"Ich war der Fremde"

Von Helmut Braun · 11.12.2010
Das Leben Edgar Hilsenraths verlief gewöhnlich. Zumindest für einen deutschen Juden, der 1926 geboren wurde. Schon der Schuljunge erlebt Ausgrenzung, Schikanen, Verfolgung, muss um Leib und Leben fürchten. 1938 flüchtet er mit Mutter und Bruder in die rumänische Bukowina. Von dort werden sie im Oktober 1941 in das Ghetto Mogilev-Podolski in der Ukraine deportiert. Seither ist Hilsenraths Leben ungewöhnlich. Er überlebt Hunger, Kälte und Seuchen.
Nach der Befreiung flieht der junge Mann nach Palästina, das er vier Jahre lang als unwirtliches gelobtes Land erlebt. Exil in Frankreich und schließlich die Emigration nach New York bringen ihn von Fremde zu Fremde. Er will Schriftsteller sein. Der Ghettoroman "Nacht", der satirische Roman über die Täter "Der Nazi & der Friseur" entstehen. Der Autor kehrt zurück in seine geliebte Muttersprache, lässt sich in Berlin nieder. Spät hat Edgar Hilsenrath Erfolg; seine Bücher erreichen hohe Auflagen, ernten Lob von der Kritik, den Lesern, der Wissenschaft. Das Fazit des alten Mannes: "Ich war der Ausgegrenzte, der Flüchtling, der Deportierte, der Emigrant, ich war immer der Fremde."


Homepage von Edgar Hilsenrath

Verein Freundeskreis Edgar Hilsenrath e. V.

Edgar Hilsenrath bei Wikipedia

Auszug aus dem Manuskript:
Auf die Frage nach seiner Heimat hat Edgar Hilsenrath notiert:

" Meine stärkste Bindung besteht zu diesem kleinen Städtchen in der Bukowina, in dem meine Großeltern gelebt haben. Es hieß früher unter österreichischer Herrschaft Sereth, die Rumänen tauften es um, es heißt heute Siret und liegt seit dem Zerfall der Sowjetunion an der ukrainischen Grenze. Man sprach deutsch und jiddisch in Siret. Siret war meine zweite Heimat. Seit meinem dritten Lebensjahr war ich dort auf Sommerfrische. Als ich zwölf Jahre alt war, wanderten wir dorthin aus und blieben bis zur Deportation. Siret war und ist meine Lieblingsstadt. Das lässt sich besser nicht erklären. Dort lebten Juden, Zigeuner, Ukrainer, Rumänen, Ungarn und Deutsche friedlich zusammen. Ein warmherziger Vielvölkerstaat. Hier in der Bukowina Ort fühlte ich mich zum ersten Mal frei von den Bedrohungen der Nazis. Dass nirgendwo Hakenkreuzfahnen wehten, dass ich keine SA- und SS-Leute sah, keine Litfaßsäulen mit antisemitischen Hetzplakaten, empfand ich als beglückend. Die zynischen Reden der Nazi-Lehrer in meiner Schule waren schnell vergessen, auch die tagtäglichen Hänseleien der kleinen Hitlerjungen in meiner Klasse. "

Der Großvater nimmt seine Tochter und ihre beiden Söhne in seinen
Haushalt auf. Die Jungen werden von einem Privatlehrer in deutscher Sprache unterrichtet. Edgar Hilsenrath bereitet sich mit dessen Hilfe sogar auf die Ablegung der externen Matura vor. Das Leben im jüdischen Schtetl, auf dem Lande, inmitten vieler anderer Kinder und Jugendlichen erscheint den Flüchtlingen paradiesisch. Sie leben in einer harmonischen Familie, gewinnen Freunde, leben als Juden unter Juden. Wir waren bei unseren Leuten, so sagt es Hilsenrath.

Er spielt Fußball im örtlichen Maccabie-Verein, wird Leiter einer zionistischen Jugendgruppe, betätigt sich als Schwimmlehrer für gleichaltrige Mädchen, ist wohlgelittener Freund. Bewunderung findet sein gutes Deutsch. Das Deutsch der Sprachinsel Bukowina unterscheidet sich mittlerweile sehr vom Hochdeutschen, welches in der Schule in Halle an der Saale gelehrt wurde und das leichte Sächseln in Hilsenraths Sprache war in Sereth ohne Bedeutung. Diese Situation weckt in dem Jungen großes Interesse an seiner Muttersprache, die er nun nicht mehr als selbstverständlich mitgegeben begreift. Er liest, er lernt und schließlich verliebt er sich in die deutsche Sprache. Und dieser Liebe bleibt er sein Leben lang treu.

Jäh endet nur drei Jahre später die Idylle.


Schuldig, weil ich überlebte - Der jüdische Autor Edgar Hilsenrath über seine Jahre im Ghetto, den Beruf des Schriftstellers und seinen neu- aufgelegten Roman über das Massaker an den Armeniern.
Nachlesen

Alexander von Bormann, 1989 in der Neuen Zürcher Zeitung: "Edgar Hilsenrath gehört zu unseren unberechenbarsten Autoren. Aber welch ein Schicksal hat er auch hinter sich. Und wie großartig, wenn es gelingt, seinen Lebensstoff, gerade wenn auch viel Leiden und Erleiden dazu gehört, produktiv zu machen. Hilsenrath leistet das, indem er die krudesten Ton- und Stilmischungen sich zutraut und uns zumutet: Märchen, Satire, Bericht, Idylle, Schelmenroman, Pornographie, Parodie, Legende, Roman.

Edgar-Hilsenrath-Archiv in der Akademie der Künste: Der Schriftsteller Edgar Hilsenrath schenkt sein literarisches Archiv der Akademie der Künste. Es umfasst Briefe und Werkmanuskripte, darunter zwölf handschriftliche Ringbücher mit der Urschrift seines ersten Romans "Nacht", eine Reihe unveröffentlichter Texte aus den Jahren 1948 bis 1951 sowie tagebuchartige Aufzeichnungen, die in der Zeit, die er im Ghetto verbringen mußte, entstanden sind.
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"Es ist vollbracht: die zehnbändige Werkausgabe von Edgar Hilsenrath liegt vor. Ein Anlass für den Schriftsteller, mit seinem Verleger Volker Dittrich im Polittbüro vorbei zu schauen - auch um aus seinem Leben recht nüchtern zu berichten: 1926 in Halle an der Saale in gutbürgerlichen Verhältnissen geboren, 1933 nach Rumänien geflohen, dort später in ein Getto verschleppt: Von 30 000 Insassen überlebten 5 000. Er zog weiter nach Palästina, ging nach Frankreich; er wechselte in die USA, vermisste die deutsche Sprache; er kehrte nach Deutschland zurück, getrieben von dem einen Wunsch: Ich möchte über das, was ich erlebt habe, schreiben; und zwar auf meine Art."
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Edgar Hilsenrath
Der Nazi & der Friseur
Roman.
Nachw. v. Helmut Braun.
2010 DTV
"Ich bin Max Schulz, unehelicher, wenn auch rein arischer Sohn der Minna Schulz ..." So beginnt Edgar Hilsenraths berühmter Roman über den SS-Mann und Massenmörder, der in die Rolle seines Opfers Itzig Finkelstein schlüpft und ein angesehener Bürger und Friseursalonbesitzer in Tel Aviv wird. Schwärzester Slapstick, unterhaltsam, poetisch, deftig in der Sprache und spannend wie ein Krimi.

Edgar Hilsenrath
Nacht
Roman.
Hrsg. u. m. e. Nachw. v. Helmut Braun.
2009 DTV
Der Mensch wird dem Menschen zum Wolf, wenn man ihn bedroht. Hilsenrath schildert den Überlebenskampf zweier junger Männer in einem rumänischen Ghetto. Seine Sprache, präzise und bildhaft, bleibt selbst da noch lakonisch, wo die Grenze des Beschreibbaren überschritten wird. Der Schmerz und das Grauen werden dadurch umso spürbarer.


Edgar Hilsenrath bei DTV


Edgar Hilsenrath
Sie trommelten mit den Fäusten den Takt
Dittrich Verlag, Berlin 2008.
Die hier gesammelten Texte zeigen Edgar Hilsenrath als meisterhaften Erzähler und Satiriker von hohem Rang. Ob er gemächlich in seinen Geschichten die Bukowina durchwandert oder als bissiger Satiriker Erlebnisse in der Bundesrepublik aufspießt, immer versteht er es, sein Lesepublikum zu fesseln und zu unterhalten.
Erst als gereifter und erfolgreicher Romanschriftsteller wandte sich Edgar Hilsenrath ab 1976 auch dem Schreiben von Erzählungen und Satiren zu.Es bedurfte dazu jeweils des Anlasses und des Auftrags. Ein solcher Anlass war eine Lesung, die durch den Schlägertrupp einer rechtsradikalen Organisation nachhaltig gestört wurde. Als ihn daraufhin ein Magazin und zwei Zeitungen baten, darüber zu berichten, schrieb er drei brillante Satiren, die weit mehr Aufmerksamkeit erregten, als es jeder journalistische Bericht gekonnt hätte. Und als er nach einer Reise in sein "Paradies" nach Siret in der Bukowina vom SFB gebeten wurde, darüber zu berichten, entstand die Erzählung "Das verschwundene Schtetl". Bei Hilsenrath genügt der kurze Dialog zwischen einem Kind und einem alten Juden, um uns nach Absurdistan zu versetzen, wo man sechs Millionen tote Juden aufwiegt mit 1000 Kilometer gebauten Autobahnen.
In der bewegenden Erzählung "Das Gesicht des Fremden trägt meine Züge" erinnert sich der Protagonist an seine Jugend in Halle, die Flucht und das Ghetto, führt ein Zwiegespräch mit dem Fremden in ihm. Erzählt ihm die Geschichte von damals. Und der Fremde antwortet, als gehöre er nicht mehr zu ihm. Aber abschütteln kann er ihn nicht.
Und in der Erzählung "Ich bin von Natur aus ein Einzelgänger" erfahren wir von Hilsenraths Spagat des Atheisten, der gleichzeitig im Judentum verwurzelt ist und dieses zum Lebensthema seiner Literatur macht.

Edgar Hilsenrath
Zibulsky oder Antenne im Bauch
Dittrich Verlag, Berlin 2006.
Und DTV 2010
Zibulsky oder Antenne im Bauch" spielt in unserer Gegenwart es ist eine verblüffende und witzige Auseinandersetzung mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik und in Berlin. In realistischen Dialogszenen, die sich zu einer Groteske zusammenfügen, spiegelt sich eine absurde Realität. Da geht es um Adolf Hitler und die Berliner Mauer, um die Einsamkeit in Städten, um alte Nazis und die jüngere Generation auf der Suche nach einer neuen Identität, um die Gefahr des "Zukunftsterrorismus", um Gastarbeiter und Kriegerwitwen.Hilsenrath reduziert die Sprache auf ihren banalsten Ausdruck und ist doch präzise und hintergründig. Die unbewältigte deutsche Vergangenheit holt seine Figuren immer wieder ein.


Helmut Braun
Ich bin nicht Ranek
Annäherung an Edgar Hilsenrath. 288 S. m. Abb. 21 cm 421g , in deutscher Sprache.
2006 Dittrich, Berlin
ISBN 3-937717-09-9
ISBN 978-3-937717-09-8 | KNV-Titelnr.: 12807212
Mit diesem Buch legt Helmut Braun eine erste Annäherung an den Autor Edgar Hilsenrath vor. Helmut Braun und Edgar Hilsenrath sind "Weggefährten" seit 28 Jahren. 1977 schaffte der kleine "Literarische Verlag Braun" es, den bereits im Ausland renommierten Schriftsteller Edgar Hilsenrath mit seinem Roman "Der Nazi&der Friseur" auch in Deutschland bekannt zu machen. Seit zwei Jahren ist Braun der Herausgeber der "Edgar Hilsenrath Werkausgabe in 10 Bänden".Viele Lesungen, Vorträge und Symposien wurden von beiden gemeinsam bestritten. Viele Gespräche wurden geführt, in denen Edgar Hilsenrath Auskunft über sein Leben gab. Der umfangreiche und für Literaturwissenschaftler hochinteressante Vorlass von Edgar Hilsenrath wurde von Helmut Braun gesichtet und 2004 der Akademie der Künste in Berlin übergeben. Helmut Braun erzählt in diesem Buch von Edgar Hilsenraths Leben, schreibt über die Entstehungsgeschichte seiner Romane und Erzählungen, berichtet detailliert über die Vorbehalte und Widerstände, mit denen der Autor zu kämpfen hatte, damit sein Werk auch in Deutschland eine Öffentlichkeit finden konnte. Und Helmut Braun schildert auch, wie seine eigene Geschichte mit der von Hilsenrath verknüpft ist.Dieses Buch und das "Edgar Hilsenrath Archiv" in der Akademie der Künste sind eine Fundgrube für zukünftige Biografen des großen Erzählers Edgar Hilsenrath.


Verliebt in die deutsche Sprache
Die Odyssee des Edgar Hilsenrath.
Begleitbuch zur Ausstellung in der Akademie der Künste, Berlin 2006.
Hrsg. v. Helmut Braun .
2005 Dittrich, Berlin
Die Wanderausstellung und das Begleitbuch zur Ausstellung würdigen einen großen Schriftsteller, der den Katastrophen des letzten Jahrhunderts literarische Gestalt gegeben hat. Beiträge von Jens Birkmeyer, Helmut Braun, Martin A. Hainz, Bettina Hey'l, Hans Otto Horch, Christina Möller und Klaus Werner zum Werk des Autors und eine sehr umfangreiche Bibliographie machen dieses Buch zusätzlich zu einem wichtigen Nachschlagewerk.

Aus dem ca. 50 000 Blatt umfassenden Edgar -Hilsenrath-Archiv in der Akademie der Künste Berlin wurden für eine Wanderausstellung etwa 220 Exponate ausgewählt: Manuskripte, Briefe, Fotos und Rezensionen. Darunter sind viele bisher unbekannte und unveröffentlichte Materialien, zum Beispiel frühe autobiografische Aufzeichnungen aus dem Ghetto, in Palästina 1945 geschriebene Texte, die schon thematische Bezüge zu seinem ersten, umstrittenen Roman "Nacht" (1964) aufweisen, eine Fassung des wohl berühmtesten Hilsenrath-Buches "Der Nazi&der Friseur" in Briefform. Der bisher unveröffentlichte Prolog ist in diesem Buch zu finden. Der Band enthält zahlreiche Fotos von Familienbildern aus der Bukowina über Aufnahmen aus Palästina und Frankreich, Schnappschnüsse von der Überfahrt nach Amerika auf demselben Schiff wie Rita Hayworth. Ein Brief an Max Brod, und dessen überraschende Antwort, und ein bewegender Brief an den Vater in Lyon, alle aus dem Jahr 1945. Dokumente zur Verlagspolitik und ein Brief von Nina Raven-Kindler an den Autor von "Nacht", in dem sie den Rückzug des Verlages rechtfertigt.DieWanderausstellung und das Begleitbuch zur Ausstellung würdigen einen großen Schriftsteller, der den Katastrophen des letzten Jahrhunderts literarische Gestalt gegeben hat.

Heute lebt er in Berlin. 1989 erhielt Edgar Hilsenrath den Alfred-Döblin-Preis, 1992 den Heinz-Galinski-Preis, 1994 den Hans-Erich-Nossack-Preis, 1996 den Jacob-Wassermann-Preis, 1999 den Hans-Sahl-Preis und 2004 den Lion-Feuchtwanger-Preis. 2006 wurde Edgar Hilsenrath der Armenische Nationalpreis für Literatur und die Ehrendoktorwürde der Universität Eriwan verliehen.

E. Hilsenrath beim Dittrich-Verlag
Mein Freund Edgar - Von Marko Martin

Beitrage über Edgar Hilsenrath auf dradio.de
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