„Ihr könnt mich umbringen“

Folge 3: Das Urteil

05:51 Minuten
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© Anselm Magnus Hirschhäuser
Von Nathalie Nad-Abonji und Alexander Krützfeldt  · 09.09.2018
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Die vier Jugendlichen, die für die Flucht aus dem schlimmsten DDR-Erziehungsheim einen Toten in Kauf genommen hätten, sitzen im Sommer 1989 in Untersuchungshaft. Angeklagt wegen versuchten Mordes hoffen sie auf die Hilfe von Anwälten.
"Ich glaube, ich hatte die Sache für mich selbst noch nicht aufgearbeitet. Das war auch einer der Gründe, weswegen ich sofort bereit war mit Ihnen über die Sache zu sprechen. Ich müsste damals 31 gewesen sein – aber so wirklich erwachsen war ich nicht."
André Höhne sitzt in seiner Rechtsanwaltskanzlei in Bitterfeld. Er ist mittlerweile 60 Jahre alt, erinnert sich aber noch genau an seine erste Begegnung mit Marko im Gefängnis 1989 – kurz bevor die Mauer fällt, und die DDR in ihren letzten Zügen liegt.

Gefangen im Unrechtsstaat

"Zwischen introvertiert und verängstigt war der erste Eindruck. Dann haben wir über die Sache gesprochen und er hat mir erzählt, wie die Zustände in Torgau sind. Irgendwie ist mir das damals ganz schön an die Nieren gegangen."
Marko ist damals 16 Jahre alt. Auf seinen Anwalt wirkt er eher wie ein 12-jähriger. Er beschreibt ihn als emotional und geistig zurückgeblieben. Der Junge erzählt ihm von Drill und extremem Sport im brutalsten Erziehungsheim der DDR: wer zusammenbricht, muss von den Anderen an den Füssen festgehalten und mitgeschliffen werden - bis das Soll an Laufrunden um den Hof erfüllt ist. Er zeigt Höhne die Narben auf seinem Rücken.
Wippen, Hürden und eine Kletterwand im Hofbereich des Jugendwerkhofs
Drill bis zum Umfallen: die Sturmbahn des Jugendwerkhofs © Archiv DIZ Torgau
"Spielte denn in diesem Verfahren die Lebensumstände in Torgau eine Rolle?" "Jein: das war natürlich auch für mich ein ganz schwieriger Bereich. Ich konnte natürlich als Rechtsanwalt in der DDR nicht aufstehen und sagen: die Zustände im Jugendwerkhof sind menschenunwürdig. Ich wäre sicherlich unmittelbar danach selbst in Untersuchungshaft genommen worden."
In den letzten Tagen der DDR, vor der Gerichtsverhandlung, ordnen die Richter eine Tatortrekonstruktion an. Die Jugendlichen müssen noch einmal zurück an den Ort des Geschehens, in den Schlafraum des Jugendwerkhofs.

Atmosphäre des Bösen

"Zwischen den Doppelstockbetten hat man vielleicht 1,50 Meter Raum gehabt, so dass man stehen konnte. Damit war der Raum der Länge nach gefüllt. Dann war ein Gang der anderthalb bis zwei Meter war, und das ist es gewesen. In der Ecke ein Toiletteneimer. Ein Fenster war meiner Meinung nach nicht drin, sondern ein Lichtschacht relativ weit oben. Das war ausgesprochen beklemmend. So eine Atmosphäre des Bösen."
Was der Anwalt dann erzählt, können wir kaum glauben: Paul soll sich tatsächlich wieder hinknien und Marko soll versuchen ihn mit einem Bettlaken zu erdrosseln! So wie damals in der Nacht, als Paul bereit ist, zu sterben, um den Anderen zur Flucht zu verhelfen.
Zeichnung vom Stockbett, daneben ein Toiletteneimer
Stockbett, Lichtschacht, Toiletteneimer: der Schlafraum im Jugendwerkhof© Anselm Magnus Hirschhäuser
"Der Geschädigte war da unbefangener und lockerer. Die Jungs waren schon sehr, sehr deprimiert und mitgenommen von dem, was sie selber getan hatten. Für die hatte es schon ein bisschen was mit Überlebenskampf zu tun. Das ist sicherlich keine Entschuldigung, erst recht keine juristische, für das, was sie dann gemacht haben. Aber es macht es zumindest verständlich und erklärlich."
André Höhnes Versuch einer Erklärung, 30 Jahre später. Und: Er sagt "Überlebenskampf". Das Wort fällt auch in unseren Gesprächen mit Marko immer wieder. Im Gegensatz zu Paul will Marko leben und er will nur eines: raus.

Schuldspruch - doch dann fällt die Mauer

Für die Leipziger Richter ist damals der Fall klar: Kurz vor dem Ende der DDR sprechen sie die vier Jugendlichen des versuchten Mordes schuldig. Marko wird zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Er ist verzweifelt. Sein Anwalt geht in Revision, dann fällt die Mauer.
In diesen wirren Monaten, in denen zwei Rechtssysteme aufeinandertreffen, prüft der Bundesgerichtshof in Karlsruhe jeden einzelnen noch offenen Fall. Das rettet Marko und die anderen Jugendlichen: Denn der BGH gibt der Revision statt und weist das Leipziger Gericht an, den Fall neu zu verhandeln.
Paul – das Opfer – sitzt im Saal und entlastet die Angeklagten.
"Er wollte sowieso lieber tot sein, als weiter so zu leben. Aber da hat sich für ihn, denke ich, noch eine Chance gegeben, dass sein Tod einen Sinn hat. Dass er sich nicht sinnlos opfert, sondern, dass er da noch was Gutes bewirkt. Das hat er auch versucht rüberzubringen."
Am 22. Oktober 1992 wird das Verfahren wegen geringer Schuld eingestellt. Die Jugendlichen sind frei. Am Tag der Urteilsverkündung sehen sie einander zum letzten Mal. Von Paul gibt es seither keine Spur. Wir suchen trotzdem weiter. Sein Facebook Account ist tot.
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