Reichspräsident Paul von Hindenburg verlor, wie zu erwarten war, die Fassung. Und willigte ein, dass man mit Hitler verhandele und seine Bedingungen annehme.
Weltkriege und Mauerfall
Wie hier in New York demonstrierten auch in Deutschland im Sommer 1914 Menschen für Frieden. Ohne Erfolg, wie wir wissen. Der Erste Weltkrieg tobte bis 1918. © imago images / glasshouseimages / Circa Images
Es hätte auch anders kommen können
13:56 Minuten
Weltkriege, Nationalsozialismus, die friedliche Revolution in der DDR – immer wieder fragen sich Historiker und Historikerinnen, wie Geschichte noch hätte verlaufen können. Auch die Berliner Ausstellung „Roads not taken“ fragt danach.
Wie kann man etwas abbilden, das nicht stattgefunden hat? Vielleicht einen Roman schreiben. In Philip K. Dicks Science-Fiction-Erzählung „The Man in the High Castle“ zum Beispiel haben die Achsenmächte den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Nazideutschland und das faschistische Japan haben die USA besetzt. Zum Glück, nur eine düstere Fantasie: Belletristik, keine Wissenschaft.
Aber die Frage bleibt spannend: Was hätte sein können? Genau hier setzt die Berliner Ausstellung „Roads not taken“ an. Allerdings: wissenschaftlich, nicht belletristisch. Nach einer Idee des deutsch-israelischen Historikers Dan Diner werden sogenannte historische Wendepunkte identifiziert, ausgehend von bekannten Daten der deutschen Geschichte. Zum Beispiel den 30. Januar 1933, sagt Lili Reyels, Mitglied des dreiköpfigen Kurator*innen-Teams.
Hätte Hitler verhindert werden können?
„Hätte Hitler auch innenpolitisch verhindert werden können? Diese Frage haben sich natürlich schon sehr, sehr viele Historikerinnen und Historiker gestellt. Für mich war eine überraschende Erinnerung, dass in dem Fall die Alternative vom rechtskonservativen Lager kam. Es lag das Gerücht in der Luft, dass ein Putsch der Reichswehr ein Kabinett von Papen und Hitler verhindern könnte.“
Zur Erinnerung: Franz von Papen trug maßgeblich zur Machtübergabe an die Nazis bei. Die Gerüchte eines Putsches gegen sein Kabinett erzeugten eine hektische Atmosphäre und beeinflussten dadurch Zeitgenoss:innen. Das belegen Aufzeichnungen von Zeitzeug:innen, dargestellt in einer Toncollage. So erinnert sich Heinrich Brüning, Reichskanzler von 1930 bis 1932 und bekannt durch seine Notverordnungen:
Was wäre gewesen, wenn der Putsch tatsächlich stattgefunden hätte? Das will die Ausstellung nicht beantworten, sondern genau solche Fragen provozieren. Es geht um den Spannungsbogen zwischen Geschichte gewordener Gegenwart und nicht realisierten Möglichkeiten. Und nicht um kontrafaktische oder alternative Erzählungen, betont Kurator Stefan Paul-Jakobs:
„Nicht wir als Kuratoren denken uns aus, wie eine bestimmte Situation hätte entstehen können, sondern wir befragen Zeitzeugen, die ihre Einschätzung von der konkreten historischen Situation geben, die aber dann anders verlaufen ist, und nehmen sozusagen deren Aussage als Ankerpunkt, um dieses Bild, diesen Möglichkeitsraum zu entwickeln.“
Es gibt entscheidende Momente zum Handeln
Diese Räume sind gebunden an ihre Zeit, betont Lili Reyels. Sie sind aber nie alternativlos:
„Insofern kann man sagen, die handelnden Akteure stehen vor Dilemmata, vor Entscheidungen, sie sind selbst in Strukturen eingebunden, aber sie setzen natürlich auch Strukturen, entscheiden sich für bestimmte Handlungen. Der Möglichkeitsraum ist eigentlich immer ein Moment in der Geschichte, wo es eben so oder so hätte laufen können.“
„Wir steigen an jedem dieser 14 Wendepunkte richtig tief in die Zeit ein und schauen uns ganz konkret die Zukunftsvorstellungen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen an, und die sind natürlich unterschiedlich“, ergänzt Kuratorin Julia Franke.
Solche Zukunftsvorstellungen können ganz konkrete, materielle Dinge hervorbringen. Zum Beispiel die Angst vor einem Massaker im Herbst 1989 in der DDR – so wie im Juni desselben Jahres auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Am 4. November 1989 etwa tauchte in Ostberlin ein Schild auf das Egon Krenz, adressierte. Also den Nachfolger von Erich Honnecker als Generalsekretär des Zentralkomitees der SED
„Mit der Aufschrift ´Achtung Krenz, das ist der himmlische Frieden`. Also politische Forderungen oder Vorstellungen an die Zukunft materialisieren sich ja oft in Sprüchen oder Aufschriften auf politischen Transparenten. Und eins davon zeigen wir auch in der Ausstellung“, sagt Julia Franke.
Dominante Geschichtserzählung
Es sind also nicht nur Eliten, die bestimmen, wohin die Reise geht. Allerdings: Was überhaupt überliefert wird, das orientiert sich stark an der dominanten Geschichtserzählung – und dazu gehört das Wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist, erklärt Julia Franke:
„Und das war natürlich eine Herausforderung, die Dinge zu finden, die eben das nicht Eingetretene dokumentieren. Eben genau aus dem Grund, dass Museen und Archive eben ein bestimmtes Wissen bevorzugen und dann eben auch letzten Endes abbilden.“
Das macht es zum Beispiel für den Sommer 1914 schwierig, das Gegenbild zur Kriegsbegeisterung zu finden. Und das, obwohl es viele Massendemonstrationen gab, erzählt Stefan Paul-Jakobs:
„Wir zeigen in der Ausstellung, soweit wir wissen, das einzige Foto einer solchen großen Friedensdemonstration hier in Berlin hin zum Treptower Park. Um zu zeigen: Eigentlich hätte die Basis, wenn sie gefragt worden wäre, das klingt jetzt sehr modern, anders entschieden. Aber letztlich hat die Elite der Partei der Sozialdemokratie sich dann dazu entschieden, mit den Burgfrieden den sogenannten zu verabschieden.“
Von unserer Gegenwart aus befragt man die Geschichte: Hätte es auch anders kommen können? Um diese Frage stellen zu können, sollte man sich lösen von einem vielleicht lieb gewonnenen Gedanken. Nämlich, dass die Geschichte sich ganz geordnet und sinnvoll entwickelt hat in Richtung Gegenwart. Dabei soll der Aufbau der Ausstellung helfen, sagt Julia Franke.
„Im Grunde erzählt die Ausstellung auch rückwärts. Wir fangen 1989 an und enden 1848, damit gar nicht erst der Eindruck entsteht, eins ergibt sich aus dem anderen. Gerade diese teleologische Erzählweise wollen wir ja aufbrechen und eben auch dafür zu sensibilisieren, dass Geschichte und unsere Gegenwart letzten Endes auch grundsätzlich offen sind.“
Denn festgeschrieben ist die Zukunft nur in Science-Fiction Romanen.
Die Ausstellung „Roads not taken“ ist noch bis zum 24. November 2024 im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen.