Hochwertige Schau gemischter Gefühle

Von Volkhard App |
Die Ausstellung mit Gemälden der Künstlergruppe "Brücke" wird aufgeregt diskutiert. Kritiker sprechen wegen des jungen Alters und der erotischen Darstellung der Modelle von Missbrauch. Der Direktor des Sprengel Museums Ulrich Krempel weist die Vorwürfe als "wilde Skandalisierung" zurück.
Fränzi war achtdreiviertel, als sie Modell der "Brücke”-Maler wurde, Marcella vierzehneinhalb. Zwischen 1909 und 1911 wurden sie im Atelier und beim sommerlichen Treiben an den Moritzburger Teichen schnell und locker mit Kohle und Feder gezeichnet oder in grellen Farben auf die Leinwand gebracht. Da rekeln sie sich auf Badetüchern oder auf dem Sofa, sind mal nackt, mal angezogen, werden beim Handstand beobachtet oder beim Spiel mit der Katze. Fränzi fällt - wie auch Marcella -gelegentlich durch knallrote Lippen auf, der Blick ist oft geheimnisvoll, das Gesicht ein schönes Dreieck.

An den beiden hatten Kirchner, Heckel und Pechstein ein besonderes künstlerisches Interesse. Kurator Norbert Nobis:

"Die professionellen Modelle waren denen zu steif, sie bewegten sich nicht. Sie waren nicht ursprünglich genug, nicht naturgemäß. Und das fanden sie in den jungen Mädchen eher als in den älteren Frauen, die das Posieren draufhatten. Fränzi und Marcella haben nicht posiert."

Auf den "Brücke”-Stil hat sich die Präsenz der munteren Kinder sichtlich ausgewirkt: Die Figurendarstellung wurde noch stärker vereinfacht, die Handschriften der drei Zeichner und Maler näherten sich an.

Die gröbsten biografischen Irrtümer zu Fränzi und Marcella konnten schon in den neunziger Jahren korrigiert werden: dass die beiden nämlich Schwestern gewesen seien und Kinder einer Artistenwitwe. Bei den damaligen Recherchen wurde auch der Familienname Fränzis ausfindig gemacht und nun, bei der Vorbereitung der neuen Schau, der Marcellas: Marcella Sprentzel hieß die junge Gefährtin von Fränzi Fehrmann.

Gerd Presler hat unzählige Eintragungen in Taufregistern durchgesehen, in der festen Überzeugung, dass solche Nachforschungen unerlässlich seien:

"Die Methodik, kunstgeschichtliche und biografische Fragen miteinander zu verknüpfen, hatten wir in der deutschen Kunstgeschichtsschreibung lange Zeit verloren. Wenn Sie diese Kombination haben, wissen Sie einfach mehr. Sie können Situationen besser einschätzen, als wenn Sie mit den Bildern allein gelassen werden. Nur so kommt das Geben und Nehmen von Maler und Modell in den Blick."

Auch sonst war der Rechercheaufwand für diese Ausstellung beträchtlich. Galt es doch genau zu bestimmen, auf welchen Arbeiten Fränzi dargestellt ist, auf welchen Marcella - und wo ganz andere Kinder zu sehen sind.

Die jahrelange Vorbereitung merkt man dieser von rund 50 Leihgebern bestückten Präsentation an jeder Stelle an, und so könnte man sich einem ungetrübten Kunstgenuss hingeben - hätte sich nicht seit der Kirchner-Retrospektive im Frankfurter Städel Museum eine brisante Diskussion über diese "Brücke”-Motive gelegt. Nun hält man wie ein Staatsanwaltsgehilfe Ausschau nach dubiosen Stellen auf den Bildern und prüft Zitate aus Briefen und Tagebüchern. Alles ist irgendwie verdächtig.

Dabei will Felix Krämer aus dem Frankfurter Städel Museum den Begriff "Missbrauch" aber nicht auf mögliche sexuelle Kontakte der Maler zu den Kindern verkürzt sehen:

"Sexueller Missbrauch beginnt sehr viel früher: wenn ich Kinder in aufreizenden Posen, z. B. mit gespreizten Beinen porträtiere. Oder wenn ich Kinder in ein völlig ungeeignetes Umfeld bringe, in eine Art Sextempel. Das Atelier damals war ausgestattet mit entsprechenden Tüchern, sogar die Ofenkacheln zeigten kopulierende Paare. Und wir wissen, dass es im Atelier auch zu sexuellen Handlungen kam. Das ist kein Ort für Kinder, und das entspricht nicht nur der heutigen Meinung."

Hatte man vor Monaten in Frankfurt einzelne Bilder aussortiert, z. B. Fränzi mit gespreizten Beinen, um keine dubiosen Interessen zu bedienen, so hängt in Hannover eine verwandte Kohlezeichnung an der Wand. Hier auch spielt man das heikle Thema herunter, bescheinigt den Bildern zwar einen "erotischen Unterton”, spricht aber auch von übersteigerter Skandalisierung, die den Zeitumständen und der medialen Debatte geschuldet sei. Museumsdirektor Ulrich Krempel:

"Wir laden ganz herzlich dazu ein, sich die Kunst anzugucken und selber Schlüsse zu ziehen. Ich glaube, dass gerade diese Ausstellung sehr gut geeignet ist, die wilde Skandalisierung, die von Mitgliedern der Presse losgetreten worden ist, die wenig Ahnung von Kunst haben, diese Skandalisierung kritisch anzugehen und das vielleicht nicht unproblematische Verhältnis von jungen Mädchen und erwachsenen Künstlern einfach selber zu betrachten."

Außerdem sei in den damaligen Jahren, geprägt durch die Reformpädagogik, ein völlig neues Verhältnis zu Kindern und zur Nacktheit entstanden. Der Kindheit um 1900 widmet man im Sprengel Museum sogar eine zweite, ebenfalls gut bestückte Ausstellung.

Aber das brisante Thema eines möglichen Kindesmissbrauchs durch die "Brücke"-Maler ist damit ja nicht vom Tisch. Im Katalog werden die Indizien noch einmal abgewogen. Manche Argumente sind allerdings weniger überzeugend, z. B. dass Fränzi und Marcella auf den Bildern nicht als leidend oder unterdrückt erscheinen. Eine Rolle beim Versuch, die Vorwürfe zu entkräften, spielt auch Kirchners Notiz, Fränzi habe bei einer späteren Begegnung die Zeit bei den "Brücke”-Malern als ihre glücklichste bezeichnet. Felix Krämers Einwand:

"Kirchner hat uns viel erzählt, sein Wahrheitsbegriff war ein relativ weicher. Ob Fränzi das selber so gesehen hat, kann ich aus dem Zitat nicht erkennen."

Es ist eine ungewöhnliche Erfahrung, die man derzeit im Sprengel Museum machen kann: Zu besichtigen ist eine künstlerisch hochwertige Ausstellung. Und doch stellen sich beim Gang durch diese Schau gemischte Gefühle ein.


Service:
Die Ausstellung Der Blick auf Fränzi und Marcella ist noch bis 9.1.2011 in Hannover zu sehen.
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