Hörbuch von Peter Bichsel

Drehscheibe des Lebens

Der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel. Das Bild stammt aus dem Jahr 1996.
Der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel. Das Bild stammt aus dem Jahr 1996. © dpa / picture alliance / Katja Lenz
Von Andi Hörmann · 14.09.2015
Es geht um das trostlose Dasein des vereinsamten Großstädters: 1964 erschienen Peter Bichsels Kurzgeschichten "Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen". Zum 80. Geburtstag des Autors ist daraus eine geniale Hörcollage entstanden.
"Hausierer haben mit Häusern zu tun. Förster haben mit dem Wald zu tun. Frauen haben mit dem Warten zu tun. Häuser sind Häuser."
Vier Sätze genügen Peter Bichsel, um eine literarische Biographie zum Leben zu erwecken - etwa die des Försters und seiner zuhause gebliebenen Ehefrau.
"Wenn jemand auszieht, zieht jemand ein. Am ersten Tag riecht man es, riecht man die Vorliebe für Knoblauch oder den Ölgeruch des Mechanikers oder das Sägemehl des Schreiners, später vielleicht noch den Windelgeruch der Kleinen. Aber dann am dritten Tag schon, gehört der Geruch dem Haus, ist es wieder das Haus mit den vier Stockwerken. Im zweiten Stock wohnt wieder jemand..."
Von Traurigkeit durchzogene Prosa-Bilder
Der im schweizerischen Luzern geborene Schriftsteller Peter Bichsel erzählt in seinem 1964 veröffentlichten Erzählband "Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen" vom tristen Alltag in einem Mehrfamilienhaus, eine Art Drehscheibe des Lebens. Kurz und knapp, im Buch auf nie mehr als zwei bis drei Seiten, beschreibt er episodenhaft das Leiden der Bewohnerinnen und Bewohner, ihre Anonymität und Einsamkeit, ihre Unfähigkeit soziale Kontakte zu knüpfen.
"Dann stellte er sie sich in einem Blumenladen vor. Mit grüner Schürze und Nelken- Lächeln. Er würde eintreten und fragen, ob es hier Blumen zu kaufen gäbe. Und sie würde erschrecken und lächeln und sagen: Was, nur Blumen! Und er würde auch lächeln."
Die nun zum 80. Geburtstag von Peter Bichsel erschienene Hörcollage setzt dieses Gefühl der Vereinsamung genial um: Mit seiner rissig tiefen Stimme klingt der Autor selbst wie ein am Krückstock gehender Hausbewohner, seinen von Traurigkeit durchzogenen Prosa-Bildern kann man sich nur schwer entziehen.
"Der Dachboden ist mit Latten unterteilt. Jedes Stockwerk hat ein Abteil. Jedes Abteil ist mit einem Vorhängeschloss gesichert. Sicher werden hier auch alte Matratzen aufbewahrt. Fotoalben und Tagebücher. Spiegel."
Erschrecken über die zwischenmenschliche Ignoranz
Die Vertonung von Elia Rediger, Mitglied der Basler Art-Pop-Band "The Bianca Story", macht aus Bichsels einfacher Sprache eine Art akustisches Daumenkino: Die hölzernen Emotionen der Protagonisten, ihre zwischenmenschliche Unfähigkeit, werden im Geklöppel des Schlagzeugs, im Gesäusel der Klarinette zur bedrückenden Tragikomödie. Durch die klapperhafte Komposition bekommt das Mehrfamilienhaus fast etwas von einem Geisterschiff.
Das trostlose Dasein des vereinsamten Großstädters findet seinen traurigen Höhepunkt in einem Mantra-artig vorgetragenen Alptraumszenario um einen Teddybären:
"Niemand würde einen Teddybären sezieren, in der Holzwolle wühlen und den Finger in die Wärme tauchen. Niemand."
Und doch steckt in diesem Niemand immer auch etwas von jedem von uns. Wenn Peter Bichsel von der Überraschung des eigenen Handelns, dem Erschrecken über die zwischenmenschliche Ignoranz erzählt, dann ist man auch heute noch von diesen prägnanten Beobachtungen berührt. Denn auch fünfzig Jahre nach Erscheinen des Textes haben sie nichts von ihrer Wahrhaftigkeit verloren.
"Das Mädchen vom dritten Stock klopft im zweiten Stock und bittet die Frau höflich und schüchtern, ob es den Ball haben dürfte, der ihm vom dritten Stock auf den Balkon des zweiten Stocks gefallen sei."
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