"Ich liebe in der Tat nur meine Freunde"

Rezensiert von Claire-Lise Buis · 09.01.2011
Mehr als 100 Briefe wechselten die jüdischen Denker Hannah Arendt und Gershom Scholem zwischen 1939 und 1964. Ihre spannende intellektuelle Beziehung endete im Zerwürfnis über den Zionismus und Israel.
Die Philosophin Hannah Arendt kommentiert 1963 den Prozess gegen den ehemaligen SS-Oberstummbannführer Adolf Eichmann. Ihre Kritik ist schonungslos. Der NS-Funktionär vertrete zwar die "Banalität des Bösen", doch auch über die Widerstandslosigkeit der Judenräte während des Holocausts müsse man sich wundern. Ihr Freund Gershom Scholem, Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem, findet diese These unerhört. Die Kontroverse wird in der Presse ausgetragen. Kurz danach brechen Arendt und Scholem den Kontakt ab. Und eine langjährige Freundschaft.

Dass diese Episode nicht nur eine Anekdote ist, zeigt die jetzt veröffentlichte Korrespondenz. Die beiden jüdischen Denker − die eine unter chaotischen Bedingungen aus Deutschland in die USA emigriert, der andere schon 1923 nach Palästina ausgewandert – lernen sich 1939 in Paris kennen. Bis zur Mitte der 60er-Jahre schreiben sie sich mehr als hundert Briefe; alle Zeugnisse einer spannenden intellektuellen Beziehung.

Sie beginnt im Umfeld von Walter Benjamin. Dessen Selbstmord während seines französischen Exils bestürzt die Briefpartner. Hannah Arendt schreibt kurz vor ihrer Ausreise nach Amerika:

"Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde"

Die Verwaltung von Benjamins Nachlass und dessen Veröffentlichung werden Arendt und Scholem bis zum Kontaktabbruch 1964 verbinden. In den Briefen erfährt man, wie verschiedene Editionsprojekte scheitern oder gelingen – zum Beispiel in Zusammenarbeit mit Theodor W. Adorno.

Genauso wichtig scheint für Arendt und Scholem die Rettung jüdischer Kulturgüter, die in Deutschland geraubt oder beschädigt wurden. Arendt arbeitete für die Jewish Cultural Reconstruction, eine Organisation, die Bücherbestände versammelte, sichtete und sie an Bibliotheken oder Institutionen wieder verteilte. Scholem half ihr dabei, insbesondere um die Universität Jerusalem mit Literatur zu versorgen. Die entsprechende Korrespondenz lässt sich nur mühsam verfolgen. Sie besteht aus Listen von Namen, Orten, Zahlen und nicht, wie in anderen veröffentlichten Briefen der Philosophin, ihren Eindrücken aus dem bereisten Nachkriegsdeutschland. Doch ein überfliegender Blick genügt, um Arendts Engagement zu begreifen. Einen bisher völlig unbekannten Aspekt ihres Bezugs zu ihren jüdischen Wurzeln kann der Leser so aufspüren.

Denn Arendt gilt trotz ihrer scharfsinnigen Analysen über die Misserfolge der Assimilation nicht als Musterjüdin. Sie betrachtet nicht – wie andere Intellektuelle ihrer Generation – den Zionismus als alternativlose Rettung einer kollektiven Identität. Und an diesem Punkt entzündet sich die erste Auseinandersetzung zwischen ihr und Gershom Scholem. Er wirft der Philosophin eine zu große Distanz zu den Gründungsvätern Israels vor, schreibt ihr 1946:

"Der Zynismus, mit dem die erhabenen und progressiven Argumente gegen eine Sache, die für das jüdische Volk lebenswichtig ist, bei Ihnen vorgebracht werden, ist gar nicht dazu angetan, mich zu veranlassen, mich von ihr loszusagen. Ich hätte nie geglaubt, dass es mir leichter sein würde, mich mit Ben Gurion zu verständigen als mit Ihnen."

Später gehen die beiden Denker auf die politischen Probleme des Nahen Ostens kaum mehr ein – vermutlich in vollem Bewusstsein unüberbrückbarer Differenzen auf diesem Terrain.

Doch der Eichmann-Prozess reißt die alten Wunden wieder auf. In den letzten Briefen wird deutlich, wie unterschiedlich Arendt und Scholem ihr Judentum verstehen und, ja, leben. Scholem schreibt bitterböse:

"Es gibt in der jüdischen Sprache etwas (…) was die Juden Abatah Israel nennen, Liebe zu den Juden. Davon ist bei Ihnen (…) nichts zu merken".

Daraufhin Arendt: "Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig."

Der Leser erfährt nichts über die genauen Umstände, die zum Kontaktabbruch führen. Nicht ergiebig sind die Briefe auch für diejenigen, die einen philosophischen Schlagabtausch und damit tiefere Einblicke in das Werk der beiden Autoren erwarten.

Doch der geduldige Leser wird sich einen Gesamteindruck dessen machen können, was bedeutende jüdische Denker in der Nachkriegszeit beschäftigte: die Vergangenheit, natürlich, aber auch der Umgang mit der eigenen Kultur nach der Katastrophe.

Diese Korrespondenz ist darüber hinaus ein Genuss für alle, die gerne in die Welt des intellektuellen Schaffens eintauchen. Scholems Vorliebe für Schokolade, Arendts bissige Anmerkungen zu anderen Kollegen, die Verbundenheit der beiden zu Europa… Alles Details, die hinter den großen Denkern vor allem die Menschen erkennen lassen − und Arendts schönes Schlusswort an Scholem zu bestätigen scheinen:

"Vielleicht können Sie sich entschließen, es in diesem Fall so zu halten, wie ich: nämlich dass einem Menschen mehr wert sind als ihre Meinungen, aus dem einfachen Grunde weil Menschen de facto mehr sind als was sie denken oder tun."

Hannah Arendt/Gershom Scholem: Der Briefwechsel 1939 - 1964
Herausgegeben von Marie Luise Knott unter Mitarbeit von David Heredia
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
Buchcover "Der Briefwechsel" von Hannah Arendt und Gershom Scholem
Buchcover "Der Briefwechsel" von Hannah Arendt und Gershom Scholem© Suhrkamp
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