Reflektierte Gespräche über das Unsagbare
Der Historiker Martin Doerry hat für sein Buch Interviews mit 24 Persönlichkeiten geführt, die den Holocaust überlebt haben. Ihr gemeinsames Schicksal waren Emigration, Lager- oder Ghettohaft während des Nationalsozialismus. Im Gespräch mit dem stellvertretenden Spiegel-Chefredakteur geben sie sprachgewandt und refelektiert Einblick in ihr Leben und Überleben.
Martin Doerry, Jahrgang 1955, stellvertretender Spiegel-Chefredakteur, publiziert eine Sammlung von Zeitzeugen-Interviews. "Nirgendwo und überall zu Haus", eine Selbstcharakterisierung des Historikers Saul Friedländer, ist der Titel, unter dem Doerry vierundzwanzig Persönlichkeiten zu Wort kommen lässt.
Die meisten von ihnen sind Schriftsteller, Geisteswissenschaftler, Publizisten. Sie stammen aus verschiedenen Ländern Europas. Männer und Frauen, die den Holocaust als Kinder oder junge Erwachsene erlebten. Meist in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geboren, vielfach ohne Bindung ans Judentum aufgewachsen. Die ältesten bereits über neunzig Jahre alt, der Berliner Kunsthändler und Sammler Heinz Berggruen und die große Dame der Deutsch-Prager Literatur, die Schriftstellerin Lenka Reinerová.
Im Gespräch mit dem Nachgeborenen Martin Doerry berichten sie von ihren Erlebnissen während des Holocaust und reflektieren dessen Auswirkung auf ihr späteres Leben. Heute hochbetagt, gehören sie zu den wenigen Menschen, die noch persönlich über jene Zeit Auskunft geben können.
"Die volle, uneingeschränkte Wahrheit kennen nur jene, die in den Gaskammern gestorben sind."
Das erklärt der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész. So ist jedem Gespräch über den Holocaust, selbst bei äußerstem Faktenwissen, ein zumindest moralisches Limit eingeschrieben.
Doch Doerry thematisiert nicht die Schwierigkeit über den Holocaust zu sprechen. Er will Lebensgeschichten aufheben. Das Bedürfnis, Erinnerung zu bewahren, Zeuge der Zeugen zu werden, motivierte Martin Doerry, dieses Buch zu machen.
Er traf seine Interviewpartner vorwiegend in den zurückliegenden eineinhalb Jahren. Mehrere der Gespräche erschienen bereits einzeln im Spiegel. In etlichen Fällen wurden sie mithilfe von Co-Autoren aus der Spiegel-Redaktion aufgezeichnet.
Im Buch wird die vorliegende Interviewsammlung durch sechzig Porträtfotos der Fotografin Monika Zucht ergänzt. Alle Porträtierten, bei Unterschiedlichkeit einzelner Lebenswege haben gemeinsame Schicksalskoordinaten: Emigration, Lager- oder Ghettohaft, das Leben in der Illegalität, im Versteck oder unter falscher Identität. Alle waren Opfer rassischer Verfolgung und allen gelang es zu überleben.
"Fast jeder Überlebende hat seinen Zufall gehabt, der ihn überleben ließ."
So bringt es die Germanistin Ruth Klüger auf den Punkt.
Die Auswahl der Gesprächspartner folge keiner strengen Systematik, erklärt Doerry in seiner Einleitung. Doch zwischen den Buchdeckeln werden sie zur Gemeinschaft, zur Gruppe der "Überlebenden". Viele erwähnen das Gefühl der Heimatlosigkeit, die Scham, überlebt zu haben, den Wunsch, das Geschehene zu bezeugen.
Auffällig: Die maßvolle Haltung Deutschen und Deutschland gegenüber. Das Erlittene, so die meisten, wollen sie nicht vergessen, aber Hass auf Deutschland ist ihnen ausgesprochen fremd.
Im Gespräch mit dem Historiker Arno Lustiger und dessen Tochter Gila wird der Nukleus von Doerrys Buch sichtbar: Es wird die Problematik des Begriffes "Überlebender" thematisiert. Lustiger selbst bekennt, damit kein Problem zu haben. Das im Begriff enthaltene Glück überlagere alles Negative. Seine Tochter wendet ein, mit dieser Bezeichnung wäre der Mensch auf einen einzigen historischen Moment festgelegt, sein ganzes Leben, davor und danach, sei weggewischt.
Martin Doerry fragt zurückhaltend und uneitel. Er lässt tatsächlich Geschichte selbst zu Wort kommen, bei aller Skepsis bezüglich der Verlässlichkeit von Erinnerungen. Da er hauptsächlich wortmächtige und reflektierte Gesprächspartner ausgewählt hat, weisen die Interviews vom Persönlichen ins Historische.
Neues jedoch bringt das Buch nicht. Viele der Geschichten sind von den Gesprächspartnern bereits an anderer Stelle in literarisierter Form erzählt worden. Dennoch berühren diese Geschichten immer wieder. Denn sie machen deutlich, dass der Holocaust nicht 1945 endet. Ein Leben nach dem Holocaust ist immer auch ein Leben mit dem Holocaust, für Überlebende und auch Nachgeborene. Darüber hinaus zeigen die Fotos im Buch sehr dezent eine neue Perspektive auf "die Überlebenden": souveräne, zufriedene, ernste, auch lachende Persönlichkeiten. Keine Opfer.
Martin Doerry: Nirgendwo und überall zu Haus. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust
Fotografien von Monika Zucht
Deutsche Verlags-Anstalt, München, 2006
263 Seiten, 39,90 Euro
Die meisten von ihnen sind Schriftsteller, Geisteswissenschaftler, Publizisten. Sie stammen aus verschiedenen Ländern Europas. Männer und Frauen, die den Holocaust als Kinder oder junge Erwachsene erlebten. Meist in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geboren, vielfach ohne Bindung ans Judentum aufgewachsen. Die ältesten bereits über neunzig Jahre alt, der Berliner Kunsthändler und Sammler Heinz Berggruen und die große Dame der Deutsch-Prager Literatur, die Schriftstellerin Lenka Reinerová.
Im Gespräch mit dem Nachgeborenen Martin Doerry berichten sie von ihren Erlebnissen während des Holocaust und reflektieren dessen Auswirkung auf ihr späteres Leben. Heute hochbetagt, gehören sie zu den wenigen Menschen, die noch persönlich über jene Zeit Auskunft geben können.
"Die volle, uneingeschränkte Wahrheit kennen nur jene, die in den Gaskammern gestorben sind."
Das erklärt der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész. So ist jedem Gespräch über den Holocaust, selbst bei äußerstem Faktenwissen, ein zumindest moralisches Limit eingeschrieben.
Doch Doerry thematisiert nicht die Schwierigkeit über den Holocaust zu sprechen. Er will Lebensgeschichten aufheben. Das Bedürfnis, Erinnerung zu bewahren, Zeuge der Zeugen zu werden, motivierte Martin Doerry, dieses Buch zu machen.
Er traf seine Interviewpartner vorwiegend in den zurückliegenden eineinhalb Jahren. Mehrere der Gespräche erschienen bereits einzeln im Spiegel. In etlichen Fällen wurden sie mithilfe von Co-Autoren aus der Spiegel-Redaktion aufgezeichnet.
Im Buch wird die vorliegende Interviewsammlung durch sechzig Porträtfotos der Fotografin Monika Zucht ergänzt. Alle Porträtierten, bei Unterschiedlichkeit einzelner Lebenswege haben gemeinsame Schicksalskoordinaten: Emigration, Lager- oder Ghettohaft, das Leben in der Illegalität, im Versteck oder unter falscher Identität. Alle waren Opfer rassischer Verfolgung und allen gelang es zu überleben.
"Fast jeder Überlebende hat seinen Zufall gehabt, der ihn überleben ließ."
So bringt es die Germanistin Ruth Klüger auf den Punkt.
Die Auswahl der Gesprächspartner folge keiner strengen Systematik, erklärt Doerry in seiner Einleitung. Doch zwischen den Buchdeckeln werden sie zur Gemeinschaft, zur Gruppe der "Überlebenden". Viele erwähnen das Gefühl der Heimatlosigkeit, die Scham, überlebt zu haben, den Wunsch, das Geschehene zu bezeugen.
Auffällig: Die maßvolle Haltung Deutschen und Deutschland gegenüber. Das Erlittene, so die meisten, wollen sie nicht vergessen, aber Hass auf Deutschland ist ihnen ausgesprochen fremd.
Im Gespräch mit dem Historiker Arno Lustiger und dessen Tochter Gila wird der Nukleus von Doerrys Buch sichtbar: Es wird die Problematik des Begriffes "Überlebender" thematisiert. Lustiger selbst bekennt, damit kein Problem zu haben. Das im Begriff enthaltene Glück überlagere alles Negative. Seine Tochter wendet ein, mit dieser Bezeichnung wäre der Mensch auf einen einzigen historischen Moment festgelegt, sein ganzes Leben, davor und danach, sei weggewischt.
Martin Doerry fragt zurückhaltend und uneitel. Er lässt tatsächlich Geschichte selbst zu Wort kommen, bei aller Skepsis bezüglich der Verlässlichkeit von Erinnerungen. Da er hauptsächlich wortmächtige und reflektierte Gesprächspartner ausgewählt hat, weisen die Interviews vom Persönlichen ins Historische.
Neues jedoch bringt das Buch nicht. Viele der Geschichten sind von den Gesprächspartnern bereits an anderer Stelle in literarisierter Form erzählt worden. Dennoch berühren diese Geschichten immer wieder. Denn sie machen deutlich, dass der Holocaust nicht 1945 endet. Ein Leben nach dem Holocaust ist immer auch ein Leben mit dem Holocaust, für Überlebende und auch Nachgeborene. Darüber hinaus zeigen die Fotos im Buch sehr dezent eine neue Perspektive auf "die Überlebenden": souveräne, zufriedene, ernste, auch lachende Persönlichkeiten. Keine Opfer.
Martin Doerry: Nirgendwo und überall zu Haus. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust
Fotografien von Monika Zucht
Deutsche Verlags-Anstalt, München, 2006
263 Seiten, 39,90 Euro