DDR-Jugendwerkhof Torgau

Schleppende Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch

06:33 Minuten
Gruppenbereich mit Einzelarrestzellen
Blick in den Zellengang des Jugendwerkhofs Torgau. © Archiv DIZ Torgau
Von Alexandra Gerlach · 12.09.2018
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Jugendliche wurden in Torgau auch sexuell missbraucht. Während die Aufarbeitung von Missbrauch in vorrangig westdeutschen Heimen seit 2010 mit durch einen runden Tisch erfolgt, erfahren ostdeutsche Betroffene erst seit 2016 solche Hilfe.
"Ja, hier war damals das Schleusentor gewesen, hier sind die Jugendlichen eingefahren, und die Jugendlichen dürften erst aussteigen, als das Schleusentor geschlossen war."
Torgau vor wenigen Tagen. Die 10. Klasse einer Torgauer Oberschule ist mit einem Projekttag zu Gast in der Gedenkstätte des ehemaligen ´Geschlossenen Jugendwerkhofes` Torgau.
In einem Kurzvortrag schildert Pädagogin Manuela Rummel, von der Gedenkstättenleitung, wie es bis 1989 hinter den hohen Mauern und den vergitterten Fenstern zuging. Dass die Jugendlichen, im Alter zwischen 14 und 17 Jahren, die hier eingewiesen wurden, von Anfang an rechtlos und der Willkür schutzlos ausgeliefert waren:
"Und Ihr seht hier das Zitat des langjährigen Direktors der Einrichtung, der diese Einweisungsprozedur beschrieben hat: `In der Regel benötigen wir 3 Tage, um die Jugendlichen auf unsere Forderungen einzustellen.`"

Isolation, Repression und immer wieder Arrest

Mittel zum Zweck waren körperliche Gewalt, Isolation, Repression und immer wieder Arrest, in Dunkelzellen im Keller, die bis heute erhalten sind. Erst seit wenigen Jahren ist bekannt, dass auch sexueller Missbrauch in Torgau zum Alltag gehörte.
Corinna Thalheim war eine der Ersten, die das Schweigen brach:
"Das sind meine schlimmsten Erinnerungen, meine schlimmsten Erfahrungen. Ich war Willkür und Gewalt ausgesetzt. Das Allerschlimmste war für mich, dass ich dann noch dem sexuellen Missbrauch durch den Direktor dieser Einrichtung erleben musste. Wenn dies der Versuch war, uns zu sozialistischen Menschen zu erziehen, was als Ziel oben drüber stand, (stockt...) Entschuldigung... dann war das Erziehungsprogramm pädagogisch nicht wertvoll. Das, was wir bekommen haben, ist lebenslänglich, Heimerziehung, lebenslänglich sexueller Missbrauch!"
Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen in der DDR gehört zu den weißen Flecken in der Wahrnehmung der DDR-Geschichte. Nur zögerlich kommt das wahre Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in DDR-Kinderheimen, Spezialheimen und Jugendwerkhöfen ans Licht. Das Thema sexueller Kindesmissbrauch in der DDR blieb lange unsichtbar, erklärt Marianne Birthler, die ehemalige Beauftragte für die Stasi-Unterlagen:
"Es gab den Mythos der sozialistischen Menschengemeinschaft in der DDR und da passte so etwas nicht rein. Dass das Alltag war in vielen Familien, erst recht in den Heimen, das war nicht bekannt und das sollte auch nicht bekannt werden."

Eine umfassende Aufarbeitung findet erst seit 2016 statt

Das Thema, das es offiziell in der DDR nicht gab, wurde nicht aufgearbeitet. Das hat sich erst seit 2010 geändert, seit der Bundestag sich für die Einsetzung eines runden Tisches für Heimkinder stark machte, doch hier ging es vorrangig um westdeutsche Heimkinder. Das Schicksal ostdeutscher Heimkinder, die zudem sexuellen Missbrauch erlebt haben, wird erst seit 2016 umfassend aufgearbeitet – also seit zwei Jahren erst. Über ihr Schicksal zu sprechen, falle vielen Betroffenen schwer, sagt Corinna Thalheim. Sie ist Mitbegründerin der Betroffenheits-Initiative "Missbrauch in DDR-Heimen e.V."
"Es gibt viele Betroffene, die sagen, wir wollen damit einfach nichts mehr zu tun haben. Und dann muss man davon ausgehen, es gibt bestimmt auch Betroffene, die ihr Leben auch in den Griff bekommen haben, danach, und halt heute in der Gesellschaft irgendwo auch im Berufsleben anders dastehen, und die Angst haben, dort noch einmal das Stigma zu erleben."


Mädchen und Jungen, die in die gefürchteten so genannten "Jugendwerkhöfe" eingewiesen wurden, waren von Anfang an stigmatisiert. Manche bis heute, wie Corinna Thalheim aus eigener Erfahrung berichtet:
"In meinem Heimatort war ich ´die aus dem Knast`. Und keiner wusste, was es für mich bedeutet hat, diese schrecklichen Dinge erleben zu müssen. Die Aufklärung in der DDR unter der Bevölkerung war miserabel, weil niemand wusste, was in Jugendwerkhöfen passiert und niemand konnte sich vorstellen, welche Gewalt dahinter lag."

Ausmaß des Missbrauchs ist immer noch unklar

Die unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in der DDR hat im Mai 2016 ihre Arbeit aufgenommen. Bis Ende 2017 hatten sich über 1000 Betroffene für Anhörungen angemeldet. Mehrere Hundert von ihnen wurden vertraulich angehört, dennoch ist immer noch unklar, wie groß das Ausmaß des Missbrauchs in der DDR tatsächlich war, konstatiert Kommissionsmitglied Christine Bergmann:
"Ich glaube hier ist noch sehr viel mehr Forschung nötig. Die Akten sind längst nicht ausgewertet, auch Torgau zum Beispiel. Was da aufgearbeitet ist, haben die Betroffenen selbst gemacht, soweit sie das mit ihren bescheidenen Kräften könnten. Also hier ist viel nötig an Aufarbeitung, weil dies nötig ist für Aufklärung und Prävention."
Problematisch hinsichtlich der Aktenlage erweist sich Bergmann zufolge, dass die Erkenntnisse in erster Linie aus Stasi-Akten stammen und zumeist die Täter-Perspektive einnehmen. Andere Quellen sind kaum verfügbar, abgesehen von den Aussagen der Opfer. Die Aufklärung jedoch sei essentiell sagte die Sozialdemokratin, denn:
"Für die Opfer heute bedeutet das, dass sie immer noch nicht die Anerkennung finden, die sie eigentlich brauchen, auch in der Gesellschaft nicht. Und es bedeutet, dass sie immer noch nicht wirklich gut reden können, manche sind sehr mutig und machen das. Andere rechnen damit – und nicht zu Unrecht, dass sie diskriminiert, ausgegrenzt werden, so ´die war im Jugendwerkhof, die wird schon was gemacht haben` das ist immer noch sehr in den Köpfen verankert."
Nach dem SED-Unrechtsbereinigungsgesetz haben Opfer der DDR-Heimerziehung nur noch bis Ende 2019 die Möglichkeit, Ihre Ansprüche auf Rehabilitation und Entschädigung anzumelden. Viele Betroffene werden das nicht nutzen. Corinna Thalheim erklärt warum:
"Man will sich dann auch nicht mehr damit auseinandersetzen, und ich denke, man will auch einfach nicht mehr darüber reden. Man muss ja das ganze Szenario noch einmal durchleben! Natürlich, die Rachegefühle sind da. Man muss irgendwie lernen, damit umzugehen."
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