Hormonforschung

Wie die geheimen Drahtzieher des Körpers entdeckt wurden

Lage der menschlichen Nieren und Nebennieren (Glandula adrenalis) in einer anatomischen Illustration
Lage der menschlichen Nieren mit den Nebennieren: Hier wird Adrenalin gebildet, das erste Hormon, dessen Struktur bestimmt wurde. © imago / Science Photo Library
Von Jennifer Rieger · 27.09.2018
Körpertemperatur, Stressreaktionen, Verdauung und sogar die Psyche: Ohne biochemische Botenstoffe läuft im menschlichen Körper nichts. Ein Streifzug durch die Welt der Hormone - und die aufregende Geschichte ihrer Erforschung.
Wenn Sie eine Superkraft haben könnten, welche wäre es? Fliegen, sich unsichtbar machen? Wie wäre es mit: Hormone kontrollieren?
Helmut Schatz: "Die Endokrinologie ist eine faszinierende Disziplin, weil sie in alle oder sehr, sehr viele Funktionen und Zustände des Körpers eingreift."
Sasa Skutnik: "Oh, this is the girl that has both! Guess which autoimmune diseases she has! Look at her!"
Helmut Schatz: "Sie ist sehr vielschichtig, sie ist schwer zu durchschauen, weil manche Krankheiten extrem selten sind und das braucht ein langes Berufsleben, damit man genügend von den seltenen Fällen gesehen hat."
Heiko Stoff: "Man merkt dann, dass es sich dabei wirklich um ganz zentrale, ja, kleine, unsichtbare Substanzen handelt, von denen man im 19. Jahrhundert überhaupt nicht ahnte, dass es so etwas geben könne. Denen aber eine ganz große Bedeutung zukommt, weil sich darüber durchaus auch der einzelne Körper ... man muss sogar sagen nicht nur der einzelne Körper, sondern der Kollektivkörper manipulieren, verbessern lässt, optimieren lässt.

Doctor Hormone - ein Comic-Held mit Superkraft

So merkwürdig es klingt, für kurze Zeit gab es tatsächlich einen Comic-Helden, dessen Superkraft darin bestand, dass er Hormone zu seinen Zwecken einsetzen konnte: Die Abenteuer des Doctor Hormone erschienen in den 1940er-Jahren bei Dell Comics, ein frühes Werk des Cartoonisten Robert Bugg.
Der Titelheld, Doctor Hormone, und seine Enkeltochter Jane bekämpfen darin totalitäre Kriegsherren, die die Bewohner friedliebender Nationen mit Hilfe von Hormonen in Tiere verwandeln wollen. Doctor Hormone ist übrigens über 80, dank eines selbstgebrauten Hormoncocktails wirkt er aber kaum älter als seine Enkelin.
"Nach lebenslangen geheimen Experimenten hat Doctor Hormone das Geheimnis des Lebens entdeckt. Er hat Hormone isoliert, die jedes Tier für immer am Leben halten können. Sein menschliches Herzhormon hat sein eigenes Herz jung und stark gehalten. Kürzlich hat er ein Hormon entwickelt, um alle Organe des menschlichen Körpers zu verjüngen - aber jetzt, am Vorabend seines krönenden Sieges, hat er einen Termin mit seinem Erzfeind: dem Tod!"
Wie Sie als aufgeklärte Menschen des 21. Jahrhunderts wissen, verehrte Hörer, hat bisher noch niemand das Geheimnis des Lebens entdeckt. Kein "menschliches Herzhormon", keins, das Tieren ewiges Leben schenkt. Doch vielleicht hatte Robert Bugg sich von den Entdeckungen seiner Zeit inspirieren lassen.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm die Hormonforschung an Fahrt auf – und eine Zeit lang gab es kaum etwas, das man den chemischen Botenstoffen nicht zugetraut hätte. Sie sind deshalb die wahren Helden dieser Geschichte – die Hormone höchstpersönlich.
Adrenalin! Testosteron! Thyroxin! Insulin! Östrogen! Progesteron! Oxytocin! Cortisol! Ihr seid später dran. Zuerst müssen die Hormone entdeckt werden.

Funktionsweise seit Jahrhunderten indirekt bekannt

Wir befinden uns in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Funktion vieler Hormone und die Krankheiten, die zustande kommen, wenn sie nicht richtig funktionieren, sind seit Jahrhunderten bekannt – zumindest indirekt. Hinweise auf Diabetes und Struma zum Beispiel, eine Vergrößerung der Schilddrüse, finden sich schon im alten Ägypten. In der Antike ist die Idee verbreitet, dass die Körpersäfte die Gesundheit beeinflussen.
Im 19. Jahrhundert herrscht allerdings in der westlichen Welt ein ganz anderes Körperkonzept vor, erzählt der Medizinhistoriker Heiko Stoff: "Die Nerven und das Nervensystem war sozusagen die dominierende Idee über das Funktionieren des menschlichen Körpers. Das wurde dann Ende des 19. Jahrhunderts auch immer wieder so formuliert. Es wurde über das nervöse Zeitalter gesprochen, das moderne Leben, vor allem in den Großstädten schien die Menschen so zu schwächen, dass es sozusagen zu einem allgemeinen Niedergang vor allem in der westlichen Welt komme."
Hahn auf der Wiese
Der Physiologe Arnold Adolph Berthold experimentierte mit Hähnen.© picture alliance / dpa / A. Held
Im 18. und 19. Jahrhundert experimentieren Physiologen mit Hormonfunktionen – ohne, dass es den Begriff "Hormon" schon gegeben hätte. Die Geburtsstunde der Endokrinologie festzulegen ist nicht ganz einfach. Einer, der oft als Pionier bezeichnet wird, ist der deutsche Physiologe Arnold Adolph Berthold. 1849 lehrt er an der Universität Göttingen und experimentiert mit Kapaunen – kastrierten Hähnen.
"Also er hat Hähnen die Hoden entnommen und hat dann gezeigt, dass der Kamm sozusagen verschwindet.", erklärt Heiko Stoff. "Und man kann das andersrum, man kann den Hahnenkamm wieder zum Wachsen bringen, indem man dann Hoden wieder einpflanzt."

Hodenexperimente mit Hähnen

Kapaune sehen eher aus wie Hühner. Doch als Berthold ihnen die Hoden anderer Hähne einpflanzt, entwickeln sie den typischen Hahnenkamm und Schwanzfedern, sie krähen und gehen wieder streitlustig auf andere Hähne los. Die Hoden müssen dafür nicht einmal an ihren ursprünglichen Ort verpflanzt werden – auch in der Bauchhöhle übernehmen sie wieder ihre alte Aufgabe. Bertholds Schlussfolgerung: Die Hoden steuern Verhalten und Aussehen nicht über die Nerven, sondern über eine mysteriöse Substanz im Blutkreislauf.
"Ich bin unsicher, ob Berthold wirklich wichtig ist im Sinne eines großen Erkenntnisgewinns", sagt Heiko Stoff. Er ist Wissenschafts- und Medizinhistoriker an der Medizinischen Hochschule Hannover:
"Eigentlich bin ich von Haus aus ein ganz normaler, in Anführungszeichen, ein ganz normaler Historiker. Ich habe aber promoviert zur Geschichte der Verjüngung und fand es dabei sehr spannend, dass Anfang des 20. Jahrhunderts dieses bisschen, ja, obskure Thema der Verjüngung verbunden ist mit der frühen Hormonforschung. Und so bin ich eigentlich ein bisschen reingerutscht in die Wissenschaftsgeschichte, indem ich dann weiter zu Hormonen und dann noch zu Vitaminen und Enzymen geforscht habe."
Ende des 19. Jahrhunderts ist die Endokrinologie immer noch weit davon entfernt, ein formaler Forschungszweig zu sein. Die Erforschung der inneren Sekretionen rückt aber schnell ins Licht der Öffentlichkeit – und wie Heiko Stoff glaubt, hat das mit einem Selbstexperiment zu tun: "Das so spektakulär war, dass es vielen Kollegen unangenehm und peinlich war, was er dort gemacht hat."

Schmerzhafte Injektionen für einen Selbstversuch

"Welche Substanz oder Substanzen in den Testikeln gebildet werden, die den Nervenzentren ihre Kraft geben, müssen zukünftige Forschungen klären", schreibt der Physiologe Charles-Édouard Brown-Séquard im Jahr 1889 in einer Notiz im medizinischen Fachjournal The Lancet: "Ich habe für eine subkutane Injektion eine Flüssigkeit verwendet, die eine kleine Menge Wasser enthält, das mit den folgenden drei Teilen vermischt wurde: erstens Blut der Hodenvenen; zweitens Sperma; und drittens Saft, der aus den Hoden eines Hundes oder eines Meerschweinchens gewonnen wird … . Um bei allen Injektionen, die ich an mir selbst vorgenommen habe, die maximale Wirkung zu erzielen, habe ich so wenig Wasser wie möglich gebraucht."
Die Injektionen sind extrem schmerzhaft, doch Brown-Séquard triumphiert. Er ist 72 Jahre alt und geplagt von Altersgebrechen. Doch schon am Tag nachdem er sich seinen Hoden-Sperma-Blut-Saft gespritzt hat, habe er einen "radikalen Wandel" gespürt, so Heiko Stoff: "Er konnte wieder eilig die Treppe herunterlaufen, er konnte wieder gut forschen und er konnte auch, wie er es dann vorsichtig ausgedrückt hat, seine Frau besuchen."
Für Brown-Séquard der Beweis: In den männlichen Geschlechtsorganen steckt das Elixier der Jugend. Heutige Endokrinologen sehen Charles Édouard Brown-Séquard nicht unbedingt als einen der ihren an, sagt Helmut Schatz: "Also der Brown-Séquard gilt bei uns eigentlich nicht als Endokrinologe. Der ist ein Neurologe."
Helmut Schatz, seit einem guten halben Jahrhundert Endokrinologe und vor seiner Emeritierung langjähriger Direktor der medizinischen Universitätsklinik Bergmannsheil Bochum:
"Hat eine windige Lebensgeschichte, Sie wissen, in Mauritius ist er geboren, dort herumgewandert ... und Séquard war der Name seiner Mutter, nicht, er hat früher nur Brown geheißen."
Porträt von Charles-Édouard Brown-Séquard (1817-1894), Physiologe und Neurologe
Der Physiologe und Neurologe Charles-Édouard Brown-Séquard (1817-1894) wurde von Kollegen verspottet. © picture-alliance / ©MP / Leemage
Trotz seiner "windigen Lebensgeschichte", wie Helmut Schatz sie nennt, war Brown-Séquard nicht irgendeiner. 1878 wird er Professor für Experimentalmedizin am Collège de France in Paris. Er experimentiert mit den Nebennieren und anderen Drüsen und mutmaßt, dass sie lebenswichtige Substanzen produzieren. Doch mit seinem Selbstversuch lenkt er nicht nur den Zorn von Kirche und Tierversuchsgegnern auf sich. Auch von seinen Kollegen wird er verspottet, sein Ruf als Wissenschaftler leidet empfindlich.

Mit Versuchen dem Testosteron auf der Spur

Mit seiner Ahnung, dass die Hoden eine biologisch wirkungsvolle Substanz absondern, liegt Brown-Séquard natürlich nicht falsch. Sie ahnen, liebe Hörer, von welchem Hormon hier die Rede ist: Testosteron! Anreger des Muskelwachstums und des Bartwuchses! Rächer der Libido. Beschützer der Osteoporose-Geplagten!
Brown-Séquards Hodensaft enthielt allerdings vermutlich so wenig Sexualhormon, dass er keine echte Wirkung hatte. Aus heutiger Sicht gilt sein Selbstversuch deshalb als Paradebeispiel für den Placebo-Effekt. 2002 machte eine Gruppe australischer Endokrinologen sich die Mühe, das Verjüngungs-Rezept nachzuahmen. Sie zermahlten Hoden in einem Mörser, die Haushunde beim Tierarzt hatten zurücklassen müssen – unter anderem eine dänische Dogge, ein Zwergspaniel und ein Bullterrier.
Messungen zeigten, dass ein Milliliter Hodensaft kaum mehr als 100 Nanogramm Testosteron lieferte. Brown-Séquard hatte sich damit vermutlich rund ein Zehntausendstel dessen verabreicht, was Patienten mit gestörter Testosteronproduktion heute üblicherweise verschrieben wird. Medizinhistoriker Heiko Stoff misst dem umstrittenen Forscher trotzdem große Bedeutung zu:
"Man könnte sagen, dass da so zweierlei festgelegt war, was zumindest die Forschung im Bereich der dann später sogenannten Sexualhormone sehr stark geprägt hat. Vor allem der männlichen Sexualhormone, dass es nämlich um so etwas geht wie Potenzsteigerung, das war anrüchig, aber es war ein Markt."
Brown-Séquards Experiment erregt Aufmerksamkeit. Das bewirkt einerseits, dass Tausende Menschen sich Organextrakte injizieren lassen, mit der Hoffnung auf Heilung und Verjüngung – und dabei oft Scharlatanen auf den Leim gehen, die ein lukratives Geschäft daraus machen. Andererseits sorgt es aber auch dafür, erklärt Heiko Stoff, "dass dann im großen Maßstab geforscht wurde und dass sich auch sofort – und das ist ganz wichtig – die Industrie sehr stark dafür interessiert hat, die Pharmaindustrie, die zu diesem Zeitpunkt ja erst im Entstehen ist."

Organextrakte treffen den Nerv der Zeit

Die Therapie mit Organextrakten trifft den Nerv der Zeit, weil sie die Verheißung der Leistungssteigerung mit sich trägt, erläutert Heiko Stoff:" Und das war von ganz großem Interesse, weil das eine große Diskussion Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts war. Ob nicht die westliche Welt ohnehin dadurch gekennzeichnet sei, dass sie im Niedergang sei, dass sie geschwächt sei. Und nun hätte man auf einmal einfach ein, sozusagen, ein quasi pharmazeutisch verstellbares Präparat, mit dem man diesem Niedergang auf ganz einfachem Wege begegnen könnte."
Die Endokrinologie liegt sozusagen schon in der Luft. Ernest Starling und William Bayliss sind ein dynamisches Forscherduo – sie werden sogar zu Schwagern, als Bayliss Starlings Schwester Gertrude heiratet. Anfang des 20. Jahrhunderts arbeiten die beiden Physiologen gemeinsam am University College London an den Sekretionen der Bauchspeicheldrüse. 1902 entdecken sie: Sekretin!
"Das Sekretin ist ein Darmhormon und das regt die Sekretion - deswegen heißt es Sekretin - vom Pankreasenzym an. Also von Verdauungsenzymen der Bauchspeicheldrüse", erklärt Helmut Schatz.
Streng genommen ist Sekretin das zweite Hormon, das formal entdeckt wird. Das erste war Adrenalin, zum ersten Mal isoliert im Jahr 1895.
Schematische Moleküldarstellung: Das Hormon Adrenalin (Epinephrin) wird im im Nebennierenmark gebildet.
Schematische Darstellung eines Adrenalin-Moleküls: Das Hormon wird im im Nebennierenmark gebildet.© imago / Science Photo Library
Starling und Bayliss bauen auf den Forschungsergebnissen von Iwan Pawlow auf, der später für seine Konditionierungsversuche mit Hunden berühmt werden soll. Pawlow hatte gezeigt, dass die Bauchspeicheldrüse Sekretionen abgibt, wenn im Dünndarm Magensäure ankommt. Er ging aber davon aus, dass dieser Vorgang von Nerven gesteuert wird. Starling und Bayliss operieren einen narkotisierten Hund: "einen braunen Hund vom Typ Terrier".
Und sie entfernen alles Nervengewebe rund um den Darm. Und siehe da: Die Bauchspeicheldrüse gibt trotzdem ihr Sekret ab. Die beiden stellen die Theorie auf, dass es neben dem Nervensystem noch ein weiteres System im Körper gibt – das, was wir heute als endokrines System kennen.
Heiko Stoff: "Starling ist eigentlich derjenige, der immer genannt wird, weil er diesen Begriff Hormoa dann einführt."

Der Begriff "Hormoa" gibt der Forschung Auftrieb

Aus dem Griechischen hormáo: "ich rege an". Angeblich verhalf ein Experte für griechische Dichtung Ernest Starling zu diesem Begriff, während sie bei einem Dinner am Caius College in Cambridge saßen. Der Name ist griffiger als "innere Sekretionen", er bürgert sich schnell ein und gibt dem neuen Forschungszweig Auftrieb, sagt Heiko Stoff:
"Wir reden über etwas, was zwar durchaus High-Tech Forschung des frühen 20. Jahrhunderts ist, was aber in der Öffentlichkeit sofort wahrgenommen wird. Es gibt sozusagen einen öffentlichen Resonanzboden in den täglich erscheinenden Zeitschriften, in Büchern, überall tauchen auf einmal Hormone auf, als Substanzen von denen man ganz viel erwartet und manchmal auch etwas Schauriges erwartet. Also der Name, den Starling dann erfunden hat, der hat wirklich hervorragend funktioniert."
Die Existenz von Hormonen, aber auch Enzymen und Vitaminen ermöglicht ein ganz neues Verständnis des menschlichen Körpers, erklärt Heiko Stoff:
"Der neue Mensch ist tatsächlich ein Schlagwort, das in diesem Zusammenhang Anfang des 20. Jahrhunderts dann häufig auftaucht. Eine neue Physiologie des Menschen, die diesen als ein durch spezifische Wirkstoffe reguliertes System sozusagen ansieht."
Doch was genau sind diese Wirkstoffe, die Hormone? Am 28. Mai 1910 zitiert die britische Zeitung St. Andrews Citizen Ernest Starling. Er nehme an, dass Hormone: "Mit hoher Wahrscheinlichkeit gut definierte chemische Substanzen sind. In den meisten Fällen sehr instabil, aber analysierfähig, und - jedenfalls in einigen Fällen - zur künstlichen Synthese. Sie sind vergleichbar ... mit den ... Medikamenten aus unserem Arzneibuch. Die Praxis des Medikamentenkonsums scheint daher kein unnatürliches Gerät des Menschen zu sein, sondern die normale Methode, mit der eine Reihe der gewöhnlichen physiologischen Prozesse des Organismus durchgeführt werden."

Wirkstoffe, die eine Empfängersubstanz brauchen

Endokrinologe Helmut Schatz liefert eine aktuellere Definition: "Hormone sind Wirkstoffe, welche dadurch im Körper Effekte erzielen, dass sie sich an Rezeptoren binden, also andocken. Und diese Rezeptoren können entweder auf der Zelloberfläche sitzen, oder sie können im Zellinneren oder im Zellkern sitzen. Die Hormone können nur dort wirken, wo ein Empfänger sitzt, eine Empfängersubstanz. Sie können es vergleichen in etwa mit dem Rundfunk, mit Radiowellen, welche ausgesandt werden und nur, wenn sie ein Radio haben und einschalten, können sie das Signal hören."
Chemisch sind Hormone zum Teil sehr kleine Moleküle, die oft nur eine kurze Halbwertszeit im Körper haben. Sie sind schon in sehr niedrigen Konzentrationen wirksam. Gebildet werden sie in spezialisierten Zellen, unter anderem – aber nicht nur – in den endokrinen Drüsen. Dazu gehören Zirbeldrüse und Hypophyse im Gehirn, Schilddrüse, Thymusdrüse, die Nebennieren, Bauchspeicheldrüse und die Eierstöcke beziehungsweise die Hoden, so Helmut Schatz:
"Endokrin heißt nach innen absondern, endokrin im Unterschied zu exokrin. Eine Schweißdrüse sondert Sekret nach außen, exo, ab, und endo, nach innen."
Helmut Schatz hört es nicht gern, wenn jemand davon spricht, dass die "Hormone verrückt spielen". Auch nicht im Frühling oder wenn es um Teenager geht:
"Ich kann das Wort Chaos der Hormone nicht mehr hören, weil das Hormonsystem ein ganz fein einreguliertes System ist. Und man kann es auch recht gut behandeln. Wenn es manchmal auch ein bisschen ist wie mit einem groben Schraubenschlüssel in eine Uhr hineingehen, da kann man vielleicht ein Schräubchen drehen, das kann woanders vielleicht auch noch was machen."
Bekannt sind um die 100 Hormone – genaue Zahlen zu finden ist allerdings schwierig. Manche zählen auch die Neurotransmitter zum Hormonsystem, also Botenstoffe wie Noradrenalin und Serotonin, die Signale von Nervenzellen auf anderen Zellen übertragen.

Hormone funktionieren im Gleichgewicht

Vermutlich gibt es Hunderte weitere Hormone, die noch nicht entdeckt wurden. Sie funktionieren in komplexen Signalkaskaden, regulieren sich gegenseitig und halten den gesunden Körper in Homöostase, im Gleichgewicht. Die vielfältigen Wirkmechanismen der Hormone zeigen sich vielleicht am besten, wenn sie nicht so funktionieren wie sie sollen, sagt Saša de Witt Skutnik:
"Das Erste, was ich bemerkt habe, waren meine Haare. Mein Haar hat sich verändert. Früher hatte ich lange, glänzende und sehr glatte Haare. Dann wurde es plötzlich lockig, es war komisch. Aber ich hab mir keine Gedanken gemacht."
Auch die anderen Symptome ignoriert Saša de Witt Skutnik zuerst. Der ständige Durchfall? Vielleicht was Komisches gegessen. Die zitternden Hände? Wahrscheinlich zu viel Kaffee:
"Und meine Augen... ich habe große Augen, aber sie waren plötzlich riesig! Meine Freunde haben Witze darüber gemacht, auch über mein Zittern. Es war so offensichtlich, dass es irgendwie witzig war. Aber man ignoriert es halt, weil alles andere wichtiger ist. Ich konnte nicht schlafen, war müde und gereizt, ich habe viel gestritten, war sensibel... aber ich dachte, oh, ich bin gestresst oder es liegt an den anderen."
Saša lebt in Slowenien mit ihrem Mann und ihrem zweijährigen Sohn. Sie hat Jura studiert. Als ihr die Symptome auffallen, arbeitet sie als Praktikantin am Gericht. Zum Arzt geht sie erst, als ihre Augen so sehr tränen, dass sie kaum noch genug sieht, um zur Arbeit zu laufen: "Deswegen bin ich hingegangen und der Arzt hat mich angeschaut und gesagt, oh, Sie haben tränende Augen, wie geht's Ihrer Verdauung?"
Für den Arzt ist die Diagnose sofort klar: Schilddrüsenüberfunktion, verursacht durch Morbus Basedow, eine Autoimmunerkrankung. Er schickt Saša ins Labor: "Die Testergebnisse kamen zurück und er sagte, wie können Sie überhaupt leben?"
Saša wird für einen Monat krankgeschrieben, der Arzt verschreibt ein Medikament, das die Bildung der Schilddrüsenhormone unterdrückt, Tabletten für die Augen, Betablocker, um ihr Herzrasen zu beruhigen – und absolute Ruhe. Sie soll sich nicht bewegen, sich nicht aufregen, nicht einmal lesen:
"Es war schrecklich! Eine Woche lang hat es Spaß gemacht, frei zu haben, nicht denken zu müssen. Aber dann dachte ich, was kann ich machen? Ich darf nicht laufen, mir ist langweilig, ich kann nicht schlafen. Ich habe einfach ferngesehen. Ich habe mich gefühlt wie ein Krüppel, wie eine halbe Person. Mein Job war nicht mal besonders stressig. Deshalb habe ich mich noch schlechter gefühlt."

Wenn die Schilddrüse angegriffen wird

Von Schilddrüsenerkrankungen hatte Saša noch nie gehört. Anfangs glaubt sie noch, dass die Krankheit einfach wieder verschwinden wird, wie eine Erkältung. Dass es eine chronische Erkrankung ist, merkt sie erst viel später. Morbus Basedow, Sašas Krankheit, ist eine Autoimmunkrankheit. Sie kommt zustande, wenn der Körper Antikörper bildet, die bestimmte Rezeptoren in der Schilddrüse angreifen und so die Hormonproduktion ankurbeln, erklärt der Arzt Sven Schinner:
"Das ist sehr interessant, die Schilddrüse produziert T3 und T4 und das T3 wird auch aus dem T4 zum großen Teil dann außerhalb der Schilddrüse noch mal umgewandelt."
T3! T4! Zusammen sind sie die Schilddrüsenhormone! Mit der Kraft des Jods für die Regulierung des Stoffwechsels! Förderer des Wachstums und der geistigen Entwicklung! Beeinflusser anderer Körperdrüsen!
Ultraschall-Untersuchung der Schilddrüse im Krankenhaus, Ärztin mit Patientin. 
Ultraschall-Untersuchung der Schilddrüse: Die dort gebildeten Hormone sind fast überall im Körper wichtig.© picture alliance / ZB / Hans Wiedl
"Und dann gibt es die vielfältigsten Zielorte, es gibt fast keine Zelle im Körper, die nicht einen Schilddrüsenrezeptor trägt", sagt Sven Schinner, der Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie ist. Er betreibt eine Privatklinik in Bonn. Die Schilddrüsenhormone sind fast überall im Körper wichtig, das erklärt die vielen unterschiedlichen Symptome: die Verdauungsprobleme, das Schwitzen, das Muskelzittern.
Außerdem gibt es eine Wechselwirkung mit adrenalinähnlichen Hormonen, was den Herzschlag beschleunigt. Die Symptome einer Schilddrüsenunterfunktion sind eigentlich das genaue Gegenteil: Antriebslosigkeit, Verstopfungen, Gewichtszunahme, verlangsamte Reflexe. Schilddrüsenprobleme kommen häufig vor, sagt Schinner:
"Das ist die Zahl, die immer so kursiert, dass so 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung eine Schilddrüsenveränderung - sage ich jetzt erstmal - haben, entweder morphologisch, also Knötchenbildung, oder dann funktionell, das heißt, Über- oder Unterfunktion. Oder wenn man dann halt weiter im Labor guckt, Nachweis von Antikörpern."

Nicht jede Veränderung wird zum Problem

Aber, sagt Sven Schinner, nicht jede Veränderung muss zum Problem werden: "Die Herausforderung und Notwendigkeit besteht natürlich darin zu sortieren, bei wem muss ich das jetzt behandeln und bei wem muss ich das nicht behandeln."
Saša de Witt Skutnik wird behandelt, zunächst mit Medikamenten. Erst geht es ihr besser, doch die Symptome kommen zurück. Nach zwei Jahren fängt sie an sich zu informieren, hört mehr auf ihren Körper, merkt wie wichtig regelmäßiger Schlaf für sie ist, achtet auf ihre Ernährung. Als sie schwanger wird, stellt sich heraus, dass Morbus Basedow nicht ihre einzige Hormonerkrankung ist – sie hat auch eine Nebennierenrinden-Insuffizienz.
Ihr Körper produziert zu wenig des Stresshormons Cortisol: "Meine Frauenärztin brachte immer ihre Assistenzärzte mit und sagte, diese Frau hat beides. Ratet mal, welche Autoimmunkrankheiten sie hat, schaut sie an. Sie haben nicht oft jemanden, der beides hat, Nebennierenrindeninsuffizienz ist selten."
Ihre Schilddrüse hat Saša gerade herausoperieren lassen. Die Hormone muss sie jetzt durch Tabletten ersetzen, doch sie hofft, dass zumindest die hormonellen Schwankungen jetzt aufhören. Die Krankheit hat sie verändert, aber sie kann es heute akzeptieren. Im Nachhinein war die Diagnose auch eine Erleichterung:
"Ich war so froh, als ich gemerkt habe, dass es nicht an mir liegt. Dass es an der Krankheit liegt. Ich bin nicht verrückt, ich brauche keinen Psychotherapeuten. Ich glaube, dass es wichtig ist mit anderen zu reden, ich versuche offen damit umzugehen. Es ist scheiße, aber man muss lernen damit umzugehen."

Wettlauf bei der Klassifizierung der Hormone

Doch noch einmal zurück: Die Drüsen hatten schon die frühen Anatomen beschrieben – Anfang des 20. Jahrhunderts fangen Mediziner rund um die Welt an, die zugehörigen Hormone zu charakterisieren. Medizinhistoriker Heiko Stoff:
"Wir haben insgesamt in dieser ganzen Hormonforschung, haben wir halt unterschiedliche Bereiche, wo in einem relativ kurzen Zeitraum, zwischen 1910er, 1920er-Jahren sozusagen alle Organe, von denen man annimmt, dass sie eine innere Drüse haben, da wird danach geguckt, was könnte hier sozusagen die isolierbare Substanz sein. Was ist das Schilddrüsenhormon, was ist das Nebennierenrindenhormon, was sind die Hormone in der Hypophyse?"
Eine Entdeckung jagt die andere. Die Forscher liefern sich einen Wettlauf, um die ersten zu sein, die die Hormone isolieren und im Labor herstellen. Und machen sich gegenseitig die Nobelpreise streitig – der Pfad der Hormonforschung ist damit quasi gepflastert. Die pharmazeutische Industrie spielt von Anfang eine große Rolle, sagt Heiko Stoff:
"Wichtig ist jedes Mal, dass man auch ein Maß, einen Standard findet, um diese Substanz möglichst rein herzustellen und gefragt sind dann der Anschluss an die Industrie, um auch große Rohstoffmengen zu gewinnen, aus denen man diese Substanz gewinnen kann."
Für die Forscher ist es von Vorteil, wenn sich in der Nachbarschaft ihrer Labore Schlachthöfe befinden – sie nutzen Eierstöcke von Kühen, Bauchspeicheldrüsen von Schweinen und andere Schlachtabfälle, um an den Rohstoff für ihre Präparate zu kommen. Oder werden auf ganz andere Weisen kreativ, so Stoff:
"Interessant ist da zum Beispiel auch bei den Forschungen zu männlichen Sexualhormonen, dass Adolf Butenandt, der schon wusste, dass das auch über den Harn ausgeschieden wird, der dann in Kooperation sozusagen mit der Schering AG es geschafft, dass er an den gesamten Urin aus den Polizeikasernen in Berlin herangekommen ist, um aus diesem Urin dann das männliche Sexualhormon zu gewinnen."

Zwanziger Jahre als goldenes Hormonzeitalter

Die 1920er-Jahre sind vielleicht das goldene Zeitalter der Hormonforschung. Dank Extrakten aus Tierdrüsen oder Polizistenurin und synthetisch hergestellten Hormonen ist es plötzlich möglich, Krankheiten zu kurieren, die vorher unheilbar waren. Es ist eine Zeit, in der auch die Öffentlichkeit regelmäßig von der Presse über die Fortschritte der Hormonforschung informiert wird. Fast scheint es, als gäbe es nichts, was sich nicht durch Hormone erklären ließe – bis hin zur Natur des Menschen. Am zweiten Oktober 1921 zum Beispiel titelt die New York Times: "Drüsen verursachen Trübsal und Verbrechen".
Der Artikel berichtet unter anderem, dass schwermütige Charaktere ihren Gemütszustand der Funktion der Hormone zu verdanken hätten, und die sei hauptsächlich vererbt. Ein paar Monate später berichtet die New York Times über mehrere Kriminalfälle: Eine Krankenschwester stiehlt einer Kollegin den Pelzmantel – nach eigenen Angaben wegen ihrer "heimtückischen Schilddrüse". Ein junger Mann ermordet seine Freundin, nachdem sie die Verlobung aufgelöst hat.
Und die Missetaten eines elfjährigen Jungen werden von dessen Lehrer so beschrieben: "Warf Schlachtermesser nach Mutter, warf Stuhl nach Vater, warf Ofendeckel nach Mutter, wiederholte 'Ich werde jemanden umbringen! Ich werde jemanden umbringen!', jagte Schwester in Zimmerecke, traktierte sie mit Reißzwecken, ... war streitsüchtig und gemein zu anderen Kindern."

Können Drüsen Verbrechen verursachen?

Sie alle seien für ihre Verbrechen nicht verantwortlich – vielmehr litten sie an hormonellen Störungen, die es ihnen unmöglich machen, ihre Impulse zu kontrollieren. Mit der richtigen medizinischen Behandlung könnten ihre kriminellen Tendenzen wegtherapiert werden. Die Autorin des Artikels meldet die Befürchtung an, dass auch "wahre" Verbrecher sich der Hormon-Ausrede bedienen könnten, weil nicht jeder einzelne Straftäter umfassend diagnostiziert werden könne.
Vor modernen Gerichten würde das Argument "die Schilddrüse war's" wohl nicht mehr ziehen. Natürlich sind Patienten mit Hormonproblemen in der Lage, sich dagegen zu entscheiden, einen Pelzmantel zu stehlen. Dass Hormone neben einer breiten Palette an körperlichen Funktionen auch die Psyche beeinflussen, steht allerdings außer Frage.
Vielleicht kein Wunder, dass sie Anfang des 20. Jahrhunderts als mehr angesehen wurden als ein Steuersystem des Körpers. Könnten sie auch ein Steuersystem für die Gesellschaft sein?
"Ich denke zu einer Leistungsgesellschaft gehören Hormone, eine Leistungsgesellschaft nur mit Nerven hätten wir nicht hinbekommen, um das mal so auf die Spitze zu treiben", gibt Heiko Stoff zu bedenken.
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