. Die hätte man nicht alle ausbürgern können, und weiter in den Untergrund wagte man sie wohl auch nicht zu treiben. Aus den Akten ging ja auch hervor, wie wichtig den Sportlern Karate war. Manche begannen ihr Verhältnis zum Staat aufgrund des Verbots zu hinterfragen.
Jedenfalls hat der Staat eingelenkt – Karate wurde zum Mai des Jahres 1989 zugelassen. Allerdings nicht als eigenständige Sektion (obwohl die Strukturen ja schon vorhanden waren), sondern als Unterabteilung des Judofachverbands.
Das Unbehagen von Teilen der Staatsführung der ehemaligen DDR am Karate blieb. Vielleicht, weil hier zwei gegensätzliche Prinzipien aufeinanderprallten: das eigenständige, selbstverantwortliche Individuum widerspricht dem Prinzip der Masse, dem Kollektivgedanken. Denn wie ein alter Meister sagte: Karate erzieht Persönlichkeiten – das braucht kein Regime!
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