"Ich kenne keine Konservativen, die wirklich darum kämpfen"
Der CDU-Politiker und Ex-Bundeswehrgeneral Jörg Schönbohm sieht seine Partei auf dem "Weg der Allgemeinheiten und auch der Beliebigkeiten", weil das kämpferisch Konservative offenbar nicht mehr gewollt sei.
Frank Meyer: Die Akzeptanz der Marktwirtschaft hat durch die Gier auf den Finanzmärkten schwer gelitten. Das sagt selbst der CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe. Nun war ja aber der Glaube an die regulierende, die letztlich vernünftige Kraft des Marktes immer ganz zentral für das bürgerlich-konservative Weltbild. Das wird nun auch von der eigenen Regierung schwer erschüttert, von den rasanten Kehrtwenden der bürgerlich-liberalen Koalition in Sachen Atomausstieg, Wehrpflicht und dreigliedriges Schulsystem.
Über die derzeitige Kernschmelze des bürgerlichen Selbstverständnisses – so hat es der "Spiegel" genannt – wollen wir reden mit einem gestandenen Konservativen, mit Jörg Schönbohm, ehemals Bundeswehrgeneral, Innensenator in Berlin und Innenminister in Brandenburg. Seien Sie willkommen, Herr Schönbohm!
Jörg Schönbohm: Ja, guten Tag!
Meyer: Wir erleben zurzeit: die Finanzmärkte wetten gegen ganze Länder, Stichwort Griechenland, Portugal, Irland – glauben Sie da noch an die Vernunft der Marktwirtschaft?
Schönbohm: Ja. Denn die Alternative zur Marktwirtschaft wäre die Planwirtschaft. Und die Planwirtschaft ist grässlich gescheitert, wie wir gesehen haben, in der DDR und im gesamten kommunistischen System, aber ich glaube an die Soziale Marktwirtschaft. Und ich glaube, die soziale Komponente muss in diesem Spiel der freien Kräfte stärker betont werden, und es kommt etwas anderes hinzu, das offensichtlich alles erlaubt ist, was nicht verboten ist. Und das ist eine Umkehr dessen, was früher mal der ehrbare Bankmann war. Heute gibt es den Begriff Bänker, das ist etwas ganz anderes, da wird jongliert mit Zahlen, mit Geld, was ihm nicht gehört.
Der Bänker, der Banker, der Bankleiter oder Bankangestellte hat sich früher für Geld fremder Leute verantwortlich gefühlt – das ist irgendwie ins Rutschen gekommen, alles virtuell –, und ich denke, darüber muss einmal wirklich nachgedacht werden, wie man das machen kann. Und für mich ist sehr interessant, dass bei großen Unternehmen immer wieder um die Frage geht: Wir müssen doch stärker mal die Ethik unseres Handels und die Grundlagen unseres Handelns bewerten und einbringen. Von daher gesehen: Die Marktwirtschaft, die freie und soziale Marktwirtschaft, glaube ich, wird diesen Bewährungstest bestehen.
Meyer: Aber die Frage ist ja auch: Welche Rolle spielt der Staat dabei? Gerade das konservative Weltbild war doch immer ganz entscheidend, dass sich der Staat in Sachen Markt, in Sachen Wirtschaft zurückhält, und dass letztendlich der Markt selbst dafür sorgt, dass die Dinge vernünftig laufen. Jetzt erleben wir aber, dass auch Konservative fordern – Roland Koch zum Beispiel schreibt das in seinen Buch: Nur ein starker Staat könne die Kräfte des Marktes noch bändigen. Also, sind Sie jetzt auch für einen starken Staat in Bezug auf die Wirtschaft?
Schönbohm: Starke Staaten, denn solange die Bundesrepublik Deutschland sozusagen allein ihre Marktwirtschaft bestimmte, hat es ja funktioniert. Was hier eine Rolle spielt, ist die Globalisierung, dass Geldströme innerhalb von Sekunden in einer Größenordnung umgeleitet werden können, die alle Vorstellungen eines normalen Bürgers überschreiten.
Und um das zu verhindern, dass dort missbräuchlich etwas manipuliert wird, braucht es einen starken Staat, der dafür Regeln aufsetzt und diese Regeln dann auch strafbewehrt umsetzt. Das ist schwierig, aber das freie Spiel der Kräfte funktioniert deswegen nicht mehr, weil die freien Kräfte zum großen Teil fremdgesteuert sind, und nicht mehr die freien Kräfte sind, die sich in einem überschaubaren Raum entwickeln.
Meyer: Wo ich gerade Roland Koch zitiert habe, er meint auch, dass die Konservativen in der Wählerschaft und in der Union, dass die heute planlos seien, dass ihnen eine intellektuelle Begründung für ihre Forderung fehle, dass sie zu wenig programmatisch auftreten. Wo wir mit Ihnen hier einen Konservativen im Studio haben: Welche Erklärung haben Sie denn für dieses heutige programmatische Schweigen der Konservativen?
Schönbohm: Wir haben einen Umbruch zu verzeichnen, einen gesellschaftlichen Umbruch und stehen vor gewaltigen Herausforderungen. Darum, glaube ich, ist es wichtig, dass man sich auf das Wesentliche besinnt. Ich nehme mal als Beispiel die Familie. Die überwiegende Mehrzahl der Deutschen hat ja Erfahrung gemacht, welche Bedeutung die Familie hat, in den Kriegszeiten, in der Nachkriegszeit und in Zeiten des Aufbaus, und jetzt erleben sie das auch und setzen sich auch dafür ein. Meine Partei, die CDU, hat aber bereits im Jahre 2002 gesagt, sie haben kein bestimmtes Familienbild mehr! Ihnen ist alles recht: Patchworkfamilie, wie auch immer ...
Meyer: Ein Fehler für Sie?
Schönbohm: Für mich ein Fehler! Und weil man hoffte, damit Wählergruppen zu erreichen, mit dem Ergebnis, dass die Stammwähler nicht zur Wahl gegangen sind und die anderen, die man hoffte, nicht gekommen sind. Also, Laufkundschaft ist nicht gekommen, die Stammkundschaft ist ebenfalls nicht gekommen.
Meyer: Damit sprechen Sie ja jemanden wie Ursula von der Leyen an, und wenn man heute nach – auch nach intellektuellen Führungsfiguren für die CDU sucht, dann fällt einem ja eben Ursula von der Leyen ein, oder es fällt einem Norbert Röttgen ein und nicht konservative Kräfte wie früher Franz-Josef Strauß, Alfred Dregger und so weiter. Woran liegt das, dass die Konservativen so still sind?
Schönbohm: Zunächst mal gibt es sie gar nicht mehr so. Ich meine, Frau Merkel hat mal nach der Wahl 2002 gesagt – sie ist in Norddeutschland immer gefragt worden: Wo ist ein Stoltenberg? Das war ja auch ein Mann, der dieses Lebensgefühl vertrat, da haben wir keinen! Und warum ist das so? Und diejenigen, die man als konservativ bezeichnet oder die sich selber auch konservativ betrachten, sind ja aus der Politik ausgeschieden. Nehmen wir Volker Rühe, oder nehmen Sie auch Roland Koch. Roland Koch ist ja nun erst Anfang, Mitte 50. Von daher gesehen: Ich kenne keine Konservativen, die wirklich darum kämpfen, und ich habe auch den Eindruck, dass meine Partei diese Spannbreite nicht mehr will. Von daher gesehen sind wir auf dem Weg der Allgemeinheiten und auch der Beliebigkeiten.
Meyer: Woran liegt das? Hat Angela Merkel diese Konservativen herausgedrängt, weil sie nicht ihrem politischen Konzept entsprechen, oder liegt das auch daran, ziehen sich die Konservativen auch zurück, weil sie so etwas wie einen gesellschaftlichen Hallraum für ihre Ideen, gesellschaftliche Unterstützung, nicht mehr finden?
Schönbohm: Ich glaube, das Letztere ist ein wichtiger Punkt: Der gesellschaftliche Hallraum, wie Sie es nennen, finde ich, ist ein guter Begriff, weil der Widerhall sehr gering ist. Man kriegt hier, wenn man irgendetwas – ich habe hier in Berlin, auch in Brandenburg, nach bestimmten Ereignissen große Zustimmung bekommen, in Briefen, und so. Aber in den Medien bekommen Sie das dann nicht.
Da heißt es dann, das ist altbacken, ewig gestrig oder so. Und es kommt also zusammen: Ein sich änderndes Lebensgefühl, dass viele junge Menschen einen neuen Weg gehen und auch aus Konventionen ausbrechen wollen – das hatten wir ja schon mal in Deutschland gehabt, nach dem Ersten Weltkrieg. Denken Sie nur an Heinrich Mann "Der Untertan": Das schildert ja dieses bürgerliche Leben, aus dem er heraus wollte –, das ist hier in Deutschland nun vollzogen, und jetzt ist mal ein Vakuum. Und dieses Vakuum, glaube ich, kann nur genährt werden oder geschlossen werden oder bedient werden durch Persönlichkeiten, die Vorbilder sind.
Und wenn Sie sich überlegen, was jetzt alles geschehen ist, wie viele Politiker ihren Doktortitel abgeben mussten, dann ist das ein Teil der allgemeinen Unsicherheit! Und darum glaube ich: Das Wichtigste ist, dass wir Persönlichkeiten haben, die mit ihrer eigenen Lebensleistung auch anderen mal ein Vorbild sein können und sagen können: Dafür stehen wir, und es geht doch und es macht doch auch Freude.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir reden mit Jörg Schönbohm, früher Bundeswehrgeneral und Innenminister, über die heutigen Verwerfungen des bürgerlich-konservativen Selbstverständnisses. Wo Sie gerade über Vorbilder reden: Interessanterweise hat gerade heute die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", ja lange die Stimme des bürgerlich-konservativen Weltbildes in Deutschland, über den Bürger Trittin geschrieben. Also, Jürgen Trittin, der Scharfmacher der Grünen, ist auf einmal das Vorbild für Bürgerlichkeit in Deutschland. Das ist ja eine interessante Verschiebung – und wenn wir gerade auf die Grünen schauen, auch in Gestalt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten; die Grünen treten für den Erhalt der Schöpfung ein, für einen behutsamen Umgang mit Ressourcen, für ein langfristiges, nachhaltiges, moralisches Wirtschaften. Sind die Grünen heute die besseren Konservativen?
Schönbohm: All das, was sie gerade, die letzten drei Dinge, die Sie aufgezählt haben, das war auch immer Markenzeichen der CDU, wobei die Grünen sich auf einen besonderen Aspekt – das war die Atomkraft – gestürzt haben. Im Rahmen der Nachrüstungsdebatte haben sie Unrecht gehabt, muss man auch mal dann erwähnen. Bei dieser Debatte um Atomkraftwerke haben sie jetzt offensichtlich eine gemeinsame Stimmung getroffen, die zu dieser Veränderung geführt hat.
Aber Trittin als sozusagen Urtypus des Bürgerlichen zu bezeichnen, das ist mir etwas sehr weit gewagt. Ich habe den Artikel gelesen, aber das zeigt doch im Grunde genommen auch eine Sehnsucht nach Normalität, an eine Sehnsucht nach Berechenbarkeit, an eine Sehnsucht nach Formen. Wir werden ja immer mehr eine formlose Gesellschaft. Das Bürgerliche, Bürgertum kentert ja auch dadurch, dass es sich zur Form und – ich sage auch bewusst – zu Konventionen bekennt, die das Zusammenleben wesentlich erleichtern, und das ist das, was mich so ärgert: Diese Formlosigkeit und auch die Art des Umgangs miteinander ist ja zum Teil doch bedauerlich, weil es mitmenschlich gar nicht nett ist, wenn ein junger Mann in einer Bahn, in der S-Bahn sitzt und ich sage: Wollen Sie nicht mal aufstehen, dass die ältere Dame sich setzen kann? Da sagt er: Wieso, ich habe doch auch denselben Fahrpreis bezahlt wie die Frau. Wissen Sie, dieses Mitmenschliche geht verloren.
Meyer: Aber was Sie ansprechen, das zeigt doch auch gerade jetzt zum Beispiel Jürgen Trittin noch einmal, dass der quasi natürliche Besitzanspruch des konservativen Lagers und des liberalen Lagers – wir sind die Bürger in diesem Land, die anderen sind die Linken, die Ideologen – ...
Schönbohm: Das ist vorbei!
Meyer: ... dass das vorbei ist! Also, diesen Besitzanspruch haben Sie verloren!
Schönbohm: Ja, das ist richtig! Wobei es im Grunde genommen diese Lagerbildung nicht mehr gab. Die Lagerbildung gab es in Zeiten des Kalten Krieges, da waren die einen hier und die anderen waren da, und wir waren für die Nachrüstung und die anderen waren dagegen. Da hatte man klare Feindbilder, sozusagen in der innenpolitischen Auseinandersetzung.
Das gibt es jetzt nicht mehr. Es ist jetzt alles verschwommener geworden, und das führt ja auch dazu, dass die Parteien immer weniger mobilisieren können. Ich meine, die Wahlbeteiligung geht ja ständig runter – alles ein Hinweis darauf, dass die Bürger den Parteien nicht mehr viel zutrauen, von daher gesehen kann heute fast jeder jede Position besetzen.
Meyer: Die Milieus verschieben sich, und der – es gibt ja so etwas wie einen Theoretiker der neuen Bürgerlichkeit in Deutschland, Paul Nolte, der Historiker, seit zehn Jahren wird schon darüber diskutiert –, der sagt ja, dass das grün-schwarze Milieu, also eine Annäherung dieser früher verfeindeten Lager, die neue Bürgerlichkeit repräsentiere. Gerade diese Annäherung wird ja von Konservativen nach wie vor erbittert bekämpft – aber es sieht aus, als ob dieser Widerstand eigentlich zwecklos wäre: Da sitzt die neue deutsche Bürgerlichkeit!
Schönbohm: Ob der erbittert bekämpft wird, weiß ich gar nicht mal. Denn auch in Baden-Württemberg gab es ja Überlegungen, Schwarz-Grün, wenn es eine Mehrheit gegeben hätte, zu machen, als Alternative zum jetzigen Rot-Grün. Das ist in den einzelnen Landesverbänden und Bereichen unterschiedlich, die Grünen sind auch unterschiedlich: In Berlin sind sie anders als in Baden-Württemberg oder in Nordrhein-Westfalen.
Aber ich denke schon, dass das Erhalten der Schöpfung, was die Grünen sich ja doch sehr stark in den Mittelpunkt ihrer Parteiprogrammatik gestellt haben, mit der christlichen Vorstellung der CDU übereinstimmt. Und Sie stellen ja auch fest, dass die Grünen im Bereich der Familienpolitik weit weg sind von dem, was sie vor 20 Jahren vertreten haben, mit den Kinderläden, mit der Beliebigkeit, mit der mangelnden Bindung – Cohn-Bendit, was der damals veröffentlich hat, würde sich heute die Haare sträuben!
Meyer: Ich höre mit Staunen, Sie sind auch zum Verfechter von Schwarz-Grün geworden?
Schönbohm: Ich bin nicht zum Verfechter geworden, ich sage nur: Vermutlich ist das eine Entwicklung, die so kommt! Weil anders keine Mehrheiten mehr zu bekommen sind, und weil doch die Schnittmenge sich vergrößert hat.
Meyer: Erleben wir eine Kernschmelze des bürgerlich-konservativen Weltbildes? darüber haben wir mit Jörg Schönbohm gesprochen. Herzlichen Dank!
Schönbohm: Bitte sehr!
Die Äußerungen unserer Gesprächspartner geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Mehr zum Thema:
"Die Union kämpft für gar nichts mehr" - Publizist Gauland über bürgerliches Selbstverständnis und die Politik von CDU/CSU (DKultur, Thema)
Über die derzeitige Kernschmelze des bürgerlichen Selbstverständnisses – so hat es der "Spiegel" genannt – wollen wir reden mit einem gestandenen Konservativen, mit Jörg Schönbohm, ehemals Bundeswehrgeneral, Innensenator in Berlin und Innenminister in Brandenburg. Seien Sie willkommen, Herr Schönbohm!
Jörg Schönbohm: Ja, guten Tag!
Meyer: Wir erleben zurzeit: die Finanzmärkte wetten gegen ganze Länder, Stichwort Griechenland, Portugal, Irland – glauben Sie da noch an die Vernunft der Marktwirtschaft?
Schönbohm: Ja. Denn die Alternative zur Marktwirtschaft wäre die Planwirtschaft. Und die Planwirtschaft ist grässlich gescheitert, wie wir gesehen haben, in der DDR und im gesamten kommunistischen System, aber ich glaube an die Soziale Marktwirtschaft. Und ich glaube, die soziale Komponente muss in diesem Spiel der freien Kräfte stärker betont werden, und es kommt etwas anderes hinzu, das offensichtlich alles erlaubt ist, was nicht verboten ist. Und das ist eine Umkehr dessen, was früher mal der ehrbare Bankmann war. Heute gibt es den Begriff Bänker, das ist etwas ganz anderes, da wird jongliert mit Zahlen, mit Geld, was ihm nicht gehört.
Der Bänker, der Banker, der Bankleiter oder Bankangestellte hat sich früher für Geld fremder Leute verantwortlich gefühlt – das ist irgendwie ins Rutschen gekommen, alles virtuell –, und ich denke, darüber muss einmal wirklich nachgedacht werden, wie man das machen kann. Und für mich ist sehr interessant, dass bei großen Unternehmen immer wieder um die Frage geht: Wir müssen doch stärker mal die Ethik unseres Handels und die Grundlagen unseres Handelns bewerten und einbringen. Von daher gesehen: Die Marktwirtschaft, die freie und soziale Marktwirtschaft, glaube ich, wird diesen Bewährungstest bestehen.
Meyer: Aber die Frage ist ja auch: Welche Rolle spielt der Staat dabei? Gerade das konservative Weltbild war doch immer ganz entscheidend, dass sich der Staat in Sachen Markt, in Sachen Wirtschaft zurückhält, und dass letztendlich der Markt selbst dafür sorgt, dass die Dinge vernünftig laufen. Jetzt erleben wir aber, dass auch Konservative fordern – Roland Koch zum Beispiel schreibt das in seinen Buch: Nur ein starker Staat könne die Kräfte des Marktes noch bändigen. Also, sind Sie jetzt auch für einen starken Staat in Bezug auf die Wirtschaft?
Schönbohm: Starke Staaten, denn solange die Bundesrepublik Deutschland sozusagen allein ihre Marktwirtschaft bestimmte, hat es ja funktioniert. Was hier eine Rolle spielt, ist die Globalisierung, dass Geldströme innerhalb von Sekunden in einer Größenordnung umgeleitet werden können, die alle Vorstellungen eines normalen Bürgers überschreiten.
Und um das zu verhindern, dass dort missbräuchlich etwas manipuliert wird, braucht es einen starken Staat, der dafür Regeln aufsetzt und diese Regeln dann auch strafbewehrt umsetzt. Das ist schwierig, aber das freie Spiel der Kräfte funktioniert deswegen nicht mehr, weil die freien Kräfte zum großen Teil fremdgesteuert sind, und nicht mehr die freien Kräfte sind, die sich in einem überschaubaren Raum entwickeln.
Meyer: Wo ich gerade Roland Koch zitiert habe, er meint auch, dass die Konservativen in der Wählerschaft und in der Union, dass die heute planlos seien, dass ihnen eine intellektuelle Begründung für ihre Forderung fehle, dass sie zu wenig programmatisch auftreten. Wo wir mit Ihnen hier einen Konservativen im Studio haben: Welche Erklärung haben Sie denn für dieses heutige programmatische Schweigen der Konservativen?
Schönbohm: Wir haben einen Umbruch zu verzeichnen, einen gesellschaftlichen Umbruch und stehen vor gewaltigen Herausforderungen. Darum, glaube ich, ist es wichtig, dass man sich auf das Wesentliche besinnt. Ich nehme mal als Beispiel die Familie. Die überwiegende Mehrzahl der Deutschen hat ja Erfahrung gemacht, welche Bedeutung die Familie hat, in den Kriegszeiten, in der Nachkriegszeit und in Zeiten des Aufbaus, und jetzt erleben sie das auch und setzen sich auch dafür ein. Meine Partei, die CDU, hat aber bereits im Jahre 2002 gesagt, sie haben kein bestimmtes Familienbild mehr! Ihnen ist alles recht: Patchworkfamilie, wie auch immer ...
Meyer: Ein Fehler für Sie?
Schönbohm: Für mich ein Fehler! Und weil man hoffte, damit Wählergruppen zu erreichen, mit dem Ergebnis, dass die Stammwähler nicht zur Wahl gegangen sind und die anderen, die man hoffte, nicht gekommen sind. Also, Laufkundschaft ist nicht gekommen, die Stammkundschaft ist ebenfalls nicht gekommen.
Meyer: Damit sprechen Sie ja jemanden wie Ursula von der Leyen an, und wenn man heute nach – auch nach intellektuellen Führungsfiguren für die CDU sucht, dann fällt einem ja eben Ursula von der Leyen ein, oder es fällt einem Norbert Röttgen ein und nicht konservative Kräfte wie früher Franz-Josef Strauß, Alfred Dregger und so weiter. Woran liegt das, dass die Konservativen so still sind?
Schönbohm: Zunächst mal gibt es sie gar nicht mehr so. Ich meine, Frau Merkel hat mal nach der Wahl 2002 gesagt – sie ist in Norddeutschland immer gefragt worden: Wo ist ein Stoltenberg? Das war ja auch ein Mann, der dieses Lebensgefühl vertrat, da haben wir keinen! Und warum ist das so? Und diejenigen, die man als konservativ bezeichnet oder die sich selber auch konservativ betrachten, sind ja aus der Politik ausgeschieden. Nehmen wir Volker Rühe, oder nehmen Sie auch Roland Koch. Roland Koch ist ja nun erst Anfang, Mitte 50. Von daher gesehen: Ich kenne keine Konservativen, die wirklich darum kämpfen, und ich habe auch den Eindruck, dass meine Partei diese Spannbreite nicht mehr will. Von daher gesehen sind wir auf dem Weg der Allgemeinheiten und auch der Beliebigkeiten.
Meyer: Woran liegt das? Hat Angela Merkel diese Konservativen herausgedrängt, weil sie nicht ihrem politischen Konzept entsprechen, oder liegt das auch daran, ziehen sich die Konservativen auch zurück, weil sie so etwas wie einen gesellschaftlichen Hallraum für ihre Ideen, gesellschaftliche Unterstützung, nicht mehr finden?
Schönbohm: Ich glaube, das Letztere ist ein wichtiger Punkt: Der gesellschaftliche Hallraum, wie Sie es nennen, finde ich, ist ein guter Begriff, weil der Widerhall sehr gering ist. Man kriegt hier, wenn man irgendetwas – ich habe hier in Berlin, auch in Brandenburg, nach bestimmten Ereignissen große Zustimmung bekommen, in Briefen, und so. Aber in den Medien bekommen Sie das dann nicht.
Da heißt es dann, das ist altbacken, ewig gestrig oder so. Und es kommt also zusammen: Ein sich änderndes Lebensgefühl, dass viele junge Menschen einen neuen Weg gehen und auch aus Konventionen ausbrechen wollen – das hatten wir ja schon mal in Deutschland gehabt, nach dem Ersten Weltkrieg. Denken Sie nur an Heinrich Mann "Der Untertan": Das schildert ja dieses bürgerliche Leben, aus dem er heraus wollte –, das ist hier in Deutschland nun vollzogen, und jetzt ist mal ein Vakuum. Und dieses Vakuum, glaube ich, kann nur genährt werden oder geschlossen werden oder bedient werden durch Persönlichkeiten, die Vorbilder sind.
Und wenn Sie sich überlegen, was jetzt alles geschehen ist, wie viele Politiker ihren Doktortitel abgeben mussten, dann ist das ein Teil der allgemeinen Unsicherheit! Und darum glaube ich: Das Wichtigste ist, dass wir Persönlichkeiten haben, die mit ihrer eigenen Lebensleistung auch anderen mal ein Vorbild sein können und sagen können: Dafür stehen wir, und es geht doch und es macht doch auch Freude.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir reden mit Jörg Schönbohm, früher Bundeswehrgeneral und Innenminister, über die heutigen Verwerfungen des bürgerlich-konservativen Selbstverständnisses. Wo Sie gerade über Vorbilder reden: Interessanterweise hat gerade heute die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", ja lange die Stimme des bürgerlich-konservativen Weltbildes in Deutschland, über den Bürger Trittin geschrieben. Also, Jürgen Trittin, der Scharfmacher der Grünen, ist auf einmal das Vorbild für Bürgerlichkeit in Deutschland. Das ist ja eine interessante Verschiebung – und wenn wir gerade auf die Grünen schauen, auch in Gestalt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten; die Grünen treten für den Erhalt der Schöpfung ein, für einen behutsamen Umgang mit Ressourcen, für ein langfristiges, nachhaltiges, moralisches Wirtschaften. Sind die Grünen heute die besseren Konservativen?
Schönbohm: All das, was sie gerade, die letzten drei Dinge, die Sie aufgezählt haben, das war auch immer Markenzeichen der CDU, wobei die Grünen sich auf einen besonderen Aspekt – das war die Atomkraft – gestürzt haben. Im Rahmen der Nachrüstungsdebatte haben sie Unrecht gehabt, muss man auch mal dann erwähnen. Bei dieser Debatte um Atomkraftwerke haben sie jetzt offensichtlich eine gemeinsame Stimmung getroffen, die zu dieser Veränderung geführt hat.
Aber Trittin als sozusagen Urtypus des Bürgerlichen zu bezeichnen, das ist mir etwas sehr weit gewagt. Ich habe den Artikel gelesen, aber das zeigt doch im Grunde genommen auch eine Sehnsucht nach Normalität, an eine Sehnsucht nach Berechenbarkeit, an eine Sehnsucht nach Formen. Wir werden ja immer mehr eine formlose Gesellschaft. Das Bürgerliche, Bürgertum kentert ja auch dadurch, dass es sich zur Form und – ich sage auch bewusst – zu Konventionen bekennt, die das Zusammenleben wesentlich erleichtern, und das ist das, was mich so ärgert: Diese Formlosigkeit und auch die Art des Umgangs miteinander ist ja zum Teil doch bedauerlich, weil es mitmenschlich gar nicht nett ist, wenn ein junger Mann in einer Bahn, in der S-Bahn sitzt und ich sage: Wollen Sie nicht mal aufstehen, dass die ältere Dame sich setzen kann? Da sagt er: Wieso, ich habe doch auch denselben Fahrpreis bezahlt wie die Frau. Wissen Sie, dieses Mitmenschliche geht verloren.
Meyer: Aber was Sie ansprechen, das zeigt doch auch gerade jetzt zum Beispiel Jürgen Trittin noch einmal, dass der quasi natürliche Besitzanspruch des konservativen Lagers und des liberalen Lagers – wir sind die Bürger in diesem Land, die anderen sind die Linken, die Ideologen – ...
Schönbohm: Das ist vorbei!
Meyer: ... dass das vorbei ist! Also, diesen Besitzanspruch haben Sie verloren!
Schönbohm: Ja, das ist richtig! Wobei es im Grunde genommen diese Lagerbildung nicht mehr gab. Die Lagerbildung gab es in Zeiten des Kalten Krieges, da waren die einen hier und die anderen waren da, und wir waren für die Nachrüstung und die anderen waren dagegen. Da hatte man klare Feindbilder, sozusagen in der innenpolitischen Auseinandersetzung.
Das gibt es jetzt nicht mehr. Es ist jetzt alles verschwommener geworden, und das führt ja auch dazu, dass die Parteien immer weniger mobilisieren können. Ich meine, die Wahlbeteiligung geht ja ständig runter – alles ein Hinweis darauf, dass die Bürger den Parteien nicht mehr viel zutrauen, von daher gesehen kann heute fast jeder jede Position besetzen.
Meyer: Die Milieus verschieben sich, und der – es gibt ja so etwas wie einen Theoretiker der neuen Bürgerlichkeit in Deutschland, Paul Nolte, der Historiker, seit zehn Jahren wird schon darüber diskutiert –, der sagt ja, dass das grün-schwarze Milieu, also eine Annäherung dieser früher verfeindeten Lager, die neue Bürgerlichkeit repräsentiere. Gerade diese Annäherung wird ja von Konservativen nach wie vor erbittert bekämpft – aber es sieht aus, als ob dieser Widerstand eigentlich zwecklos wäre: Da sitzt die neue deutsche Bürgerlichkeit!
Schönbohm: Ob der erbittert bekämpft wird, weiß ich gar nicht mal. Denn auch in Baden-Württemberg gab es ja Überlegungen, Schwarz-Grün, wenn es eine Mehrheit gegeben hätte, zu machen, als Alternative zum jetzigen Rot-Grün. Das ist in den einzelnen Landesverbänden und Bereichen unterschiedlich, die Grünen sind auch unterschiedlich: In Berlin sind sie anders als in Baden-Württemberg oder in Nordrhein-Westfalen.
Aber ich denke schon, dass das Erhalten der Schöpfung, was die Grünen sich ja doch sehr stark in den Mittelpunkt ihrer Parteiprogrammatik gestellt haben, mit der christlichen Vorstellung der CDU übereinstimmt. Und Sie stellen ja auch fest, dass die Grünen im Bereich der Familienpolitik weit weg sind von dem, was sie vor 20 Jahren vertreten haben, mit den Kinderläden, mit der Beliebigkeit, mit der mangelnden Bindung – Cohn-Bendit, was der damals veröffentlich hat, würde sich heute die Haare sträuben!
Meyer: Ich höre mit Staunen, Sie sind auch zum Verfechter von Schwarz-Grün geworden?
Schönbohm: Ich bin nicht zum Verfechter geworden, ich sage nur: Vermutlich ist das eine Entwicklung, die so kommt! Weil anders keine Mehrheiten mehr zu bekommen sind, und weil doch die Schnittmenge sich vergrößert hat.
Meyer: Erleben wir eine Kernschmelze des bürgerlich-konservativen Weltbildes? darüber haben wir mit Jörg Schönbohm gesprochen. Herzlichen Dank!
Schönbohm: Bitte sehr!
Die Äußerungen unserer Gesprächspartner geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
"Die Union kämpft für gar nichts mehr" - Publizist Gauland über bürgerliches Selbstverständnis und die Politik von CDU/CSU (DKultur, Thema)