Getriebenes Genie
"Ich staune über die Kraft meiner Bilder im Städel", schrieb Ernst Ludwig Kirchner 1925 während eines Frankfurt-Besuchs in sein Tagebuch. Das Frankfurter Museum würdigt den Maler nun in einer Retrospektive - der ersten in Deutschland seit über 30 Jahren.
Siebzehn Jahre lang hatte er daran gemalt, 1925 war es endlich fertig: zwei Meter hoch, drei Meter breit, zeigt es vor leuchtend gelbem Hintergrund fünf nackte Frauen, die aus einer blauen Badewanne steigen. Es ist eines seiner größten und, wie Kirchner selbst befand, besten Bilder. Ein Triptychon. Seit 1933 waren die drei monumentalen Tafeln nicht mehr zusammen ausgestellt.
Das Werk gehört zu den zahlreichen Sensationen dieser grandiosen Schau, und es ist schwer, sich der Wucht der Farben, dem kraftvollen Wirbel der gezackten Formen, dem mitreißenden Taumel der Themen zu entziehen. Wir sehen die berühmte Zirkusreiterin, jede Menge Akte im Atelier und Badende in der Natur, Stadtansichten wie das Brandenburger Tor und Kokotten auf der Straße, wir sehen das gespenstische "Soldatenbad" von 1916, das uns heute wie eine Vorahnung der Gaskammern erscheint, aber auch alpine Idyllen aus der Bergwelt der Schweiz, wohin sich der kränkelnde Maler 1917 zurückgezogen hatte.
In einem Eingangsraum voller Selbstbildnisse lernen wir den Maler kennen als einen Meister der Selbstinszenierung: Kirchner, das getriebene Genie, den labilen Trinker, den leidenden Künstler, den ausgemergelten Kranken, den beziehungsbedürftigen Liebhaber – einen Mann voller Widersprüche, sagt der Kurator Felix Krämer:
"Kirchner war ein Egomane, er war neurotisch, er war radikal zu sich selbst, aber auch zu seiner Umwelt, launisch, gleichzeitig aber hochintelligent, sehr belesen, er konnte sehr charmant sein. Insofern war Kirchner eine schwierige Persönlichkeit. Aber ich glaube, das macht auch einen Teil der Faszination aus, dass wir uns bis heute auch an ihm reiben."
Als Mensch sei Kirchner ein "ganz niederträchtiger Bursche", so urteilte 1933 ein Museumsmann, der ihn ansonsten förderte und schätzte; und selbst heutige Kirchner-Forscher ziehen es vor, dem Maler niemals begegnet zu sein. Er war kein angenehmer Typ; ein Außenseiter, der sich mit seinen Freunden von der "Brücke" rasch wieder überwarf.
In sechs Kapiteln entwickelt die Schau das Schaffen des Autodidakten, der sich zunächst an Kollegen wie van Gogh oder Klimt orientiert.
"Wenn man sich seine Themen anschaut, wie Varieté, Akt im Freien, Tanz – das sind alles Themen, die uns von der französischen Avantgarde des späten 19. Jahrhunderts sehr vertraut sind. Was Kirchner dann daraus macht, ist etwas ganz, ganz anderes. Aber sozusagen diese Grundimpulse, die sucht er bei der internationalen Kunst."
Es folgen die expressive Dresdner Brücke-Zeit, die Jahre in Berlin mit einem ganzen Saal der berühmten Straßenszenen, dann die Phase in den Sanatorien nach dem Kriegserlebnis und schließlich die langen Jahre in der Schweiz bis zu Kirchners Freitod 1938.
Mit kritischer Distanz widmet sich die Schau einem heiklen Thema, dem Umgang des Künstlers mit den Kindermodellen Marcella und Fränzi. Fränzi war ganze acht Jahre alt, als sie für Kirchner posierte, nackt, teils mit gespreizten Schenkeln. Es läge "ein großer Reiz in einem solchen reinen Weibe", schrieb Kirchner an seinen Freund Heckel, "Andeutungen, die einen wahnsinnig machen können." Und rückblickend gab er sich als künstlerischen Triebtäter mit merkwürdiger Praxis: des Öfteren, so schrieb er, habe er eine Kopulation unterbrochen, um eine Stellung oder einen Ausdruck zu notieren. Aber, sagt Kurator Krämer:
"Das sind ja junge Männer gewesen, die gegenseitig auch angegeben haben, und ich bin mir nicht so sicher, ob wir diese Aussagen 1:1 übertragen und dann auch auf ein sexuelles Verhältnis mit den Kindern übertragen können. Dennoch, wir wissen, wie es in den Ateliers ausgesehen hat. Ausstaffiert waren seine Ateliers als eine Art Lusttempel. Ofenkacheln zeigten Kopulationsszenen, auf den Tüchern waren unterschiedliche Stellungen zu sehen, es standen Hocker, die nachgebildet waren nach afrikanischen Frauen mit spitzen Brüsten, in dem Atelier kam eine bunte Truppe zusammen, und man bewegte sich dort oft auch nackt, und das war ganz sicherlich nicht der Kontext, in dem sich eine Achtjährige zuhause gefühlt hat. Das ist ganz sicher nicht der Fall gewesen."
Es ist nun freilich nicht so, dass die Schau ansetzt, den Künstlermythos Kirchner zu entzaubern. Die Bilder sind das eine, und der kommentierende Katalog ist das notwendige Korrektiv, auch in Bezug auf die Rolle, wie Kirchner durch trickreiche Manöver die Rezeption seines Werks in der Öffentlichkeit steuerte.
"1924 sagt Kirchner: ‚Die Fabrikmarke meiner Kunst ist E.L. Kirchner und nichts weiter.’ Und das ist ein Künstlerverständnis, in den 20er-Jahren schon, das wir eher mit der Pop Art oder anderem in Verbindung bringen. Also sich selber als Fabrikmarke zu bezeichnen, als Künstler, das ist verblüffend."
Seiner Zeit voraus war Kirchner auch in seinem Spätwerk, dessen dekorative und kurvige Formensprache bis heute stark umstritten ist. Hier wird es erstmals breit zur Diskussion gestellt, um eines klar zu machen:
"Dass es nicht nur den Kirchner gibt, den Brücke-Kirchner, den Kirchner, der die Straßenszenen malt, den Kirchner, der dann zum Alpenmaler, zum Maler der Davoser Landschaft wird, sondern dass es dann auch noch den Kirchner des Spätwerks gibt, der weit in die Abstraktion vordringt. Das ist herrlich poppig, das ist bunt, das sieht nach 50er-, 60er-Jahre aus. Und das könnte heute auch in Galerien hängen."
Service:
Die Ausstellung ist bis zum 25. Juli 2010 im Frankfurter Städel-Museum zu sehen.
Das Werk gehört zu den zahlreichen Sensationen dieser grandiosen Schau, und es ist schwer, sich der Wucht der Farben, dem kraftvollen Wirbel der gezackten Formen, dem mitreißenden Taumel der Themen zu entziehen. Wir sehen die berühmte Zirkusreiterin, jede Menge Akte im Atelier und Badende in der Natur, Stadtansichten wie das Brandenburger Tor und Kokotten auf der Straße, wir sehen das gespenstische "Soldatenbad" von 1916, das uns heute wie eine Vorahnung der Gaskammern erscheint, aber auch alpine Idyllen aus der Bergwelt der Schweiz, wohin sich der kränkelnde Maler 1917 zurückgezogen hatte.
In einem Eingangsraum voller Selbstbildnisse lernen wir den Maler kennen als einen Meister der Selbstinszenierung: Kirchner, das getriebene Genie, den labilen Trinker, den leidenden Künstler, den ausgemergelten Kranken, den beziehungsbedürftigen Liebhaber – einen Mann voller Widersprüche, sagt der Kurator Felix Krämer:
"Kirchner war ein Egomane, er war neurotisch, er war radikal zu sich selbst, aber auch zu seiner Umwelt, launisch, gleichzeitig aber hochintelligent, sehr belesen, er konnte sehr charmant sein. Insofern war Kirchner eine schwierige Persönlichkeit. Aber ich glaube, das macht auch einen Teil der Faszination aus, dass wir uns bis heute auch an ihm reiben."
Als Mensch sei Kirchner ein "ganz niederträchtiger Bursche", so urteilte 1933 ein Museumsmann, der ihn ansonsten förderte und schätzte; und selbst heutige Kirchner-Forscher ziehen es vor, dem Maler niemals begegnet zu sein. Er war kein angenehmer Typ; ein Außenseiter, der sich mit seinen Freunden von der "Brücke" rasch wieder überwarf.
In sechs Kapiteln entwickelt die Schau das Schaffen des Autodidakten, der sich zunächst an Kollegen wie van Gogh oder Klimt orientiert.
"Wenn man sich seine Themen anschaut, wie Varieté, Akt im Freien, Tanz – das sind alles Themen, die uns von der französischen Avantgarde des späten 19. Jahrhunderts sehr vertraut sind. Was Kirchner dann daraus macht, ist etwas ganz, ganz anderes. Aber sozusagen diese Grundimpulse, die sucht er bei der internationalen Kunst."
Es folgen die expressive Dresdner Brücke-Zeit, die Jahre in Berlin mit einem ganzen Saal der berühmten Straßenszenen, dann die Phase in den Sanatorien nach dem Kriegserlebnis und schließlich die langen Jahre in der Schweiz bis zu Kirchners Freitod 1938.
Mit kritischer Distanz widmet sich die Schau einem heiklen Thema, dem Umgang des Künstlers mit den Kindermodellen Marcella und Fränzi. Fränzi war ganze acht Jahre alt, als sie für Kirchner posierte, nackt, teils mit gespreizten Schenkeln. Es läge "ein großer Reiz in einem solchen reinen Weibe", schrieb Kirchner an seinen Freund Heckel, "Andeutungen, die einen wahnsinnig machen können." Und rückblickend gab er sich als künstlerischen Triebtäter mit merkwürdiger Praxis: des Öfteren, so schrieb er, habe er eine Kopulation unterbrochen, um eine Stellung oder einen Ausdruck zu notieren. Aber, sagt Kurator Krämer:
"Das sind ja junge Männer gewesen, die gegenseitig auch angegeben haben, und ich bin mir nicht so sicher, ob wir diese Aussagen 1:1 übertragen und dann auch auf ein sexuelles Verhältnis mit den Kindern übertragen können. Dennoch, wir wissen, wie es in den Ateliers ausgesehen hat. Ausstaffiert waren seine Ateliers als eine Art Lusttempel. Ofenkacheln zeigten Kopulationsszenen, auf den Tüchern waren unterschiedliche Stellungen zu sehen, es standen Hocker, die nachgebildet waren nach afrikanischen Frauen mit spitzen Brüsten, in dem Atelier kam eine bunte Truppe zusammen, und man bewegte sich dort oft auch nackt, und das war ganz sicherlich nicht der Kontext, in dem sich eine Achtjährige zuhause gefühlt hat. Das ist ganz sicher nicht der Fall gewesen."
Es ist nun freilich nicht so, dass die Schau ansetzt, den Künstlermythos Kirchner zu entzaubern. Die Bilder sind das eine, und der kommentierende Katalog ist das notwendige Korrektiv, auch in Bezug auf die Rolle, wie Kirchner durch trickreiche Manöver die Rezeption seines Werks in der Öffentlichkeit steuerte.
"1924 sagt Kirchner: ‚Die Fabrikmarke meiner Kunst ist E.L. Kirchner und nichts weiter.’ Und das ist ein Künstlerverständnis, in den 20er-Jahren schon, das wir eher mit der Pop Art oder anderem in Verbindung bringen. Also sich selber als Fabrikmarke zu bezeichnen, als Künstler, das ist verblüffend."
Seiner Zeit voraus war Kirchner auch in seinem Spätwerk, dessen dekorative und kurvige Formensprache bis heute stark umstritten ist. Hier wird es erstmals breit zur Diskussion gestellt, um eines klar zu machen:
"Dass es nicht nur den Kirchner gibt, den Brücke-Kirchner, den Kirchner, der die Straßenszenen malt, den Kirchner, der dann zum Alpenmaler, zum Maler der Davoser Landschaft wird, sondern dass es dann auch noch den Kirchner des Spätwerks gibt, der weit in die Abstraktion vordringt. Das ist herrlich poppig, das ist bunt, das sieht nach 50er-, 60er-Jahre aus. Und das könnte heute auch in Galerien hängen."
Service:
Die Ausstellung ist bis zum 25. Juli 2010 im Frankfurter Städel-Museum zu sehen.