"Ich habe den Verdacht, dass die Zeugenschaft verblassen wird"
Schon in wenigen Jahren wird es Erinnerungen an den Holocaust aus erster Hand nicht mehr geben. Deshalb hat Martin Doerry 24 Überlebende des Holocaust interviewt. In dem Buch "Nirgendwo und überall zu Haus" schildern sie eindrucksvoll ihre Erfahrungen im Kampf ums Überleben. Die Fotografin Monika Zucht hat die Interviewten porträtiert.
Katja Schlesinger: Erinnerungen an den Holocaust aus erster Hand, schon in wenigen Jahren wird es die nicht mehr geben. Historiker müssen dann erzählen. Aber werden kommende Generationen das Ausmaß der Nazi-Verbrechen fassen können, wenn ihnen kein ehemaliger KZ-Häftling mehr gegenüber sitzt? Was sind Erinnerungen aus zweiter Hand wert? Der jüdische Publizist Ellie Wiesel, der den Holocaust überlebt hat, meint, jeder, der heute einem Zeugen von damals zuhört, wird selbst ein Zeuge sein. Gesagt hat er das dem Historiker und "Spiegel"-Redakteur Martin Doerry, der ihn und 23 andere Überlebende des Holocaust interviewt hat. Die Interviews sind veröffentlicht in dem Buch "Nirgendwo und überall zu Haus". Schönen guten Tag, Martin Doerry.
Martin Doerry: Guten Tag.
Schlesinger: Martin Doerry ist am Telefon. Bei mir im Studio ist Monika Zucht, Sie sind Fotografin und haben für das Buch jeden der Interviewten porträtiert. Ein herzliches Willkommen auch an Sie.
Monika Zucht: Guten Tag.
Schlesinger: Martin Doerry, Sie sind zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geborgen und somit kein Zeuge des Holocaust. Trotzdem schreibt Ellie Wiesel, den Sie über seine Erfahrung während des Holocaust befragt haben, Ihnen nun die Zeugenrolle zu. Wie gehen Sie mit dieser Aufgabe um?
Doerry: Ja, das ist eine schwierige Aufgabe. Und ich muss ehrlich zugeben, dass ich nicht ganz sicher bin, ob Elli Wiesel da Recht hat. Ich fand das sehr beeindruckend, was er in unserem Gespräch gesagt hat, auch den Optimismus, der da in diesen Zeilen zu erkennen ist. Ich selber teile ihn nicht ganz. Ich habe doch den Verdacht, dass im Lauf der Jahre eben diese Zeugenschaft verblassen wird und dass die Menschen eben nur noch aus Sekundärquellen sich über den Holocaust informieren können und dass dann diese Mahnung, die von diesem Ereignis und von der Erinnerung an dieses Ereignis ausgeht, eben auch schwächer werden wird, die Mahnung an uns Menschen, dass so etwas sich nicht wiederholen darf.
Schlesinger: Nun tragen Sie ja mit diesem Buch, in dem Sie Überlebende des Holocaust interviewen, zu dieser Sekundärliteratur bei. Was hat Sie trotzdem angetrieben? Was ist der Grund für dieses Projekt gewesen?
Doerry: Ja, da muss ich einfach zurückgreifen. Ich habe vor vier Jahren ein Buch veröffentlicht über meine Großmutter, die in Auschwitz umgebracht worden ist. "Mein verwundetes Herz" heißt dieses Buch. Und natürlich habe ich mich schon vorher mit diesem Thema, oder diesem ganzen Themenfeld, beschäftigt, aber das war eine sehr intensive Erfahrung, die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte. Und da lag es natürlich nahe, sich auch über solche Schicksale Gedanken zu machen, von Menschen, die eben überlebt haben, anders als meine Großmutter. Und diese Überlebensgeschichten, die habe ich, wenn man so sagen darf, gesammelt, das heißt, ich habe viel gelesen, viel erfahren, viel erfragt und dadurch ein sehr starkes Interesse natürlich an diesen Schicksalen gewonnen. Und damit bin ich zu der Entscheidung gelangt, das muss man eigentlich aufbewahren. Aufbewahren, für viele andere Menschen, für Leser, für Interessenten an diesen Schicksalen.
Schlesinger: Nun haben Sie aber vor allem namhafte Schriftsteller ausgewählt. Ellie Wiesel habe ich schon erwähnt, Imre Kertész ist unter den Interviewten, der Publizist Ralph Giordano zum Beispiel auch. Warum gerade diese Überlebenden, die ja oft schon selbst über ihre Erlebnisse berichtet haben. Warum nicht Leute, die man überhaupt gar nicht kennt?
Doerry: Na, es sind einige dabei, die man tatsächlich nicht kennt. Ich glaube zum Beispiel Oldrich Stranski in Prag, der ist den meisten Lesern nicht bekannt. Und das ist eine faszinierende Figur. Jemand, der auch durch die Hölle fast aller bekannten Lager gegangen ist, sie überlebt hat und sehr eindrucksvoll Zeugnis ablegt. Also es sind auch einige Unbekannte dabei. Aber es stimmt, es sind eine Reihe prominenter Überlebender dabei und ich glaube, dass das einfach hilfreich ist für den Leser, also wenn er den Namen schon mal gehört hat, dann ist Interesse vielleicht auch da, vielleicht etwas größer. Die Mischung, glaube ich, ist gut und richtig. Natürlich ging es auch darum, Menschen zu finden, die sich besonders gut ausdrücken können. Die also ihre Zeugenschaft auch verbal gut artikulieren können und das ist naturgemäß bei Schriftstellern der Fall.
Schlesinger: Monika Zucht, Sie haben die interviewten Überlebenden fotografiert. Hat Ihnen Martin Doerry da völlig freie Hand eigentlich gelassen?
Zucht: Ja, das hat er. Er hat mir freie Hand gelassen.
Schlesinger: Und wie war das, waren Sie bei den Interviews, die Martin Doerry geführt hat, immer mit dabei, oder sind Sie unabhängig von den Interviews zu den Interviewten gefahren und haben Sie dann fotografiert und haben die Persönlichkeiten einfach auf sich wirken lassen? Also wie sind sie vorgegangen?
Zucht: Es gab beides. Es gab viele Fälle, in denen wir gemeinsam gearbeitet haben. Und ich durfte bei den Interviews dabei sein. Das war sehr schön, Martin Doerry hat es mir gestattet. Er wiederum durfte bei meinen Fotos nicht dabei sein, weil ich die Aufmerksamkeit auf zwei Leute begrenzen wollte, was eine Intensität beim Fotografieren gibt, die sonst nicht möglich ist. Und wir haben einige Dinge auch getrennt voneinander gemacht. Gespräche, die schon geführt waren, andere, die wir aus zeitlichen Gründen nicht gemeinsam machen konnten.
Schlesinger: Das braucht ja immer Zeit, wenn man jemanden fotografiert, dass sich der Fotografierte öffnet. Wie sind Sie vorgegangen, haben Sie auch dann, wenn Sie unabhängig von Martin Doerry zu den Interviewten gefahren sind, mit denen lange Gespräche geführt, bevor Sie dann die Kamera ausgepackt haben? Wie war das?
Zucht: Ja selbstverständlich, natürlich habe ich mich vorbereitet. Ich habe, da fast alle publiziert haben, natürlich gelesen und ich wollte wissen, mit wem ich spreche und wen ich fotografiere. Weil ich glaube, was ich nicht weiß, das sehe ich auch nicht und dann sieht es möglicherweise meine Kamera auch nicht. Das möchte ich nicht. Und natürlich hat es Gespräche gegeben und häufig genug haben wir sehr viel mehr Zeit verbraucht, um Gespräche zu führen, als zum eigentlichen Fotografieren. Zum Schluss haben wir dann gesagt, eigentlich wollten wir auch noch Fotos machen. Das haben wir dann getan.
Schlesinger: Was mir aufgefallen ist bei diesen Fotos, viele strahlen eine Zuversicht aus. Es gibt Fotos, auf denen die verschiedenen Leute lachen. Nur auf einem einzigen Foto, das von Oldrich Stranski, dem Interviewten aus Prag, ist die eintätowierte Häftlings-KZ-Nummer zu sehen. Ansonsten sind das schöne, ältere Menschen, denen man das Leid auf den ersten Blick nicht ansieht. War das so geplant?
Zucht: Nein, natürlich war das nicht geplant. Das kann man nicht planen. Man kann keinen Plan haben. Wenn man diesen Menschen begegnet und über Ihre Geschichte spricht, kann man keinen Plan haben. Ich fotografiere sie so oder so. Es verbietet sich in der Richtung ein Konzept. Es passiert was passiert. Aber zum Beispiel bei Frau Sassoon, sie war elf Jahre, als man sie von der Schule abgeholt hat und ist dann durch die Hölle gegangen. Und ich sagte zu ihr, sie waren sehr jung. Sagt sie, oh no, it´s now that I´m young. Und es ist ein sehr junges Foto. So passieren die Dinge.
Schlesinger: Martin Doerry, hat Sie das überrascht, diese oft glücklichen Fotos?
Doerry: Nein, überrascht hat es mich nicht, denn ich hab schon viel mit Überlebenden auch zu tun gehabt und habe immer wieder festgestellt, dass das Menschen sind, die auf eine erstaunliche Weise eine innere Ruhe an den Tag legen. Und das strahlen diese Fotos auch aus. Die sind, wie Frau Zucht sagt, durch die Hölle gegangen und haben nun Jahrzehnte gebraucht, um diese Ruhe zu finden, und nun ist sie auch da. Und ich finde es sehr, sehr schön, dass es Frau Zucht gelungen ist, diesen Menschen auf diesen Fotos auch, ich will nicht sagen, ihre Würde wiederzugeben, das ist sicherlich schon vorher geschehen, aber jedenfalls ist ihnen ihre Würde weggenommen worden in diesen schrecklichen Jahren und in diesen Fotos sind das Menschen, die sehr ausgeglichen, sehr eindrucksvoll in die Kamera schauen und den Betrachtern einen enormen Eindruck verschaffen.
Schlesinger: Über längere Zeit haben sie sich ja nun trotzdem mit diesem Grauen befasst, haben sich von den Überlebenden des Holocaust erzählen lassen. Gab es einen Punkt, wo Sie nicht mehr konnten?
Doerry: Nein, so ist das nicht, denn die Menschen erzählen ja nicht nur von dieser schrecklichen Zeit, sondern sie erzählen auch von der Zeit davor, von häufig schönen Kinderjahren und von der Zeit danach, vom beruflichen Aufstieg, von den beruflichen Erfahrungen. Das sind Menschen, die haben eigentlich viele Facetten und insofern ist das Grauen natürlich das ihr Leben dominierende, das kann man nicht bestreiten, aber es gibt glücklicherweise auch andere Inhalte in den Lebensläufen und insofern gibt es dann schon ein gemischtes Bild.
Schlesinger: Nun ist das ja so eine Sache mit dem Erinnern. Verlässlich ist die Erinnerung auf keinen Fall. Wie gehen Sie und wie gehen die Überlebenden damit um?
Doerry: Ich habe den Eindruck, dass die meisten Überlebenden glauben, sie würden sich sehr exakt erinnern. Und in diesem Glauben muss man sie ja auch lassen. Aber wenn man diese Gespräche liest, wird man schon hin und wieder den Eindruck haben, na, da lassen sich Fantasie und Realität wahrscheinlich nicht mehr ganz von einander trennen. Ich finde das nicht schlimm. Ich finde das überhaupt nicht schlimm, weil diese Erfahrungen so intensiv, so traumatisch waren, die diese Menschen eben machen mussten, dass das ganz natürlich ist, dass da Verwischungen und Fantasieelemente hinzukommen. Ich glaube, die Authentizität dessen, was diese Menschen berichten, wird dadurch überhaupt nicht beschädigt, sondern die Tatsache, dass diese schrecklichen Erfahrungen dazu geführt haben, dass eben auch Traumgebilde in diesen Erinnerungen auftauchen, ist jedem einleuchtend.
Schlesinger: Martin Doerry und Monika Zucht, Autor und Fotografin des Buches "Nirgendwo und überall zu Haus". Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch. Und für alle, die in Berlin oder im Berliner Umland wohnen, das Buch wird heute Abend im Berliner Will-Brandt-Haus vorgestellt. Einige der Interviewten werden dann auch anwesend sein und es wird eine Ausstellung eröffnet mit den Portraits von Monika Zucht. Vielen Dank.
Martin Doerry: Guten Tag.
Schlesinger: Martin Doerry ist am Telefon. Bei mir im Studio ist Monika Zucht, Sie sind Fotografin und haben für das Buch jeden der Interviewten porträtiert. Ein herzliches Willkommen auch an Sie.
Monika Zucht: Guten Tag.
Schlesinger: Martin Doerry, Sie sind zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geborgen und somit kein Zeuge des Holocaust. Trotzdem schreibt Ellie Wiesel, den Sie über seine Erfahrung während des Holocaust befragt haben, Ihnen nun die Zeugenrolle zu. Wie gehen Sie mit dieser Aufgabe um?
Doerry: Ja, das ist eine schwierige Aufgabe. Und ich muss ehrlich zugeben, dass ich nicht ganz sicher bin, ob Elli Wiesel da Recht hat. Ich fand das sehr beeindruckend, was er in unserem Gespräch gesagt hat, auch den Optimismus, der da in diesen Zeilen zu erkennen ist. Ich selber teile ihn nicht ganz. Ich habe doch den Verdacht, dass im Lauf der Jahre eben diese Zeugenschaft verblassen wird und dass die Menschen eben nur noch aus Sekundärquellen sich über den Holocaust informieren können und dass dann diese Mahnung, die von diesem Ereignis und von der Erinnerung an dieses Ereignis ausgeht, eben auch schwächer werden wird, die Mahnung an uns Menschen, dass so etwas sich nicht wiederholen darf.
Schlesinger: Nun tragen Sie ja mit diesem Buch, in dem Sie Überlebende des Holocaust interviewen, zu dieser Sekundärliteratur bei. Was hat Sie trotzdem angetrieben? Was ist der Grund für dieses Projekt gewesen?
Doerry: Ja, da muss ich einfach zurückgreifen. Ich habe vor vier Jahren ein Buch veröffentlicht über meine Großmutter, die in Auschwitz umgebracht worden ist. "Mein verwundetes Herz" heißt dieses Buch. Und natürlich habe ich mich schon vorher mit diesem Thema, oder diesem ganzen Themenfeld, beschäftigt, aber das war eine sehr intensive Erfahrung, die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte. Und da lag es natürlich nahe, sich auch über solche Schicksale Gedanken zu machen, von Menschen, die eben überlebt haben, anders als meine Großmutter. Und diese Überlebensgeschichten, die habe ich, wenn man so sagen darf, gesammelt, das heißt, ich habe viel gelesen, viel erfahren, viel erfragt und dadurch ein sehr starkes Interesse natürlich an diesen Schicksalen gewonnen. Und damit bin ich zu der Entscheidung gelangt, das muss man eigentlich aufbewahren. Aufbewahren, für viele andere Menschen, für Leser, für Interessenten an diesen Schicksalen.
Schlesinger: Nun haben Sie aber vor allem namhafte Schriftsteller ausgewählt. Ellie Wiesel habe ich schon erwähnt, Imre Kertész ist unter den Interviewten, der Publizist Ralph Giordano zum Beispiel auch. Warum gerade diese Überlebenden, die ja oft schon selbst über ihre Erlebnisse berichtet haben. Warum nicht Leute, die man überhaupt gar nicht kennt?
Doerry: Na, es sind einige dabei, die man tatsächlich nicht kennt. Ich glaube zum Beispiel Oldrich Stranski in Prag, der ist den meisten Lesern nicht bekannt. Und das ist eine faszinierende Figur. Jemand, der auch durch die Hölle fast aller bekannten Lager gegangen ist, sie überlebt hat und sehr eindrucksvoll Zeugnis ablegt. Also es sind auch einige Unbekannte dabei. Aber es stimmt, es sind eine Reihe prominenter Überlebender dabei und ich glaube, dass das einfach hilfreich ist für den Leser, also wenn er den Namen schon mal gehört hat, dann ist Interesse vielleicht auch da, vielleicht etwas größer. Die Mischung, glaube ich, ist gut und richtig. Natürlich ging es auch darum, Menschen zu finden, die sich besonders gut ausdrücken können. Die also ihre Zeugenschaft auch verbal gut artikulieren können und das ist naturgemäß bei Schriftstellern der Fall.
Schlesinger: Monika Zucht, Sie haben die interviewten Überlebenden fotografiert. Hat Ihnen Martin Doerry da völlig freie Hand eigentlich gelassen?
Zucht: Ja, das hat er. Er hat mir freie Hand gelassen.
Schlesinger: Und wie war das, waren Sie bei den Interviews, die Martin Doerry geführt hat, immer mit dabei, oder sind Sie unabhängig von den Interviews zu den Interviewten gefahren und haben Sie dann fotografiert und haben die Persönlichkeiten einfach auf sich wirken lassen? Also wie sind sie vorgegangen?
Zucht: Es gab beides. Es gab viele Fälle, in denen wir gemeinsam gearbeitet haben. Und ich durfte bei den Interviews dabei sein. Das war sehr schön, Martin Doerry hat es mir gestattet. Er wiederum durfte bei meinen Fotos nicht dabei sein, weil ich die Aufmerksamkeit auf zwei Leute begrenzen wollte, was eine Intensität beim Fotografieren gibt, die sonst nicht möglich ist. Und wir haben einige Dinge auch getrennt voneinander gemacht. Gespräche, die schon geführt waren, andere, die wir aus zeitlichen Gründen nicht gemeinsam machen konnten.
Schlesinger: Das braucht ja immer Zeit, wenn man jemanden fotografiert, dass sich der Fotografierte öffnet. Wie sind Sie vorgegangen, haben Sie auch dann, wenn Sie unabhängig von Martin Doerry zu den Interviewten gefahren sind, mit denen lange Gespräche geführt, bevor Sie dann die Kamera ausgepackt haben? Wie war das?
Zucht: Ja selbstverständlich, natürlich habe ich mich vorbereitet. Ich habe, da fast alle publiziert haben, natürlich gelesen und ich wollte wissen, mit wem ich spreche und wen ich fotografiere. Weil ich glaube, was ich nicht weiß, das sehe ich auch nicht und dann sieht es möglicherweise meine Kamera auch nicht. Das möchte ich nicht. Und natürlich hat es Gespräche gegeben und häufig genug haben wir sehr viel mehr Zeit verbraucht, um Gespräche zu führen, als zum eigentlichen Fotografieren. Zum Schluss haben wir dann gesagt, eigentlich wollten wir auch noch Fotos machen. Das haben wir dann getan.
Schlesinger: Was mir aufgefallen ist bei diesen Fotos, viele strahlen eine Zuversicht aus. Es gibt Fotos, auf denen die verschiedenen Leute lachen. Nur auf einem einzigen Foto, das von Oldrich Stranski, dem Interviewten aus Prag, ist die eintätowierte Häftlings-KZ-Nummer zu sehen. Ansonsten sind das schöne, ältere Menschen, denen man das Leid auf den ersten Blick nicht ansieht. War das so geplant?
Zucht: Nein, natürlich war das nicht geplant. Das kann man nicht planen. Man kann keinen Plan haben. Wenn man diesen Menschen begegnet und über Ihre Geschichte spricht, kann man keinen Plan haben. Ich fotografiere sie so oder so. Es verbietet sich in der Richtung ein Konzept. Es passiert was passiert. Aber zum Beispiel bei Frau Sassoon, sie war elf Jahre, als man sie von der Schule abgeholt hat und ist dann durch die Hölle gegangen. Und ich sagte zu ihr, sie waren sehr jung. Sagt sie, oh no, it´s now that I´m young. Und es ist ein sehr junges Foto. So passieren die Dinge.
Schlesinger: Martin Doerry, hat Sie das überrascht, diese oft glücklichen Fotos?
Doerry: Nein, überrascht hat es mich nicht, denn ich hab schon viel mit Überlebenden auch zu tun gehabt und habe immer wieder festgestellt, dass das Menschen sind, die auf eine erstaunliche Weise eine innere Ruhe an den Tag legen. Und das strahlen diese Fotos auch aus. Die sind, wie Frau Zucht sagt, durch die Hölle gegangen und haben nun Jahrzehnte gebraucht, um diese Ruhe zu finden, und nun ist sie auch da. Und ich finde es sehr, sehr schön, dass es Frau Zucht gelungen ist, diesen Menschen auf diesen Fotos auch, ich will nicht sagen, ihre Würde wiederzugeben, das ist sicherlich schon vorher geschehen, aber jedenfalls ist ihnen ihre Würde weggenommen worden in diesen schrecklichen Jahren und in diesen Fotos sind das Menschen, die sehr ausgeglichen, sehr eindrucksvoll in die Kamera schauen und den Betrachtern einen enormen Eindruck verschaffen.
Schlesinger: Über längere Zeit haben sie sich ja nun trotzdem mit diesem Grauen befasst, haben sich von den Überlebenden des Holocaust erzählen lassen. Gab es einen Punkt, wo Sie nicht mehr konnten?
Doerry: Nein, so ist das nicht, denn die Menschen erzählen ja nicht nur von dieser schrecklichen Zeit, sondern sie erzählen auch von der Zeit davor, von häufig schönen Kinderjahren und von der Zeit danach, vom beruflichen Aufstieg, von den beruflichen Erfahrungen. Das sind Menschen, die haben eigentlich viele Facetten und insofern ist das Grauen natürlich das ihr Leben dominierende, das kann man nicht bestreiten, aber es gibt glücklicherweise auch andere Inhalte in den Lebensläufen und insofern gibt es dann schon ein gemischtes Bild.
Schlesinger: Nun ist das ja so eine Sache mit dem Erinnern. Verlässlich ist die Erinnerung auf keinen Fall. Wie gehen Sie und wie gehen die Überlebenden damit um?
Doerry: Ich habe den Eindruck, dass die meisten Überlebenden glauben, sie würden sich sehr exakt erinnern. Und in diesem Glauben muss man sie ja auch lassen. Aber wenn man diese Gespräche liest, wird man schon hin und wieder den Eindruck haben, na, da lassen sich Fantasie und Realität wahrscheinlich nicht mehr ganz von einander trennen. Ich finde das nicht schlimm. Ich finde das überhaupt nicht schlimm, weil diese Erfahrungen so intensiv, so traumatisch waren, die diese Menschen eben machen mussten, dass das ganz natürlich ist, dass da Verwischungen und Fantasieelemente hinzukommen. Ich glaube, die Authentizität dessen, was diese Menschen berichten, wird dadurch überhaupt nicht beschädigt, sondern die Tatsache, dass diese schrecklichen Erfahrungen dazu geführt haben, dass eben auch Traumgebilde in diesen Erinnerungen auftauchen, ist jedem einleuchtend.
Schlesinger: Martin Doerry und Monika Zucht, Autor und Fotografin des Buches "Nirgendwo und überall zu Haus". Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch. Und für alle, die in Berlin oder im Berliner Umland wohnen, das Buch wird heute Abend im Berliner Will-Brandt-Haus vorgestellt. Einige der Interviewten werden dann auch anwesend sein und es wird eine Ausstellung eröffnet mit den Portraits von Monika Zucht. Vielen Dank.