Christiane Hoffmann: „Alles, was wir nicht erinnern“

Geschichtskrieg in Osteuropa

07:12 Minuten
Das Buchcover zeigt Autorinnenname und Buchtitel auf einem Foto einer Frau, die durch eine Heidelandschaft im Nebel wandert. Man sieht die Frau von hinten, sie trägt einen Rucksack.
© C.H. Beck Verlag

Christiane Hoffmann

Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines VatersC.H. Beck, München 2022

274 Seiten

22,00 Euro

Von Katharina Teutsch · 03.03.2022
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Christiane Hoffmann hat ein Buch über sehr alte Familiengeschichten geschrieben, damit ihre eigene aufgearbeitet und gleichzeitig ein Schlaglicht auf Osteuropa geworfen, wo die letzten Heldenerzählungen mit Zensur und Blutzoll verteidigt werden.
Christiane war ein schwächliches Kind. Dürr und von allerlei Ängsten geplagt. Immer kehren zwei Albträume wieder, die nicht wirklich die ihren sind. Der eine handelt von einer überhasteten Flucht. Der andere vom überhasteten Vorgang des Packens.
Die 1967 in Wedel bei Hamburg geborene Autorin rekonstruiert in ihrem sehr persönlichen Buch den Fluchtweg ihres damals neunjährigen heimatvertriebenen Vaters. Sie zu Fuß mit Rucksack. Er mit seiner Mutter und Pferden per Treck. Nahezu 500 Kilometer durch Sturm und Kälte, durch Gestrüpp und Moor von schlesisch Rosenthal bis böhmisch Egerland und später nach Wedel. Und zuhause darüber kaum ein Wort:
„Sie klagen nicht über das, was sie erlitten haben. Dafür brauchen sie auch nicht darüber zu sprechen, was sie getan haben. Man hat bezahlt, und damit muss es jetzt auch gut sein.“

Froh zu sein, bedarf es wenig

Gut ist natürlich gar nichts. Auch nicht für die Familie, die den Hof der Hoffmanns übernimmt. Sie hatten Zwangsarbeit in einer Marmeladenfabrik geleistet und als sie zurückkamen, sagte man ihnen, ihr Dorf in der Westukraine sei jetzt in Schlesien.
Das Buch ist über weite Teile als Brief an den 2018 verstorbenen Vater gerichtet. Froh zu sein, bedarf es wenig sei sein liebster Kanon gewesen, „und alle sagen, wie sehr er zu Dir passt“, schreibt die Autorin. Und dann der entscheidende Satz: „Es gibt zwei Wege, nicht bedürftig zu sein: viel zu bekommen oder wenig zu wollen.“
Noch auf dem Sterbebett wird diese zweitgenannte Maxime real. Und zwar im persönlichen Sterbestil des Todkranken, von dem die Ärzte später sagen, sie hätten eine solche vitale Klarheit im Moment des Ablebens nur ganz selten gesehen.

Symbole des nationalen Stolzes

Der eindringliche Korrespondenzton des Buchs wechselt sich ab mit Erlebnispassagen der versierten Reporterin Christiane Hoffmann. Sie führt ihre Leser mit sicherer Hand durch ideologisch vermintes Gelände. Trifft dabei auf allerlei Menschen in Polen und Tschechien, deren Gesinnung von revanchistisch über EU-feindlich bis hin zu offen rassistisch reicht.
In einem polnischen Hotelzimmer zappt sie in eine russische Talkshow, in der Anfang 2020 erst die neuartige Mutation aus dem Reich der Viren diskutiert wird und dann eine offenbar noch viel Gefährlichere aus dem Reich des Politischen. Sie wurde vom ukrainischen Präsidenten in die Welt gesetzt, und muss – so hat es den Anschein – nun schleunigst wieder eingefangen werden.
Der Ukrainer hatte sich kritisch über den Hitler-Stalin-Pakt geäußert. „Sie wollten uns unseren Sieg wegnehmen, eines der Symbole unseres nationalen Stolzes“, heißt es jetzt aufgeregt im Fernsehen. „Sie ereifern sich, sie sind alle einer Meinung, trotzdem schreien sie, als würde ihnen ständig jemand widersprechen.“

Gespenstische Aktualität: Ukraine

Angesichts der aktuellen Ereignisse in der Ukraine erhält dieses vielgestaltige Erinnerungsbuch eine gespenstische Aktualität. Denn Christiane Hoffmann spürt nicht nur dem verdrängten Familienschmerz nach, sondern dem Schmerz einer Weltregion. Sie spricht von einem „Geschichtskrieg“, der jenseits der Oder tobt. Und dort gehe es nicht um die Deutschen, die ihre Schuld längst eingestanden hätten. „Dort ist man damit beschäftigt, die Restschuld zu verteilen.“
Christiane Hoffmann hat ein Buch über sehr alte Familiengeschichten geschrieben, damit ihre eigene aufgearbeitet und gleichzeitig ein Schlaglicht auf Osteuropa geworfen, wo die letzten Heldenerzählungen mit Zensur und Blutzoll verteidigt werden.
„Woher soll Europa die Kraft nehmen, das alles zu heilen“, fragt jene Frau, die nun nicht mehr Journalistin ist, sondern die öffentliche Stimme der deutschen Regierung, die eine politische Antwort auf diese Frage finden muss.

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