„Ihr könnt mich umbringen“

Folge 5: Verletzte Seelen

05:00 Minuten
Ein Büschel Haare neben einem Rasierer
Haare ab: Jedem Insassen des Jugendwerkhofs wurden die Haare geschoren © Anselm Magnus Hirschhäuser
Von Nathalie Nad-Abonji und Alexander Krützfeldt  · 09.09.2018
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Monatelang haben unsere Reporter eine Gruppe Jugendlicher gesucht, die kurz vor dem Mauerfall aus dem einzigen Geschlossenen Jugendwerkhof der DDR ausbrechen wollten. Sie suchten auch nach Verantwortlichen, ehemaligen Erziehern. Just als sie aufgeben wollen, kommt ihnen der Zufall zur Hilfe.
"Was wussten sie damals?"
"Gar nichts. Ich wusste nur, dass das ein geschlossener Jugendwerkhof ist. Aber ich hatte überhaupt keine Vorstellung, weil das der einzige in der ganzen DDR war."
Ich lerne sie zufällig in einem Hotel kennen, als ich in Torgau bin. Ihren Klarnamen möchte die 70-jährige nicht nennen - also Heike. Knapp 50 Jahre ist es her, dass Heike in der Mädchengruppe des Geschlossenen Jugendwerkhofs arbeitet. Die ehemalige Erzieherin denkt selten an diese zwei Jahre. Nur manchmal, wenn sie ganz alleine ist, kommen widersprüchliche Gefühle hoch.

Widersprüchliche Gefühle

"Diese Einrichtung war bis zu einem gewissen Punkt schon angebracht. Damit sie mal wieder auf die Linie gebracht wurden, damit sie mal wieder wissen, was das Leben eigentlich bedeutet." Andererseits: "Wenn ich daran denke, könnte ich heute noch weinen. Ein bildschönes Mädchen. Da musste ich mit ihr in einen Raum gehen. Sie hatte pechschwarze Haare und die schimmerten so schwarz. Ach, war sie schön. Da kommt der Friseur und … Da bin ich rausgegangen und habe bitterlich geweint."
Allen Jugendlichen – Jungen wie Mädchen - werden bei der Ankunft die Haare geschoren.
"War das nötig oder war das Demütigung?" "Nein, man wollte die Jugendlichen brechen und demütigen. Das ist ja, wo ich in Konflikt gekommen bin."
"Was will ich damit erreichen?" "Eben, damit mache ich es vielleicht nur noch schlimmer."
Ein trister grauer Hof hinter einer vier Meter hohen Mauer
Hinter Mauern: der Hofbereich des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau© Archiv DIZ Torgau
Heike wirkt gutmütig. Ich spreche sie auf den sogenannten Fuchsbau an, ein Kellerloch, in das Marko, unser wichtigster Zeuge, damals eingesperrt wird. Dieser Fuchsbau lässt mich nicht mehr los, seit ich ihn von außen gesehen habe - reingetraut habe ich mich nicht.

Den Fuchsbau kennt Heike nicht - oder verdrängt ihn

"Also den Fuchsbau kenne ich überhaupt nicht. Habe ich nie gesehen." "Haben Sie später davon gehört?"
"Wissen Sie, ich habe dieses Kapitel Jugendwerkhof aus meinem Gedächtnis … Ich wollte nicht mehr an diese Zeit erinnert werden. Ich kann auch nicht da unten reingehen. Ich kann es nicht. Sie könnten mir Tausend Euro hinlegen. Ich kann es nicht."
Damit meint sie das Kellergewölbe, in dem die Dunkelzellen und der Fuchsbau liegen.
Als wir ein paar Tage später Marko nochmal besuchen, erzählen wir ihm von Heike – er ist ihr nie begegnet.
"Die Mitarbeiter der Jugendämter oder die Erzieher von damals, sie tragen für mich die Hauptschuld."
"Denkst du, es ist möglich, dass beide Seiten sich verzeihen können?" "Nein! Dafür ist das Leid zu schlimm."

Marko sucht die Täter von damals

Wie Heike, möchte auch Marko die Zeit im Geschlossenen Jugendwerkhof vergessen. Doch sein Körper und sein Geist erlauben das nicht. Nächtelang sucht er im Internet nach ehemaligen Erziehern und Mitarbeitern der Jugendhilfe. Recherchiert ihre jetzigen Arbeitgeber und überlegt die Täter von damals bei ihnen anzuschwärzen. Nachts schickt er mir neue Namen und Hinweise, denen ich nachgehen soll. Wenn er dann schläft, quälen ihn Alpträume.
"Meine Hausärztin hat gesagt, das wäre normal. Dann kommen die Geister der Vergangenheit und reißen einen runter."
"Was hat sie dir geraten?" "Sie hat mir geraten, was ich nicht mache, ich soll zu so einem Seelenklempner gehen."
Aktenordner und Stifte
Neun Monate lang haben unsere Reporter recherchiert © Anselm Magnus Hirschhäuser
Immerhin ist er in der Lage zu arbeiten und seinen Alltag zu bewältigen - im Gegensatz zu vielen anderen ehemaligen Insassen von Torgau. Vermutlich auch Paul, der damals sterben will, um den anderen zur Flucht zu verhelfen. Alle Versuche, Paul zu kontaktieren laufen ins Leere. Doch plötzlich meldet sich jemand bei meinem Kollegen Alex.

Paul geht es schlecht

"Ist auch ein nahestehender Freund, so viele scheint er nicht mehr davon zu haben. Es gab Andeutungen, dass er isoliert und zurückgezogen lebt. Nur mit seiner Familie und dem engsten Freundeskreis. Dass er beruflich in einer Maßnahme arbeitet. Und dann habe ich gesagt, wir würden gerne mit ihm sprechen. Und dann kam nichts mehr."
Wochen später lässt Paul ausrichten, dass er nicht mit uns sprechen möchte. Es geht ihm schlecht, sagt sein Freund. Seine Akten hat er bisher nicht eingesehen. Dabei hätte er gute Aussichten auf Rehabilitierung. Die Opferrente könnte er wahrscheinlich gut gebrauchen. Aber Paul fehlt wie viele andere ehemaligen Insassen Torgaus vermutlich die Kraft, sich der Vergangenheit zu stellen.
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