Historiker Uwe Westphal über die Verfolgung jüdischer Modemacher

"Es besteht ein Kartell des Schweigens"

10:31 Minuten
Elegante Mitarbeiterinnen des Konfektionsunternehmens Leopold Seligmann am Hausvogteiplatz in Berlin posieren vor Kleiderstangen mit angefertigter Mode.
Der Berliner Modemacher Leopold Seligmann gestattete 1930 diese Aufnahmen für Werbezwecke. 1939 flüchtete er zunächst nach England, dann in die USA. © Archiv Uwe Westphal
Uwe Westphal im Gespräch mit Maike Albath · 18.05.2019
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Berlin war vor der Machtübergabe an die Nazis eine pulsierende Modemetropole. Beteiligt an dem Erfolg waren auch viele jüdische Modemacher. Ihre Verfolgung und Vernichtung wird in der Branche nicht thematisiert, kritisiert Historiker Uwe Westphal.
Maike Albath: Schmale Silhouette, kurze Haare, schwingende Kleider mit sehr raffinierten Ausschnitten – so stelle ich mir die Berliner der 1920er-Jahre vor. Und dass das so ist, liegt auch an einem neuen Buch von Uwe Westphal, Journalist und Autor, er hat sich mit der Modemetropole Berlin zwischen 1836 und 1939 beschäftigt.
Diese Modezeichnung aus dem "Bazar" zeigt mehrere Frauen im "Berliner Chic" der 20er-Jahre.
Bubikopf, tiefe Taille – diese Modezeichnung aus dem "Bazar" zeigt mehrere Frauen im "Berliner Chic" der 20er-Jahre.© Archiv Uwe Westphal / Bazar
"Entstehung und Zerstörung der jüdischen Konfektionshäuser", der Untertitel Ihres Bandes deutet die Richtung an, in die sich die international sehr erfolgreiche Branche später entwickelte. Fangen wir mal mit der Entstehung an, wie haben sich diese Unternehmen überhaupt etabliert?
Uwe Westphal: Die Voraussetzung für die später große Zahl von jüdischen Unternehmen in dem Berliner Bekleidungsgewerbe war eigentlich eine Gesetzgebung, die Napoleon durchgesetzt hat, nämlich die Freigabe der Gewerbebetriebe auch für jüdische Gewerbetreibende um 1812. Dazu kam, dass es aufgrund unendlich vieler Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung in osteuropäischen Ländern einen Zustrom Richtung Berlin gab.
Berlin entwickelte sich immer mehr zu einer wirklich zentralen Stadt. Es gab es auch sehr viele jüdische Schneider, Geschäftsleute, die 1836 gesagt haben: Wir steigen jetzt in diesem Bereich ein.

Die Erfindung der Konfektionsmode

Albath: Und die waren sehr innovativ. Können Sie uns einen typischen Unternehmer des 20. Jahrhunderts skizzieren? Was waren das für Leute?
Westphal: Es waren Leute, die zwei große Talente hatten: Erstens war es großes Wissen über die Schneiderei, über die Schnittmusterentwicklung. Zweitens sehr viel Bewusstsein und Ahnung über Stoffe und Materialien. Und letztlich wussten sie auch sehr gut, wie man ein Geschäft aufbaut, das durchaus auch größere Produktionszahlen erzielen kann.
Konfektionierte Mode, eine Mode nach standardisierten Maßen hergestellt, gab es bis zu dem Zeitpunkt nicht. Es gab Maßbekleidung, die deutsche Schneider machten. Größe 36, 38, 44 und so weiter, das gab es damals nicht. Das haben jüdische Firmen, jüdische Schneider entwickelt, ein Schnittmustersystem. Danach wurden standardisierte Maße weiterentwickelt. Daraus entstand eine seriell gefertigte Kleidung.
Das waren Start-Ups. 1918 gab es natürlich eine Zäsur: Es gab eine große Inflation und die Unruhen waren da. Berlin hatte aber wiederum einen großen Zulauf von Fremden, von Ausländern, die diese Stadt erst zu dem gemacht haben, was sie war, nämlich eine kulturelle Metropole. Die Mode hat es in diesem Zeitraum verstanden – und gerade die Modedesigner –, sich tatsächlich auch mit der Kultur, der Kunst, der Architektur und allem, was da war, auch auseinanderzusetzen. In der Akademie der Künste in Berlin gab es zehn Modedesigner, die dort Mitglieder waren. Undenkbar war das bis zu diesem Zeitpunkt.
Eines der wenigen verbliebenen Fotos, das die Innenräume des Berliner Modeunternehmens von Leopold Seligmann zeigt (1930): Mehrere elegant gekleidete Angestellte packen Kleidungsstücke in Kisten und Kartons.
Anfang des 20. Jahrhunderts prägten jüdische Schneider und Unternehmer die Berliner Modeszene. © Archiv Uwe Westphal
Albath: Verblüffend.
Westphal: Absolut, weil einfach diese Symbiose von Kultur, Bekleidung, Mode, Theater, Kunst, die ging zusammen. Es gab dreimal pro Jahr neue Kollektionen, und das war natürlich etwas, was dann auch in den großen Warenhäusern angepriesen wurde. Größere Firmen waren Nathan Israel, Herrmann Gerson, Valentin Mannheimer, das waren die Galionsfiguren. Und dann gab es unendlich viele andere, die alle um den Hausvogteiplatz ihre Firmen angesiedelt haben und sehr stark für das wirtschaftlich prosperierende Berlin auch zuständig waren.
Albath: Das ist auch etwas, was man aus Ihrem Buch erfährt, anhand von Fotos und Zeichnungen, wie lebendig die Gegend um den Hausvogteiplatz war. Nun ist es fast überraschend, sich zu vergegenwärtigen, dass das Ganze umschlug. Wann passierte das, war das genau mit der Machtergreifung Hitlers oder deuteten sich die Umbrüche schon vorher an?
Westphal: Es gab antisemitische, antijüdische Ausfälle auch in den 20er-Jahren, aber die bekamen nicht die Bedeutung. Das ging in der Tat los, wie Sie sagen, mit der Machtübergabe an Adolf Hitler. Am 1. April 1933 gab es die ersten Boykotte von jüdischen Bekleidungsfirmen und Geschäften. Dann ging es sukzessive los, dass immer mehr der Kreis um diese jüdische Gewerbebetriebe gezogen wurde.
Näherinnen des Berliner Modemachers Leopold Seligmann sitzen an ihren Arbeitstischen.
"Die Berliner Modeindustrie hatte fast 98.000 Beschäftigte", sagt der Historiker Uwe Westphal.© Archiv Uwe Westphal
Man darf nicht vergessen, es waren 2700 in Berlin, die Berliner Modeindustrie hatte fast 98.000 Beschäftigte. Sie war demzufolge eine der größten Industrien in Berlin. Und das war natürlich etwas, womit die Nationalsozialisten versucht haben, diese Branche für sich zu übernehmen. Sie haben sukzessiv die jüdischen Firmen aus diesem Kontext rausgeschmissen.
Das war drastisch zu sehen: Bankkredite wurden gesperrt, Zulieferungen wurden gesperrt. Alle diese Faktoren, die spielten eine wichtige Rolle. 1936 hatten schon mehr als 800 Firmen Berlin verlassen; jüdische Firmen sind nach England, nach Holland, nach Frankreich gegangen – und das dramatisierte sich dann noch mehr.

Gewerkschaften gab es kaum

Albath: Sie schildern, wie schwierig es auch für die Firmeninhaber war, überhaupt an ihr Vermögen zu kommen. Was mich sehr wundert: Wenn Sie sagen, es sei so prosperierend gewesen und ein so wichtiger Industriezweig für die Stadt, warum gab es dann keine Proteste von den Zulieferern und von alle denen, die auch an dieser Branche hingen, die daran angebunden waren? Von Stofffabrikanten oder auch die Angestellten, die Näherinnen. Sie haben viele Zeitzeugen in Ihrem Buch, die zu Wort kommen. Kam es nicht zu kritischen Reaktionen auch von Seiten der Stadt?
Westphal: Überhaupt nicht. Das ist das Erstaunliche und das zeichnet auch die Bekleidungsindustrie in Berlin ein bisschen aus. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad war gerade mal bei acht Prozent. Das liegt aber auch daran, weil es schon 30, 40 Jahre vorher sehr viele Heimwerkstätten gab. Das heißt, Berliner Mode wurde in den Außenbezirken Berlins in den Heimwerkstätten produziert. Und man kann durchaus sagen zu 95 Prozent von Frauen, die miserabel bezahlt wurden.
Das heißt, es gab kaum Interessensvertretung. Dazu kommt aber noch, dass die ganzen Stofflieferanten, auch die deutschen, auf Staatsaufträge spekuliert haben und sich demzufolge sehr zurückgehalten haben, sich politisch nur in irgendeiner Weise zu äußern. Diese Art des Opportunismus, die hat weiterhin angehalten, noch bis nach dem Krieg.
Cover der Wirtschaftsillustrierten "Arbeit und Wehr" (Juni 1938). Es zeigt eine blonde Frau in einer schlichten, weißen Bluse von dem Label "ADEFA" (deutsche Ware aus arischer Hand").
Das Siegel „ADEFA“ stand für „deutsche Ware aus arischer Hand“ und ein völlig verändertes Frauenbild.© Archiv Uwe Westphal / ADEFA
Albath: Wie sah dann die Mode aus, diese zurückgebliebene Mode von den deutschen Firmen, jenseits der Soldatenuniformen und was dann so angefertigt wurde?
Westphal: Das Drastischste, was ich in einem polnischen Archiv gefunden habe, war, dass es sogar einen Modesalon in Auschwitz gab, den die Nationalsozialisten und die Leiter dieses Konzentrationslagers eingerichtet haben. Da waren 24 Frauen drin, die haben für die Nazielite erstklassige Mode produziert.
Albath: Da zeigt sich der Zynismus dieser Situation damals.

Heutige Modemacher schweigen

Westphal: Ja. Aber huckepack zu dem, sind zum Beispiel große deutsche Firmen wie Joseph Neckermannda draufgesprungen. Die deutschen Modefirmen – es gab ja keine jüdischen Vertreter mehr da drin –, die haben ihre Mode in den Zwangsarbeitslagern produzieren lassen. Das war schon eine bittere Ironie.
Albath: Sie schildern auch die Situation, die die Voraussetzung ist für Ihre Recherche. Wie kommt es, dass dieses Thema so unterbelichtet ist, haben Sie dafür eine Erklärung. Passt das nicht, diese Brutalität, zum Genre der Mode?
Westphal: Die Frage, die Sie mir stellen, die stelle ich mir in der Tat schon gut 25 Jahre. Ich habe das immer wieder versucht herauszufinden. Ich habe mit fast allen Vertretern der Verbände, der Interessensorganisationen gesprochen, bis heute zum Fashion Council Germany, die für die Fashion Week in Berlin auch zuständig sind.
Es gibt eine gewisse, wenn man es positiv sagt, eine Laissez-faire-Haltung. Es wird nicht darauf geachtet, was deutsche Mode auch historisch ausgemacht hat, welchen Anteil die jüdischen Modeschöpfer hatten. Das ist etwas, was sich Paris, was sich London überhaupt nicht erlauben kann. Sie referieren immer wieder zurück auf ihre Vergangenheit.
In Deutschland fängt die Gegenwart der Mode vielleicht 1948, 1950 an. Es gibt keine Bereitschaft, tatsächlich auch zurückzugucken, welchen Anteil die Bekleidungsindustrie an der Konfiszierung von jüdischem Eigentum hatte und nicht zuletzt auch am Mord von zigtausenden Beschäftigten in der Berliner Bekleidungsindustrie. Das wird ausgeschnitten. Es ist ein Kartell des Schweigens, was dort besteht.

Uwe Westphal: "Modemetropole Berlin 1836 bis 1939 – Entstehung und Zerstörung der jüdischen Konfektionshäuser"
Henschel Verlag 2019
272 Seiten, 28 Euro

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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