Howard Eiland und Michael W. Jennings: „Walter Benjamin. Eine Biographie“

Ein Denker und sein Umfeld

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Collage mit dem Cover der Biografie über Walter Benjamin, im Hintergrund ein orange-gelbes Aquarell.
Versteht sich als Standardwerk: Die Biografie von Howard Eiland und Michael W. Jennings. © Suhrkamp Verlag / Deutschlandradio
Von Michael Opitz · 08.10.2020
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Der Konflikt mit seinen Eltern, sein Verhältnis zu Frauen oder seine Spaziergänge durch Paris: Die monumentale Biografie der Literaturwissenschaftler Howard Eiland und Michael W. Jennings beleuchtet das Leben des großen Philosophen Walter Benjamin.
An Biografien, die sich mit dem Leben und Werk des Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaftlers Walter Benjamin befassen, herrscht hierzulande kein Mangel. Man hat die Wahl zwischen einer knapp einhundertfünfzigseitigen Bildbiografie von Bernd Witte (1985) und einer opulenten, mehr als tausend Seiten umfassenden, allerdings unvollendet gebliebenen biografischen Werkmonografie von Jean-Michel Palmier (2009). Neueren Datums ist Lorenz Jägers glänzend geschriebenes, 2017 veröffentlichtes Werk über den 1892 in Berlin geborenen jüdischen Intellektuellen.
In einem biografisch unerschlossenen Niemandsland erscheint die von Howard Eiland und Michel W. Jennings vorgelegte und vom Verlag als "definitive Biographie" des "polyzentrischen Denkers" und "brillanten Schriftstellers" angekündigte Buch also nicht.
Der Philosoph und Schriftsteller Walter Benjamin auf einer Schwarz-Weiß-Aufnahme.
Vordenker: Der Philosoph und Schriftsteller Walter Benjamin. © picture alliance / Leemage
Unabhängig von den bereits vorliegenden acht Biografien, es könnten mehr sein, kann man sich selbst auf die Spurensuche begeben, wobei eine abgeschlossene Werkausgabe ebenso zur Verfügung steht wie ein Walter Benjamin-Handbuch, auch eine mehrbändige Ausgabe seiner Briefe ist verfügbar.
Kontinuierlich ist seit der von Theodor W. Adorno vorgelegten ersten Ausgabe seiner Schriften (1955) zu Benjamins Leben und Werk geforscht und publiziert worden. Das Interesse an seiner Person und an seinen Texten ist seit Jahrzehnten ungebrochen. Seit 2008 erscheint im Suhrkamp Verlag die historisch-kritische Walter-Benjamin-Gesamtausgabe.

Umfassende Detailarbeit

Angesichts dieses Materialkontextes darf gefragt werden, was den Neuwert der Biografie von Eiland und Jennings ausmacht. Zunächst, dass die gerade im Entstehen begriffene Benjamin-Ausgabe keine Berücksichtigung fand, zum Teil auch nicht finden konnte. Das monumentale Werk der beiden amerikanischen Literaturwissenschaftler informiert umfassend über Benjamins Leben und über sein oft unter widrigen Umständen entstandenes Werk.
In dieser Hinsicht ist sie bemerkenswert. Zur Sprache kommen viele Details, etwa Benjamins in seinen Jugendjahren prägende Beziehung zu Gustav Wyneken, der Dauerkonflikt mit seinen Eltern, seine Reiselust, sein Verhältnis zu Frauen oder die Spaziergänge durch Paris, die er 1927 gemeinsam mit Franz Hessel unternommen hat.
Eiland/Jennings haben für diese Lebenschronik akribisch Material gesammelt, sodass einzelne biografische Sequenzen nun in einer überzeugenden Synthese präsentiert werden können. Ausführlicher, dies muss uneingeschränkt festgestellt werden, kann man sich über Benjamins Leben zurzeit nicht informieren, denn neben der biografischen Rekonstruktion werden die wichtigsten Schriften Benjamins auch interpretiert.
Erwähnt werden muss aber auch, dass die Autoren sich mit den nicht leicht verständlichen frühen Texte Benjamins (etwa seine Spracharbeiten oder das Trauerspielbuch) zu akademisch auseinandersetzen, was nicht eben zur Verständlichkeit beiträgt.

Ein Gefühl für Dauer

Spektakuläre Neuentdeckungen präsentiert die Biografie nicht. Aber einem interessierten Lesepublikum wird zur Verfügung gestellt, was an Faktischem zu Benjamins Leben derzeit bekannt ist. Die elf Kapitel sind chronologisch geordnet. Das Buch beginnt mit Benjamins in Berlin verlebter Kindheit und endet mit seinem Selbstmord am 26. September 1940 in Port Bou.
Das Grab Walter Benjamins auf dem Friedhof in Port Bou.
Letzte Ruhe mit Aussicht: Das Grab Walter Benjamins auf dem Friedhof in Port Bou. © picture alliance / akg / Cordia Schlegelmilc
Ein unbedingter Vorteil dieser umfangreichen Biografie ist, dass sie dem Leser ein Gefühl für Zeitverläufe und Dauer zu veranschaulichen weiß. Unglaublich lange hat Benjamin bei seinen Eltern gewohnt. Auch ist er als verheirateter Mann häufig allein verreist und dann so lange wie nur irgend möglich in der Fremde geblieben.
Wer möglichst viel über Benjamin und sein Umfeld erfahren will, wer engste Vertraute und nahe Bekannte in ihren Beziehungen zu diesem bemerkenswerten und überaus anregenden Autor kennenlernen will, dem wird diese Großbiografie eine unverzichtbare Hilfe sein. Sie wäre, mit einem Lesebändchen und einer Chronik ausgestattet, noch benutzerfreundlicher ausgefallen.

Howard Eiland und Michael W. Jennings: "Walter Benjamin. Eine Biographie"
Aus dem Englischen von Ulrich Fries und Irmgard Müller
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
1020 Seiten, 58 Euro

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