Holocaust-Gedenken in Auschwitz

Erinnern darf sich ändern, aber nie enden

Ein Gleis führt zu einem großen Backsteinbau
Am Ende dieser Gleise endeten im KZ Auschwitz die Leben von mehr als einer Million Juden © Zuma Press / Imago / Omar Marques
Von Marta Kupiec · 25.01.2019
Heute wird in Auschwitz anders über den Holocaust gesprochen als noch vor Jahren. Den neuen Generationen muss man den Völkermord der Nazis neu erklären. Immer öfter besuchen türkisch- oder arabischstämmige Schulkassen aus Deutschland diesen Ort.
Manfred Deselaers führt durch die Wanderausstellung im Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcim. Auszüge aus einem Tagebuch von Rywka Lipszyc zeigen die Sorgen, aber auch die Freuden einer 14-Jährigen im Litzmannstadt-Ghetto - der Alltag mitten im Krieg. Der katholische Priester arbeitet als Bildungsreferent der Einrichtung, die 1992 in der Nähe des Stammlagers Auschwitz gegründet wurde. Menschen kommen hierher, um zu verstehen, was dort passiert ist. Ein höchst emotionaler Stoff, sagt der katholische Priester aus Deutschland. Deshalb fängt die Reflexion darüber mit Stille an.
"Ich sage, Dialog beginnt nicht mit Reden, sondern mit Schweigen. Schweigen und einander zuhören. Und wenn ich hier etwas organisiere, zum Beispiel deutsch-polnisch, christlich-jüdisch, dann lautet die Faustregel: Wir reden über uns selbst und hören dem Andern zu, wir reden nicht über den Anderen."

Nie aufhören, Referate über Auschwitz zu halten

Über Auschwitz wurden unzählige Bücher geschrieben, Referate gehalten, Filme gedreht. Dennoch muss man sich mit diesem "undankbaren Thema" weiter auseinandersetzen, meint der langjährige Leiter der Einrichtung. Es ist wichtig für die Zukunftsgestaltung.
"Diese Reflexion ist auch schwierig, da ich nicht weiß, wie ich damals gewesen wäre, wenn ich hier gelebt hätte./Und heute, wie reagiere ich, wenn Unrecht geschieht? Lieber nichts wissen wollen oder Verantwortung übernehmen?"
Wenn am Holocaustgedenktag die letzten Überlebenden beim "Marsch der Lebenden" durch das KZ-Gelände ziehen, werden sich alle Blicke auf Auschwitz richten. Besonders in den ersten Nachkriegsjahren war das ehemalige KZ ein "Ort der biografischen Betroffenheit", sagt Deselaers. Heute ist es ein Ort, an dem man lernen kann, wie man belastete Beziehungen repariert und mit der Schuldfrage umgeht.
"Wie können Juden dem christlichen Europa vertrauen mit dieser Erinnerung? Wie können Polen Deutschen Vertrauen mit dieser Erinnerung? Meine Hauptkontakte sind deutsche Schulklassen aber auch Erwachsenengruppen. Und da ist von Anfang an das Problem gewesen, Deutschland ist schuldig, Deutsche haben es gemacht. Aber ich bin unschuldig, ich habe damit nichts zu tun, aber das kann ich auch nicht sagen. Aber was ich nun genau damit zu tun habe, kann ich auch nicht sagen."

Jungen Muslimen muss Auschwitz neu erklärt werden

Immer öfter besuchen türkisch- oder arabischstämmige Schulkassen aus Deutschland die katholische Begegnungsstätte. Gerade dieser Zielgruppe muss Auschwitz neu erklärt werden, meint Deselaers. Dabei geht es auch darum, falsche Bilder ins rechte Licht zu rücken.
"Auschwitz war der deutsche Name der polnischen Stadt Oświęcim nicht nur, als sie deutsch besetzt war - während des Zweiten Weltkrieges, sondern als sie ein Teil des Deutschen Reiches war. Also das KZ Auschwitz war ein deutsches KZ im Deutschen Reich, entstanden gegen den polnischen Widerstand."
Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Polen über drei Millionen Juden. Ein Drittel davon kam im Todeslager Auschwitz ums Leben. Auch das ist vielen zeitgenössischen Besuchern der Gedenkstätte Auschwitz wenig bewusst. Wenn junge Juden durch Polen reisen, reisen sie also auf den Spuren des jüdischen Todes, meint Hilary Kahn, die Geschichtslehrerein vom Moriah College in Sydney.
"Wir gehen von Ort zu Ort, betrachten alles aus jüdischer Perspektive. Es sind Plätze, die von der Zerstörung und Tod gezeichnet sind. Es ist nicht einfach hier zu sein. Wenn ich mir hier die Straßen ansehe, denke ich permanent daran, wir anders dieses Land sein könnte, wenn hier kulturelle Vielfalt gäbe."

In Polen begann die Holocaust-Aufarbeitung erst nach 1989

Viele in Polen würden sich wünschen, dass es bei solchen Studienreisen mehr Austausch zwischen den jüdischen Teilnehmern und Polen gibt. Ein Lagerfeuer mit polnischen Schülern statt kaputte Grabsteine instandzusetzen, das würde auch der 16-jährige Daniel begrüßen.
"Es wäre schon nett, Polen kennen zu lernen, ihre Sprache zu sprechen oder aber auch andere osteuropäische Sprachen. Polen ist ein interessantes Land. Wir hören, dass das jüdische Leben zurückkehrt, wie lebendig es war und wie schnell es von den Deutschen - von den Nazis, ausgelöscht wurde."
Seit der politischen Wende in Polen im Jahre 1989 erlebt das jüdische Leben eine Renaissance. Die geschätzten 30.000 Juden fallen aber kaum auf, obwohl es in fast jeder größeren Stadt ein jüdisches Gemeindezentrum gibt. Junge polnische Juden bemühen sich dort um ein jüdisch-christliches Miteinander - frei von Vorurteilen. Der Weg führt über jüdische Kulturfestivals, Tanzveranstaltungen oder kulinarische Workshops. Doch der Dialog gestaltet sich schwer. In den Internetforen kommt es oft zum Schlagabtausch zwischen jenen, die von der polnischen Mittäterschaft am Holocaust sprechen, und solchen, die Beweise für den jüdischen Antipolonismus oder eine jüdische Weltverschwörung suchen. Im Vergleich zu Deutschland habe man in Polen sehr spät versucht, die schmerzhaften Kapitel der gemeinsamen Geschichte zu untersuchen, meint Zofia Radzikowska, Holocaustüberlebende aus Krakau.
"In Polen hat man über den Holocaust erst nach 1989 an Schulen unterrichtet, während die Deutschen viel früher damit angefangen haben. Es war die dritte Generation der Deutschen, die das lange Schweigen zur Geschichte ihrer Großväter gebrochen hat. Die Deutschen sind sich dessen bewusst was in Auschwitz passiert ist. Sie zahlen immer noch Entschädigungen an die jüdischen Opfer."

Polen dürfen ihre Schuld nicht leugnen

Auch Polen müssen zu ihrer Schuld stehen, zum Beispiel an Pogromen, obwohl aus dem Land - laut Gedenkstätte Yad Vashem - die meisten Judenretter stammen, sagt die pensionierte Strafrechtlerin. Der Dialog darf nicht durch umstrittene Gesetze wie das sog. "Holocaustgesetz" getrübt werden oder nur zwischen Staatspräsidenten und Intellektuellen stattfinden, besonders wenn die Feiern anstehen.
"Auf der institutionellen Ebene sieht es mit dem Dialog gut aus. Was die Basis angeht, hängt es aber größtenteils von den lokalen Bedingungen ab. Wir müssen uns mit großer Geduld bilden, wir brauchen Treffen, Veröffentlichungen und Menschen, die den Mut haben, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben und die Wahrheit schreiben."
Seit seiner Befreiung ist Auschwitz zu einem Ort verschiedener Narrative geworden. Das führte oft zu Konflikten, sagt Prof. Łukasz Kamykowski, ein katholische Priester, der in Krakau einen Diplomstudiengang über "Christlich-jüdische Beziehungen" leitet. Unterschiede in der Erinnerungskultur zeigen aber, dass die neuen Generationen über Auschwitz aufgeklärt werden müssen.
"In der letzten Phase, als die Kommunisten in Polen noch an der Macht waren, da galt das KZ Auschwitz als eine Widerstand-Gedenkstätte der Kommunisten aus dem linken Flügel gegen die Nazis. Es schien ziemlich unangebracht zu sagen, dass das Gros der dortigen Opfer Juden waren. Vielen Deutschen und Juden, die Auschwitz besuchen, ist es wiederum nicht bewusst, dass es dort nicht nur zu einer Konfrontation zwischen Deutschen und Juden kam. Dass die Polen auch zu den Opfern gehören, besonders in den Anfängen das KZs, das wissen die Wenigsten."
Etwa 75.000 Polen waren es, aber auch 21.000 Sinti und Roma sowie 15.000 russische Kriegsgefangene. Um die wird es auch 2020 gehen, wenn der Holocaustgedenktag zum 75. Mal begangen wird. Hoffentlich frei von den Konflikten um das Gedenken an die Opfer, auch aus Respekt vor Überlebenden, deren Zahl von Jahr zu Jahr sinkt.
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