"Ich habe Sehnsucht nach einer gewissen Unruhe in der Kirche"

Moderation: Philipp Gessler · 04.05.2013
Kirchentage sind Familientreffen, zu denen all die unterschiedlichen Menschen anreisen, die es in der Kirche nun mal gibt, meint Fulbert Steffensky. Wenn die Gläubigen dabei in Streit geraten, stört das den Ehemann der verstorbenen Theologin Dorothee Sölle nicht.
Philipp Gessler: Zunächst aber freue ich mich, Fulbert Steffensky begrüßen zu können. Guten Tag, Herr Steffensky!

Fulbert Steffensky: Guten Tag, Herr Gessler!

Gessler: Herr Steffensky, ganz einfach gefragt, wie fanden Sie denn den Kirchentag?

Steffensky: Ich finde Kirchentage immer schön. Es sind große Familientreffen. Man trifft Leute, die man lange nicht gesehen hat. Und man stößt immer wieder auf Themen, die man in der normalen Gemeinde nicht ohne Weiteres findet. Der Kirchentag ist ein Abbild der Kirche, das heißt, es kommt alles vor, und es kommen alle vor: die Diakonissen und die Schüler und die Künstler und die politischen Gruppen, die Ökos – es kommt alles vor, und für mich ist interessant, das, was in den Gemeinden so nebeneinander herläuft - die Friedensgruppen, die Ökogruppen, die Gebetsgruppen - trifft hier zusammen, sie können sich nicht ausweichen. Und sie geraten oft auch in Streit miteinander. Das ist das Herrliche am Kirchentag.

Gessler: Sie haben kein Problem mit Streit?

Steffensky: Nein, Streit ist ein Mittel der Wahrheitsfindung. Wenn er ausgetragen wird, ohne dass man sich die Köpfe blutig schlägt, geht es gar nicht anders. Wir können es ja auch vornehmer Auseinandersetzung nennen.

Gessler: Gab es denn das bestimmende Thema auf diesem Kirchentag?

Steffensky: Das Thema war: Soviel ihr braucht. Das ist natürlich ein Thema, das nicht aufreißt im Augenblick. Aber es hat natürlich seine Implikation, seine politische. Es ist ja ein Thema, das gerichtet ist gegen unseren Überfluss, dagegen gerichtet, dass wir anderen wegfressen – insofern …, aber es ist nicht das brennende Thema, wie es andere Kirchentage gegeben hat mit politischen Lagen, wo etwas einfach dran war: Friedensbewegungen, Israel – Palästina, Golfkrieg oder was es alles war, das ist nicht der Fall. Es ist ein ruhigerer Kirchentag.

Gessler: Gerade 1981 hier in Hamburg war ja alles bestimmt durch die Nachrüstung. Haben Sie manchmal Sehnsucht nach diesen aufregenden Zeiten?

Steffensky: Ja, ich habe Sehnsucht nach einer gewissen Unruhe in der Kirche überhaupt. Manchmal ist mir das Harmoniebedürfnis, das gewachsene, zu groß. Die Vermeidungsstrategien – ich kann es eigentlich nicht von diesem Kirchentag sagen, es gab viele Gruppen, die die Sichtbarkeit nicht erlangt haben, die eine Merkel-Veranstaltung oder andere erlangt hat, aber viele Gruppen, die an Themen arbeiten.

Ich komme gerade von einer Gruppe, die für Denkmale für Kriegsdienstverweigerer aus dem Ersten Weltkrieg kämpft. Die sind schon sehr politisch, also politische Friedensgruppen, aber das ist auch eine Frage der Medien. Es sind meistens nicht so große Gruppen, und sie werden weniger wahrgenommen. Also dass Frau Merkel besonders beachtet wird, na ja, das hat seine Selbstverständlichkeit in einer gewissen Weise, es hat allerdings auch eine gefährliche mediale Selbstverständlichkeit. Die Medien stürzen sich natürlich auch auf diese Veranstaltungen zuerst.

Gessler: Aber auf der anderen Seite, viele Kirchentagsteilnehmer wollen ja tatsächlich vor allem Frau Merkel sehen, und sie strömen in diese Veranstaltung, sie ist ja manchmal geradezu ein Popstar hier.

Steffensky: Ja, ja. Ich habe ja auch nichts dagegen, wenn Frau Merkel nicht alles andere zudeckt. Ich glaube aber nicht, dass das passiert ist.

Gessler: Hätte es denn eigentlich auf diesem Kirchentag – es wäre ja eine Möglichkeit gewesen angesichts der Tatsache, dass der Kirchentag eben eine Zeitansage war, wie er selber sagt – nicht einen Aufschrei geben müssen für den Süden Europas, also zum Beispiel einen Aufschrei, es müsste ja einen Schuldenerlass geben in Europa für die südlichen Länder?

Steffensky: Es gibt eine ganze Reihe Veranstaltungen zum Süden, zu Afrika natürlich. Afrika interessanterweise mehr als Lateinamerika, das war vorher schon der … aber das ist schon wahr. Schuldenerlass ist übrigens auch ein Thema in Gruppen hier, aber es ist nicht das große Schreithema, das hätte ich schon gewünscht, dass es das ist, ja.

Gessler: Sind denn diese Kirchentage zu sehr geprägt von der bildungsbürgerlichen Mittelschicht?

Steffensky: Das glaube ich eigentlich nicht. Es ist eher der Kirchentag der kleinen Leute, der Jugendlichen – Bildungsbürger sind oft zu fein, da hinzugehen. Sie sind zu fein, Halleluja zu singen oder ich weiß es nicht …

Gessler: … oder auf Isomatten zu schlafen.

Steffensky: Man kann – auf Isomatten zu schlafen –, man kann natürlich sagen, dass die Kirche weithin auch bestimmt ist durch bildungsbürgerliche Interessen. Das ist nicht nur negativ. Bildungsbürger haben auch eine gewisse Liberalität, Themen zu verfolgen, vor denen andere noch Angst haben. Wenn ich zum Beispiel das Thema Ausländer sehe, wie das gerade im Bildungsbürgerlichen Bereich wahrgenommen wird und vorangetrieben wird, vielleicht liegt das natürlich auch daran, dass in den Wohngegenden der Bildungsbürger meistens keine Ausländer leben oder wenig Ausländer. Sie haben es leichter, damit umzugehen.

Gessler: Ja, der Kirchentag – könnte man ja sagen – ist etabliert. Haben Sie manchmal den Eindruck, dass er sich auch reformieren müsste?

Steffensky: Ich weiß es nicht genau, ich bin den alten Kirchentag gewohnt, ich weiß nicht, wie er sich reformieren müsste. Es kann sein, dass er stärker von unten wachsen müsste, also dass die Gruppen von vornherein nicht am Rande stehen, sondern von vornherein mächtigere Foren haben müssen, das wird es schon sein, ja.

Gessler: Müsste er vielleicht auch heißere Themen anpacken, ganz bewusst, müsste er prophetischer sein?

Steffensky: Ja, wenn dieser Kirchentag unprophetisch war, dann hat er seine Zeit vertan. Kirchentage sind ja nicht von oben gemacht, sie werden nicht von Bischöfen geplant, entworfen, obwohl sie einen Einfluss haben, das ist wahr, und Bischöfe auch manchmal versuchen, etwas zu verhindern. Sie haben lange versucht, meine verstorbene Frau vom Kirchentag fernzuhalten, aber er wird nicht von Kirchenleitungen her geplant. Es ist erstaunlich, wie viele Gruppen sich anmelden und dann auch durchkommen. Also wenn man über den Markt der Möglichkeiten gehen, man kann ja nicht sagen, dass es ein vollkommen harmloser Kirchentag ist. Gruppen, sie müssten sich mehr durchsetzen und mehr Plattform finden.

Gessler: Vielen Dank, Professor Steffensky, erst mal, für diesen ersten Teil des Interviews, wir kommen später noch mal zurück zu Ihnen und haben die Möglichkeit, über ihre verstorbene Frau Dorothee Sölle zu reden.

O-Ton

Sie hörten ein Gedicht von Dorothee Sölle in der Sendung "Religionen" von Deutschlandradio Kultur. Wir haben diesen Ausschnitt dem gerade veröffentlichten Dokumentarfilm "Mystik und Widerstand" von Rüdiger Sünner über Dorothee Sölle entnommen. Der großen evangelischen Theologin, die vor zehn Jahren gestorben ist, hat der Kirchentag einen ganzen liturgischen Tag mit vielen Veranstaltungen und Gebeten natürlich gewidmet. Neben mir sitzt der Theologe Fulbert Steffensky, er war lange Jahre mit Dorothee Sölle verheiratet. Eben ist ein Buch von ihm und Dorothee Sölle erneut verlegt worden nach 18 Jahren. Es heißt "Wider den Luxus der Hoffnungslosigkeit". Herr Steffensky, schön, dass wir weiterreden können – wenn Sie das jetzt anhören, dieses Gedicht, was denken Sie über dieses Engelgedicht?

Steffensky: Ich weiß noch, wann sie es geschrieben hat, und das ist natürlich eine Stelle der Wehmut für mich. Es ist ein sehr schönes Gedicht, sie hat fast jeden Abend fast gebetsartig ein Gedicht geschrieben, viel weggeworfen – das war ihre Form zu beten oder ihre Form zu meditieren. Es ist eines der schönen Gedichte – es hat auch Gebrauchsgedichte gegeben von ihr, die am nächsten Tag sozusagen verweht waren wie ein Blatt, aber dieses möchte ich schon behalten.

Gessler: Sind Sie manchmal traurig, dass manche Gedichte einfach nicht erhalten geblieben sind?

Steffensky: Nein, das Vergehen gehört auch dazu. Und wenn mittelmäßige Gedichte irgendwo dann wieder verschwinden, dann verschwinden sie. Ich bin überhaupt kein Aufbewahrer. Meine Frau war auch kein Aufbewahrer-Typ, zum großen Schrecken von Leuten mit großen Dokumentationsinteressen. Nein, Vergängliches soll vergehen und Schönes soll bleiben.

Gessler: Wie das Leben, das vergeht auch.

Steffensky: Ja.

Gessler: Sind Gedichte wie das Leben - oder das Leben wie ein Gedicht?

Steffensky: Ja, wenn man bedenkt, dass es auch schreckliche Gedichte gibt, dann ist es wahr. Aber sie hat …, es ist ganz interessant, dass sie diese Form des Nachdenkens, es sind ja … - sie hat ja nicht an Veröffentlichung dabei gedacht - diese Form des Nachdenkens hat ja etwas mit Schönheit, mit Gebundenheit zu tun. Ich glaube, indem man etwas in ein Gedicht gibt, hat man immer Hoffnung, weil man es in eine Form gibt. Form stiftet immer Hoffnung.

Gessler: Warum ist denn Ihre verstorbene Frau Dorothee Sölle in letzter Zeit so wichtig geworden in der evangelischen Kirche? Haben Sie da eine Erklärung für?

Steffensky: Es gibt ja verschiedene Aufnahmen ihrer Werke. Es gibt die, die mehr an der Mystik interessiert sind, es gibt die politischen, es gibt die Schulbuchtexte und so weiter. Vielleicht gibt es doch relativ wenig Figuren, die ein eigenes Gesicht haben, und sie war ja ein ungewöhnlicher Mensch, weil sie nirgends richtig dazugehörte, und zwar mit Lust nirgends richtig dazugehörte. Sie war den Kirchlichen zu unfromm, sie war den Linken zu fromm, sie war nicht ganz im Feminismus integriert – sie war eine Frau einer wundervollen Widersprüchlichkeit oder einer – ich will nicht sagen Heimatlosigkeit. Doch, sie hatte ein Stück wundervolle Heimatlosigkeit, dass sie nie ganz da war, wo sie war, aber in einem produktiven Sinn. Sie hatte immer Hunger nach mehr. Es kann doch dies nicht alles sein, das war …

Gessler: Aber Heimat hat sie bei Ihnen doch gefunden, nehme ich an?

Steffensky: Sie hat Heimat in vielem gefunden. Sie hat Heimat in Paul Gerhard gefunden. Sie hat Heimat in ihren Chorgruppen gefunden. Sie hat in ihrem Gemeindechor mitgesungen –, es gab eigentlich keinen Abend, wo sie nicht Klavier gespielt hat – Musik war ihr außerordentlich wichtig. Ich will nicht sagen, dass sie besonders gut gespielt hat, wenn es schwieriger wurde, wurde es eben etwas langsamer bei ihr, und dann ging es wieder bergab und etwas schneller. Aber sie war eine Dilettantin in einem sehr guten, sozusagen im Goethe’schen Sinn des Wortes.

Gessler: Sie war ja eine Frau voller Leidenschaften, kann man sagen. Für welche Themen würde sie heute brennen?

Steffensky: Ich habe noch mal nachgeguckt, sie hat irgendwo mal einen Kirchentagsvorschlag nicht offiziell gemacht, sondern sich so aufgeschrieben, und ein Vorschlag war Angst als Thema. Das ist ja auch ein sehr politischer Vorschlag, und es ist ein psychologischer Vorschlag und so weiter. Ich könnte mir vorstellen, dass sie dafür plädiert hätte, wie gehen wir mit unseren Ängsten um, aber ich meine, grundsätzlich Brot, Brot für alle, Recht für alle, Menschenrechtsverletzungen, Flüchtlinge und so weiter, das wären ihre Themen gewesen.

Gessler: Können Sie beschreiben, was ihr Erbe ist?

Steffensky: Ihr Erbe ist etwas zerstückelt, könnte man sagen. Wie gesagt, die eher Frommen haben sich die frommen Texte gewählt, die eher Politischen die politischen Texte. Das ist ja auch gut so, es gibt ja schließlich verschiedene Kinder im Hause Gottes, die Verschiedenes erben. Ich glaube, ihr Erbe ist die Verbindung von gesellschaftlichen Fragen und Religion, von gesellschaftlichen Fragen und Glauben, von Politik und Glauben. Also dass die Empörung, ihre Empörung nicht immer in einem hoffnungslosen Raum steht, sondern sie wollte eigentlich dies immer mit dieser christlichen Tradition verbinden. Kein Tag ohne Gebet und kein Tag ohne Widerstand, das war so ihr Motto.

Gessler: Und denken Sie auch jeden Tag an sie?

Steffensky: Ja, man kann die Toten nicht vergessen. Ich sage es allgemein, weil … ja, ich denke an sie. Das gehört zur Humanität, die Toten nicht zu vergessen, besonders die eigenen. Außerdem ist sie viel zu lebendig, als dass sie einem nicht dauernd in die Quere der Gedanken käme.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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