Homosexualität unter Strafe

Leben mit dem Paragraphen 175

33:08 Minuten
In einem Wohnzimmer stehen zwei Bilderrahmen auf einem Glastisch. Sie zeigen jeweils einen jungen Mann.
Mit 15 Jahren wurde Helmut "Poldi" Kress aufgrund des Paragraphen 175 verurteilt und eingesperrt. Er ließ sich davon nicht einschüchtern und lebte seine Homosexualität offen aus. © Marius Elfering
Marius Elfering im Gespräch mit Sonja Koppitz · 09.10.2022
Audio herunterladen
Helmut Kress ist 15 Jahre alt und schreibt einen Liebesbrief – an einen Jungen. Kurz darauf wird er verhaftet: Homosexualität steht unter Strafe, er muss 14 Tage in Einzelhaft. Er lebt sein Leben weiter – 60 Jahre später holt ihn die Geschichte ein.
Helmut Kress – oder “Poldi”, wie er genannt wird – schreibt als Jugendlicher einen Liebesbrief. Doch abschicken wird er ihn nie. Poldi ist homosexuell, und der Mann, für den er schwärmt, weiß davon nichts. 
Also entscheidet sich der damals 15-Jährige, der eine Ausbildung zum Bauzeichner bei der Stadt Tübingen absolviert, den Brief aufzubewahren: In seiner Schreibtischschublade bei der Arbeit. Dass sein Lehrherr den Brief finden könnte, damit rechnet Poldi nicht. Doch genau dies geschieht. Poldi wird der Polizei gemeldet, denn Homosexualität steht in Deutschland damals noch unter Strafe. Geregelt wird das durch den Paragraphen 175. Er wird verhaftet und von der Polizei zum Verhör mitgenommen.

Ich bin aus allen Wolken gefallen. Ich wusste gar nicht, warum und weshalb und… Ja, und da wurde ich von den zwei Kriminalbeamten verhört. Und die haben natürlich gefragt, wo man sich trifft. Du warst ja so eingeschüchtert. Du hattest ja keinen Beistand, bloß die zwei Kripo. Und: "erzähl schon und was macht man", man kann sich ja den Ton schon vorstellen, ja. Und dann hast du alles erzählt. 

Helmut "Poldi" Kress

Das Gericht verurteilt ihn damals zu zwei Wochen Jugendarrest, Einzelhaft. 1961 war das. Heute kann sich Poldi an Vieles aus seiner Haftzeit nicht mehr erinnern. Was er noch weiß: Er verliert seine Lehrstelle und bricht mit seinem Vater – und der mit ihm. 
Er verlässt seine Heimat und landet schließlich 1968 über Umwege in Berlin, wo er als Kellner im “Café Möhring” am Kudamm arbeitet. Er genießt die neue Freiheit, seine Vorstrafe spielt keine Rolle mehr.

Es war Leben. Und dann bist du selber so am Kudamm gesessen, hast geguckt, was da lauft und dann ins KDW und dann in die Schwulenkneipen und so und die Travestieshows. Und: Es war faszinierend. Mein Chef hat immer gesagt: „Keiner kanns mit denen so wie du. Wenn andere dort arbeiten, haben wir immer Theater.“ Da habe ich gesagt: "Herr Pfennig. Ich bin schwul. Und die auch."

Helmut "Poldi" Kress

Zu der Zeit findet – sehr langsam – ein gesellschaftlicher und politischer Wandel statt: In New York beginnen in diesen Jahren die Aufstände der LGBTQ-Community rund um die Christopher Street. In der DDR wird der Paragraph 175 abgeschafft, in der Bundesrepublik zumindest gelockert. Es wird noch bis 1994 dauern, bis der Paragraph in der Bundesrepublik komplett gestrichen wird.
Bei Plus Eins erzählt Marius Elfering die Geschichte eines Mannes, der für seine Homosexualität verfolgt und eingesperrt wurde – und sich dennoch die Freiheit bewahrt hat, sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu leben. Er ist einer der wenigen Menschen, die bereit sind, diese Geschichte zu erzählen.
Mehr zum Thema