"Die Union kämpft für gar nichts mehr"
Atomkraft, Wehrpflicht, Hauptschule: Im Eiltempo räumen die Unionsparteien konservative Positionen. Der Journalist und Buchautor Alexander Gauland hält das für höchst problematisch - und fordert mehr Engagement für bürgerliche Standpunkte.
Katrin Heise: Was die einen seit 35, 40 Jahren wussten und vertraten und sich dafür beschimpfen ließen, das nimmt man den anderen innerhalb von sechs Monaten nicht so richtig ab. Nicht nur in der Haltung zur Atomfrage stehen plötzlich die Grünen für Konstanz und das konservative Bürgertum erkennt seine Vertretung durch die CDU eigentlich gar nicht mehr wieder. Ähnlich geht es ihnen in der Bildungspolitik, wo die Hauptschule entsorgt wird, und den Bürger in Uniform hat auch die CDU verabschiedet, dem anständigen Unternehmer gerät angesichts von Rettungspaketen für schlecht wirtschaftende Banken das Weltbild durcheinander. – Was macht all das mit dem bürgerlichen Lager unserer Gesellschaft? Über die Krise des bürgerlichen Selbstverständnisses spreche ich mit dem Publizisten Alexander Gauland, Herausgeber der "Märkischen Allgemeinen Zeitung", selbst CDU-Mitglied. Schönen guten Tag, Herr Gauland!
Alexander Gauland: Guten Tag, Frau Heise!
Heise: Wenn wir uns zuerst mal so ein paar Wendungen anschauen, die ich jetzt schon angerissen habe, beginnen wir mal mit dem Aktuellsten – wobei es ist alles gleich aktuell –, mit dem Atomausstieg. Was ist Ihnen da eigentlich durch den Kopf gegangen, als die schwarz-gelbe Koalition jetzt den Atomausstieg beschlossen hat? Ist das eine Niederlage für alle Konservativen, die für die Atomkraft eintraten jahrzehntelang?
Gauland: Ach, das hat mit Niederlage eigentlich nichts zu tun, weil viele Konservative der Atomkraft immer skeptisch gegenüberstanden. Mir scheint, es ist nicht das Problem, dass die Union aus der Atomkraft aussteigt oder die Wehrpflicht abschafft, es scheint mir das Problem zu sein, wie sie das macht. Dieselben Dinge, die heute aller Thema sind, sind vor drei, sechs Monaten, manchmal nur vor sechs Wochen noch leidenschaftlich als Herzblut christlich-demokratischer Politik verteidigt worden. Wenn man von solchen Dingen Abschied nimmt, die man früher zum Herzblut erklärt hat, dann muss man auf eine Weise Abschied nehmen, die die Menschen mitnimmt, die den Menschen klarmacht, warum das notwendig ist. Das hat die Union in allen Fällen versäumt – nehmen Sie Gymnasium, nehmen Sie Hauptschule – und insofern entsteht der falsche Eindruck einer im Grunde genommen völligen Konzeptionslosigkeit. Und das hat wenig mit dem Bürgerlichen zu tun.
Heise: Wo findet sich der Bürgerliche aber jetzt wieder?
Gauland: Das Bürgerliche findet sich im Grunde genommen natürlich heute sowohl bei der Union wie bei der FDP wie auch in einer anderen Form bei den Grünen. Man muss das Bürgerliche immer definieren: Sie sagten so schön, der kleine Unternehmer. Das ist völlig richtig, der gehörte zum klassischen Bürgertum. Ob bestimmte hedonistische Lebensweisen, die die Grünen vertreten, bürgerlich sind, da kann man Fragezeichen machen, aber auch diese hedonistischen Lebensweisen haben mit dem, was die Union jetzt abschafft und abstellt, nichts zu tun.
Heise: Auf Sicht fahren, sich immer wieder revidieren, das sagt Angela Merkel ja auch von sich selber, so wird sie jedenfalls im "Spiegel" vergangener Woche zitiert. Wie beweglich darf konservative Politik eigentlich sein?
Gauland: Sie soll beweglich sein, sie muss beweglich sein. Der große Konservative Edmund Burke hat immer argumentiert, dass man natürlich Dinge anpassen muss, um sie zu bewahren, und alle kennen den berühmten Satz aus dem "Leoparden", es muss alles sich ändern, damit alles so bleibt, wie es ist. Das war immer gute, konservative Politik, das kann man aber nicht so machen, wie es die Union macht, dass sie vor Kurzem noch diese Dinge für unveränderbar erklärt, um sie dann nicht nur zu verändern, sondern mit einem Federstrich abzuschaffen und dieses Abzuschaffende oder Abgeschaffene jetzt für alternativlos zu erklären. Das ist nicht konservativ, das ist wahrscheinlich noch nicht mal bürgerlich-pragmatisch.
Heise: Das ist getrieben.
Gauland: Das ist getrieben, wobei man nicht genau weiß, wodurch die Union so getrieben ist ...
Heise: ... denn durchs eigene Lager ist sie nicht getrieben.
Gauland: Manchmal denke ich, sie ist getrieben durch die Leere der Überzeugungen bei den führenden Personen. Anders kann ich mir das nicht erklären. Man soll mir nicht sagen, ja, der große Widerstand der Bevölkerung gegen das Atom. Da erinnere ich nur an die Nachrüstung, Helmut Schmidt und Helmut Kohl, an den Euro von Helmut Kohl, das waren ja alles Dinge, die nicht leidenschaftlich von der Bevölkerung vertreten wurden, aber die Partei hatte Überzeugungen. Kann sein, dass man mit Überzeugung nicht immer durchkommt, aber die Partei muss Überzeugungen formulieren und muss versuchen, dafür zu kämpfen. Die Union kämpft für gar nichts mehr. Sie ändert einfach Positionen, ohne auch nur den Versuch zu machen, sie zu verteidigen. Und das halte ich für höchst problematisch.
Heise: Wie erleben Sie denn jetzt beispielsweise CDU-Kreisvorsitzende, die Parteifreunde davon überzeugen sollen, dass jetzt plötzlich eben die Hauptschule abgeschafft wird, die Wehrpflicht nicht mehr existiert, die Atomkraft von gestern ist?
Gauland: Nicht sehr mutig. Obwohl wir in einer Demokratie leben, merke ich deutlich, dass Parteimitglieder und vor allen Dingen Kreisvorsitzende kaum aufstehen und sagen, so geht es nicht. Und das macht mir auch Sorge, denn sie sind frustriert. Sie kümmern sich nicht mehr drum, sie sagen, wir können im Grunde genommen nichts ändern, aber sie sagen nicht, hier stehe ich, ich kann nicht anders.
Heise: Mit dem Publizisten Alexander Gauland beleuchten wir im Deutschlandradio Kultur das bürgerliche Selbstverständnis nach den Kehrtwenden der letzten Zeit. Herr Gauland, das konservative Selbstverständnis, das war ja das, oder ... Ja, Sie haben es eigentlich auch schon so angedeutet, das ist ja immer das gewesen: Da, wo wir sind, ist die Wirklichkeit, auch mit den Veränderungen, wir bilden das ab. Und jetzt läuft man, hat man ja wirklich den Eindruck, der Wirklichkeit hinterher. Das heißt, die Leute, die diese Überzeugung aber noch haben, wie diskutieren die das momentan? Sie sagen, mutlos. Was folgt daraus?
Gauland: Ja, ich würde nicht sagen, dass wir der Wirklichkeit hinterherlaufen, ich finde es eigentlich viel schlimmer: Wir laufen zum Teil – nehmen Sie das Schulproblem – einer Ideologie hinterher. Oder nehmen Sie den Unsinn, dass jetzt plötzlich Quoten für Spitzenmanagerinnen eingeführt werden. Wenn Sie mit solchen Frauen sprechen, sagen die, wir wollen gar keine Quoten, denn wir setzen uns auch so durch. Das heißt, zu einer Zeit, wo die Frage, ob die Quote überhaupt etwas Richtiges war, bereits Zweifel bestehen, setzt die Union an, auf alte ideologische Rösser sich zu setzen. Und das halte ich nicht für Der-Wirklichkeit-Hinterherlaufen, sondern vor der Wirklichkeit die Augen zu verschließen.
Heise: Wie sollte es dann laufen?
Gauland: Wenn man bestimmte Positionen tatsächlich aufgeben muss – nehmen Sie die Wehrpflicht im Verhältnis zur Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik –, dann hätte ich mir gewünscht, dass nach einer breiten Diskussion die Alternative deutlich nicht nur formuliert, sondern politisch umgesetzt wird. Wir lernen ja jetzt, dass der Hoffnungsträger, der angebliche Hoffnungsträger der Konservativen, nichts im Schreibtisch hinterlassen hat, dass Herr de Maizière bei Null anfängt, dass man also etwas beseitigt, wofür man keine Alternativen hat. Und das halte ich für falsch.
Ebenso bei der Kernenergie: Natürlich kann man das machen und die Kernenergie versuchen, allmählich abzubauen. Dann hätte ich mir einen Parteitag gewünscht, der deutlich diese Fragen formuliert, der Bevölkerung klarmacht, warum ich jetzt plötzlich anderer Meinung bin, und das Konzept, was ich nun umsetzen möchte als Bundeskanzlerin und Parteivorsitzende, den Mitgliedern zur Mitbeschlussfassung vorlegt. Das ist auch nicht geschehen.
Heise: Sie haben von dem konservativen Hoffnungsträger, dem ehemaligen Verteidigungsminister gesprochen. Es gibt ja vielleicht einen anderen, neuen wertegebundenen konservativen Hoffnungsträger, ist das nicht vielleicht Winfried Kretschmann von den Grünen?
Gauland: Da bin ich noch skeptisch. Die Grünen setzen sich ja zusammen aus zwei Gruppierungen: aus einer wertekonservativen, schwächeren Gruppierung derjenigen, die das Bewahren auf ihre Fahnen geschrieben haben, und eine im Grunde genommen individualistisch-hedonistische Gruppierung, die mit klassischem Konservativismus gar nichts zu tun hat, dazu gehört der ganze Extremfeminismus, dazu gehören die Probleme mit gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Das sind alles keine konservativen Positionen, und ich weiß nicht genau, wo Herr Kretschmann steht. Er macht den Eindruck, das würde ich ihm gern zugeben, eines klassisch bewahrenden Konservativen, der das andere nicht so in den Vordergrund stellt, ich weiß aber nicht, was sich in der grünen Partei auf Dauer durchsetzen wird.
Heise: Was glauben Sie, was sich in Ihrer Partei, der CDU, eigentlich auf Dauer jetzt tun wird? Wenn eben die Mutlosen sich doch immer weiter zurückziehen, kündigt sich vielleicht etwas anderes an, ein konservativer Fundamentalismus, eine andere Partei vielleicht? Gucken wir in die USA, da gibt es jetzt die Tea Party.
Gauland: Ja, das glaube ich eher nicht, oder jedenfalls müssten da die Probleme noch viel größer sein, weil wir in Deutschland natürlich eine gewisse Hemmung haben vor Parteien rechts von der CDU. Da ist immer dieses Problem des falschen Bündnisses der alten konservativen Eliten mit den Nazis, das ist historisch so stark ins Bewusstsein eingedrungen, dass es schwierig ist, über diesen Graben hinwegzukommen.
Wenn es sehr viel problematischer wird, kann sich auch in Deutschland so was entwickeln. Im Moment, fürchte ich, bleiben die Wähler zu Hause, und wenn die Union von der Macht verdrängt wird, was ja schon Rechtfertigung an sich ist für eine Partei, wenn sie also von der Macht verdrängt wird, dann fürchte ich, dass nichts mehr vorhanden ist, dass es eine Leere gibt, die auch in der Opposition zu keinen neuen Inhalten findet.
Heise: Die Aussichten, die Alexander Gauland sieht, Publizist über die Erschütterung im bürgerlich-konservativen Lager unserer Gesellschaft. Ich danke Ihnen, Herr Gauland!
Gauland: Danke!
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Alexander Gauland: Guten Tag, Frau Heise!
Heise: Wenn wir uns zuerst mal so ein paar Wendungen anschauen, die ich jetzt schon angerissen habe, beginnen wir mal mit dem Aktuellsten – wobei es ist alles gleich aktuell –, mit dem Atomausstieg. Was ist Ihnen da eigentlich durch den Kopf gegangen, als die schwarz-gelbe Koalition jetzt den Atomausstieg beschlossen hat? Ist das eine Niederlage für alle Konservativen, die für die Atomkraft eintraten jahrzehntelang?
Gauland: Ach, das hat mit Niederlage eigentlich nichts zu tun, weil viele Konservative der Atomkraft immer skeptisch gegenüberstanden. Mir scheint, es ist nicht das Problem, dass die Union aus der Atomkraft aussteigt oder die Wehrpflicht abschafft, es scheint mir das Problem zu sein, wie sie das macht. Dieselben Dinge, die heute aller Thema sind, sind vor drei, sechs Monaten, manchmal nur vor sechs Wochen noch leidenschaftlich als Herzblut christlich-demokratischer Politik verteidigt worden. Wenn man von solchen Dingen Abschied nimmt, die man früher zum Herzblut erklärt hat, dann muss man auf eine Weise Abschied nehmen, die die Menschen mitnimmt, die den Menschen klarmacht, warum das notwendig ist. Das hat die Union in allen Fällen versäumt – nehmen Sie Gymnasium, nehmen Sie Hauptschule – und insofern entsteht der falsche Eindruck einer im Grunde genommen völligen Konzeptionslosigkeit. Und das hat wenig mit dem Bürgerlichen zu tun.
Heise: Wo findet sich der Bürgerliche aber jetzt wieder?
Gauland: Das Bürgerliche findet sich im Grunde genommen natürlich heute sowohl bei der Union wie bei der FDP wie auch in einer anderen Form bei den Grünen. Man muss das Bürgerliche immer definieren: Sie sagten so schön, der kleine Unternehmer. Das ist völlig richtig, der gehörte zum klassischen Bürgertum. Ob bestimmte hedonistische Lebensweisen, die die Grünen vertreten, bürgerlich sind, da kann man Fragezeichen machen, aber auch diese hedonistischen Lebensweisen haben mit dem, was die Union jetzt abschafft und abstellt, nichts zu tun.
Heise: Auf Sicht fahren, sich immer wieder revidieren, das sagt Angela Merkel ja auch von sich selber, so wird sie jedenfalls im "Spiegel" vergangener Woche zitiert. Wie beweglich darf konservative Politik eigentlich sein?
Gauland: Sie soll beweglich sein, sie muss beweglich sein. Der große Konservative Edmund Burke hat immer argumentiert, dass man natürlich Dinge anpassen muss, um sie zu bewahren, und alle kennen den berühmten Satz aus dem "Leoparden", es muss alles sich ändern, damit alles so bleibt, wie es ist. Das war immer gute, konservative Politik, das kann man aber nicht so machen, wie es die Union macht, dass sie vor Kurzem noch diese Dinge für unveränderbar erklärt, um sie dann nicht nur zu verändern, sondern mit einem Federstrich abzuschaffen und dieses Abzuschaffende oder Abgeschaffene jetzt für alternativlos zu erklären. Das ist nicht konservativ, das ist wahrscheinlich noch nicht mal bürgerlich-pragmatisch.
Heise: Das ist getrieben.
Gauland: Das ist getrieben, wobei man nicht genau weiß, wodurch die Union so getrieben ist ...
Heise: ... denn durchs eigene Lager ist sie nicht getrieben.
Gauland: Manchmal denke ich, sie ist getrieben durch die Leere der Überzeugungen bei den führenden Personen. Anders kann ich mir das nicht erklären. Man soll mir nicht sagen, ja, der große Widerstand der Bevölkerung gegen das Atom. Da erinnere ich nur an die Nachrüstung, Helmut Schmidt und Helmut Kohl, an den Euro von Helmut Kohl, das waren ja alles Dinge, die nicht leidenschaftlich von der Bevölkerung vertreten wurden, aber die Partei hatte Überzeugungen. Kann sein, dass man mit Überzeugung nicht immer durchkommt, aber die Partei muss Überzeugungen formulieren und muss versuchen, dafür zu kämpfen. Die Union kämpft für gar nichts mehr. Sie ändert einfach Positionen, ohne auch nur den Versuch zu machen, sie zu verteidigen. Und das halte ich für höchst problematisch.
Heise: Wie erleben Sie denn jetzt beispielsweise CDU-Kreisvorsitzende, die Parteifreunde davon überzeugen sollen, dass jetzt plötzlich eben die Hauptschule abgeschafft wird, die Wehrpflicht nicht mehr existiert, die Atomkraft von gestern ist?
Gauland: Nicht sehr mutig. Obwohl wir in einer Demokratie leben, merke ich deutlich, dass Parteimitglieder und vor allen Dingen Kreisvorsitzende kaum aufstehen und sagen, so geht es nicht. Und das macht mir auch Sorge, denn sie sind frustriert. Sie kümmern sich nicht mehr drum, sie sagen, wir können im Grunde genommen nichts ändern, aber sie sagen nicht, hier stehe ich, ich kann nicht anders.
Heise: Mit dem Publizisten Alexander Gauland beleuchten wir im Deutschlandradio Kultur das bürgerliche Selbstverständnis nach den Kehrtwenden der letzten Zeit. Herr Gauland, das konservative Selbstverständnis, das war ja das, oder ... Ja, Sie haben es eigentlich auch schon so angedeutet, das ist ja immer das gewesen: Da, wo wir sind, ist die Wirklichkeit, auch mit den Veränderungen, wir bilden das ab. Und jetzt läuft man, hat man ja wirklich den Eindruck, der Wirklichkeit hinterher. Das heißt, die Leute, die diese Überzeugung aber noch haben, wie diskutieren die das momentan? Sie sagen, mutlos. Was folgt daraus?
Gauland: Ja, ich würde nicht sagen, dass wir der Wirklichkeit hinterherlaufen, ich finde es eigentlich viel schlimmer: Wir laufen zum Teil – nehmen Sie das Schulproblem – einer Ideologie hinterher. Oder nehmen Sie den Unsinn, dass jetzt plötzlich Quoten für Spitzenmanagerinnen eingeführt werden. Wenn Sie mit solchen Frauen sprechen, sagen die, wir wollen gar keine Quoten, denn wir setzen uns auch so durch. Das heißt, zu einer Zeit, wo die Frage, ob die Quote überhaupt etwas Richtiges war, bereits Zweifel bestehen, setzt die Union an, auf alte ideologische Rösser sich zu setzen. Und das halte ich nicht für Der-Wirklichkeit-Hinterherlaufen, sondern vor der Wirklichkeit die Augen zu verschließen.
Heise: Wie sollte es dann laufen?
Gauland: Wenn man bestimmte Positionen tatsächlich aufgeben muss – nehmen Sie die Wehrpflicht im Verhältnis zur Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik –, dann hätte ich mir gewünscht, dass nach einer breiten Diskussion die Alternative deutlich nicht nur formuliert, sondern politisch umgesetzt wird. Wir lernen ja jetzt, dass der Hoffnungsträger, der angebliche Hoffnungsträger der Konservativen, nichts im Schreibtisch hinterlassen hat, dass Herr de Maizière bei Null anfängt, dass man also etwas beseitigt, wofür man keine Alternativen hat. Und das halte ich für falsch.
Ebenso bei der Kernenergie: Natürlich kann man das machen und die Kernenergie versuchen, allmählich abzubauen. Dann hätte ich mir einen Parteitag gewünscht, der deutlich diese Fragen formuliert, der Bevölkerung klarmacht, warum ich jetzt plötzlich anderer Meinung bin, und das Konzept, was ich nun umsetzen möchte als Bundeskanzlerin und Parteivorsitzende, den Mitgliedern zur Mitbeschlussfassung vorlegt. Das ist auch nicht geschehen.
Heise: Sie haben von dem konservativen Hoffnungsträger, dem ehemaligen Verteidigungsminister gesprochen. Es gibt ja vielleicht einen anderen, neuen wertegebundenen konservativen Hoffnungsträger, ist das nicht vielleicht Winfried Kretschmann von den Grünen?
Gauland: Da bin ich noch skeptisch. Die Grünen setzen sich ja zusammen aus zwei Gruppierungen: aus einer wertekonservativen, schwächeren Gruppierung derjenigen, die das Bewahren auf ihre Fahnen geschrieben haben, und eine im Grunde genommen individualistisch-hedonistische Gruppierung, die mit klassischem Konservativismus gar nichts zu tun hat, dazu gehört der ganze Extremfeminismus, dazu gehören die Probleme mit gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Das sind alles keine konservativen Positionen, und ich weiß nicht genau, wo Herr Kretschmann steht. Er macht den Eindruck, das würde ich ihm gern zugeben, eines klassisch bewahrenden Konservativen, der das andere nicht so in den Vordergrund stellt, ich weiß aber nicht, was sich in der grünen Partei auf Dauer durchsetzen wird.
Heise: Was glauben Sie, was sich in Ihrer Partei, der CDU, eigentlich auf Dauer jetzt tun wird? Wenn eben die Mutlosen sich doch immer weiter zurückziehen, kündigt sich vielleicht etwas anderes an, ein konservativer Fundamentalismus, eine andere Partei vielleicht? Gucken wir in die USA, da gibt es jetzt die Tea Party.
Gauland: Ja, das glaube ich eher nicht, oder jedenfalls müssten da die Probleme noch viel größer sein, weil wir in Deutschland natürlich eine gewisse Hemmung haben vor Parteien rechts von der CDU. Da ist immer dieses Problem des falschen Bündnisses der alten konservativen Eliten mit den Nazis, das ist historisch so stark ins Bewusstsein eingedrungen, dass es schwierig ist, über diesen Graben hinwegzukommen.
Wenn es sehr viel problematischer wird, kann sich auch in Deutschland so was entwickeln. Im Moment, fürchte ich, bleiben die Wähler zu Hause, und wenn die Union von der Macht verdrängt wird, was ja schon Rechtfertigung an sich ist für eine Partei, wenn sie also von der Macht verdrängt wird, dann fürchte ich, dass nichts mehr vorhanden ist, dass es eine Leere gibt, die auch in der Opposition zu keinen neuen Inhalten findet.
Heise: Die Aussichten, die Alexander Gauland sieht, Publizist über die Erschütterung im bürgerlich-konservativen Lager unserer Gesellschaft. Ich danke Ihnen, Herr Gauland!
Gauland: Danke!
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