Hörbuch: "Im Namen des Volkes"

Nürnberger Prozess als Stimmen-Mosaik

Die Hauptangeklagten (L-R) Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop auf der Anklagebank während der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse am 13.02.1946 in Nürnberg.
Die Hauptangeklagten (L-R) Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop auf der Anklagebank während der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse am 13.02.1946 in Nürnberg. © picture alliance / dpa
Von Olga Hochweis · 16.11.2015
Der Nürnberger Prozess 1945/46 war die erste strafgerichtliche Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit. Das Hörbuch "Im Namen des Volkes" von Jochanan Shelliem versammelt Stimmen von Opfern und Tätern, Anklägern und Beobachtern - und hinterlässt Fassungslosigkeit, aber auch Genugtuung.
"In unseren Berichten vom Nürnberger Prozess senden wir heute ein Interview mit der amerikanischen Kriegskorrespondentin Miss Mann. Und welchen Eindruck machten auf Sie denn die Zeugen? Ja, die Staatsanwaltschaft hat bisher nur einen einzigen Zeugen vorgeführt ... des deutschen Gegenspionage-Chefs ... hat einen sehr starken Eindruck gemacht ...
Erika Mann berichtete als Korrespondentin für die englische BBC aus Nürnberg. Die hier mehrfach verwendeten Original-Töne ihrer Beiträge sind Teil einer riesigen Materialfülle, den der Prozess hinterlassen hat. Jochanan Shelliem:
"37 Kilometer Tonband, 7000 Schellack-Platten, 43 dicke Bände Verhörprotokolle – der Nürnberger Prozess ist ein Grundlagenwerk gewesen, eine Tiefenbohrung in das verdrängte Grauen der Vergangenheit, ein fruchtbares Thema für die Journalisten, die darüber schrieben."
Ihre Gerichtsreportagen sind in langen Auszügen nachzuhören. Texte von Erich Kästner, John Dos Passos oder dem Russen Ilya Ehrenburg. Sie beschreiben die beklemmende Zeugenaussage eines Auschwitz-Überlebenden genauso wie die Atmosphäre rund um den Gerichtssaal. Verhalten, dann wieder voller Pathos, tragen mehr als ein halbes Dutzend Schauspieler diese Aufzeichnungen vor. Es ist ein vielstimmiger Chor, bei dem die Autorschaft des Einzelnen ungenannt bleibt, zurücktritt hinter dem historischen Ereignis.
"… die Schatten von Auschwitz und Treblinka und der schwarze Schatten die Menschheit hält Gericht, ..."
Doch nicht nur die exzellente Textauswahl prominenter Autoren gibt dem Feature seine Eindringlichkeit. Plastisch wirken auch die Erinnerungen zweier Männer, die hinter den Kulissen des Nürnberger Prozesses gewirkt haben: Der eine ist der Gefangenen-Arzt, Ludwig Pflücker. Seine 1952 veröffentlichten Aufzeichnungen über die Betreuung von "Göring und Genossen" hat Jochanan Shelliem zu einem zentralen Erzählstrang seines Features gemacht.
Von Begegnungen mit Kriegsverbrechern
"Es war für mich eine bittere Erkenntnis, dass Göring, der zweite Mann im Staat, ein Morphinist war. Nun erklärte sich so vieles. Als Morphinist sah Göring alles im rosa Lichte, verschloss sich gegen die unangenehme Wirklichkeit ..."
Die zweite Stimme, die die Collage wie ein roter Faden durchzieht, gehört Richard Sonnenfeldt, mit 22 Jahren machten die Amerikaner den gebürtigen Berliner zum Chef-Dolmetscher der Anklage. Prägnant erzählt der hier über 80-Jährige von seiner Flucht aus Nazi-Deutschland, von seinen Begegnungen mit den Kriegsverbrechern, von ihrer reuelosen Ungerührtheit, ihrem rechthaberischen Ton. Von Rudolf Höß etwa, dem Lager-Kommandanten von Auschwitz, der täglich 12.000 Menschen in den Tod schickte.
"Und da hab ich einmal zu ihm gesagt,also Herr Höß, man hat uns berichtet, dass dreieinhalb Millionen Menschen in Auschwitz getötet wurden, und da war er sehr entrüstet und sagte: Das stimmt doch gar nicht, das waren nur zweieinhalb Millionen!"
"Ein Augenblick höchster Spannung ... die Anwälte drehen sich um ... alles blickt zur Anklagebank … Göring ..."
Es gibt viele Gänsehaut-Momente in diesem Feature, vieles hinterlässt Fassungslosigkeit. Aber auch Genugtuung, dass gemeinsames internationales Recht gesprochen wurde. So sieht das der 2009 verstorbene Richard Sonnenfeldt, dem das Schlusswort des Features gehört:
"Ich habe mir immer gesagt, dieser Prozess soll nicht ein Prozess der Sieger über die Verlierer sein, sondern ein Beispiel sein für Weltrecht – und ich glaube, es war ein gutes Beispiel. Und ich hoffe, dass wir ein besseres universelles Weltrecht haben werden."

Jochanan Shelliem: Im Namen des Volkes. Hinter den Kulissen des Nürnberger Prozesses
Feature mit Otto Sander, Rosemarie Fendel u.v.a.
3 CDs, ca. 2 h 38 Minuten, 19,99 Euro

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