Idee von der Rückkehr zu osmanischer Größe

Von Rolf Hosfeld |
Man reibt sich in Ankara und am Bosporus die Augen und stellt fest: Man ist wieder wer. Zum ersten Mal, seit die Osmanen ihre einstige Größe verspielten. Der Boom lässt ähnliche Träume ins Kraut schießen wie der Besuch des Japaners Jama-Oka vor mehr als hundert Jahren.
Jama-Oka traf im März 1910, aus Mekka kommend, in Istanbul ein. Er war ein japanischer Offizier und hatte am russisch-japanischen Krieg teilgenommen, der mit einer vernichtenden Niederlage der Russen zu Ende ging. Jama-Oka nannte sich jetzt El Hadj Omar, denn er war zum Islam übergetreten. Das war eine Sensation, doch das Japanfieber keineswegs eine allein durch diese exotische Figur ausgelöste Modewelle.

Japan hatte 1905 bewiesen, dass man Europäer besiegen konnte und damals die gültige Welthierarchie in Zweifel gestellt. Die Japaner waren ein Kriegervolk. Das waren die Türken auch. Sie könnten, dachten viele, eines Tages die Japaner des Orients werden.

Lange her? Man weiß, wenig später erlebte das Osmanische Reich in den Balkankriegen den Verlust fast aller seiner europäischen Territorien. Der Erste Weltkrieg endete mit einem vollständigen Zerfall des Imperiums. Der Traum schien ausgespielt.

Doch Visionen haben oft eine lange Überlebensdauer. Heute ist die Türkei tatsächlich auf dem besten Weg, ein neues Japan des Orients zu werden. Nirgends sind im europäischen Grenzbereich solche dynamischen Wachstumsraten zu verzeichnen wie zwischen Istanbul und Adana. Sechs Prozent im Durchschnitt in den letzten Jahren.

Das ist eine Erfolgsbilanz der islamisch-konservativen Regierung Ragip Tayip Erdogan zu Beginn ihrer dritten Amtszeit, die sich sehen lassen kann.

Doch wird das die Türkei Europa näher bringen? Zu Beginn seiner politischen Erfolgsstory setzte Erdogan, der anatolische Fischersohn und ehemalige Fußballprofi, in seinem Kampf gegen das alte kemalistische Establishment und die beherrschende Macht der Generäle sehr stark auf Europa. Seine Reformen haben viele Verkrustungen im überkommenen Machtgefüge eines stets zu gewaltsamen Lösungen neigenden militanten Nationalstaats beseitigt, und die Europäer applaudierten ihm.

Im letzten Wahlkampf jedoch spielte die europäische Option kaum noch eine Rolle. In den Augen einiger AKP-Politiker scheint die Vorstellung, künftig nur einer unter vielen europäischen Spielern im Klub der Union zu sein, deutlich an Attraktivität verloren zu haben.

Man reibt sich in Ankara und am Bosporus die Augen und stellt fest: Man ist wieder wer. Zum ersten Mal, seit die Osmanen ihre einstige Größe verspielten.

Der Boom lässt ähnliche Träume ins Kraut schießen wie der Besuch von Jama-Oka vor mehr als hundert Jahren. Dem Balkan, dem Kaukasus und dem Nahen Osten sei es unter der Herrschaft der Osmanen weit besser gegangen als heute, meinte Außenminister Ahmet Davutoglu schon letztes Jahr in Sarajevo.

Davutoglu, den viele für den eigentlichen Ideologen in Erdogans Umkreis halten, wird nicht müde, die aufsteigende sanfte Macht Türkei und ihre muslimischen Werte zu preisen. Vorbei nämlich das eurozentrische, vorbei auch das atlantische Zeitalter.

In der nachatlantischen Welt sieht Davutoglu die Türkei als jene Macht, die in Zukunft "die Verhältnisse in der Region formt". Wie einst die Osmanen, nur eben "sanft".

Fragt sich nur, ob das gelingt und ob diese Art von Hegemonieanspruch seitens der Nachbarn gewünscht ist. Unter Arabern sind die Erinnerungen an das Haus Osman jedenfalls keineswegs nur gute. Auch nicht im sogenannten arabischen Frühling, an dem sich die Regierung Erdogan bisher eher als Statist denn als "Former" beteiligt sah.

Nichts ist gelöst in der Region. Nicht das für die europäische Option zentrale Zypernproblem, nicht das Verhältnis zum Nachbarn Armenien. Die Beziehungen zu Israel befinden sich ohnehin auf dem Tiefpunkt. Das despotische Regime in Syrien dagegen galt bis vor kurzem als Erdogans guter Freund.

Und das Verhältnis zu den christlichen Minoritäten, den Aleviten und Kurden im Inneren? Kleine Schritte, aber im Ganzen schweigt das Pathos. Weder osmanische Kohabitation noch europäische Gleichberechtigung. Die Rechnung könnte nicht aufgehen, und das wäre für Erdogan der Anfang einer Art Götterdämmerung.

Rolf Hosfeld, Publizist, Autor, Lektor und Filmemacher, geboren 1948 in Berleburg (NRW), studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften. Hosfeld lebt als freier Autor und Filmemacher auf dem Land bei Potsdam. Jüngste Buchveröffentlichungen: "Was war die DDR? Geschichte eines anderen Deutschlands" und "Die Geister, die er rief. Eine neue Karl-Marx-Biografie".
Mehr zum Thema