Historiker Lutz Raphael über Deindustrialisierung

Wie die Arbeiter ihr Milieu verloren

12:28 Minuten
Eine ehemalige Industriehalle in Kalk, Köln, in der noch Reste der alten Produktion zu erkennen sind.
Von der Produktionsstätte zum Industriedenkmal, wie diese ehemalige Fertigungshalle in Kalkl: Viele Orte und Regionen wurden durch die Deindustrialisierung abgehängt. © Picture Alliance / dpa / Christoph Hardt / Geisler-Fotopress
Raphael Lutz im Gespräch mit Florian Felix Weyh · 22.06.2019
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Früher wählten Arbeiter linke Parteien. Heute machen nicht wenige von ihnen ihr Kreuz bei Rechtspopulisten. Um das zu verstehen, muss man die Deindustrialisierung in den Blick nehmen, sagt der Historiker Lutz Raphael.
Florian Felix Weyh: Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte lässt sich aus der Sicht von Gewinnern oder aus der Sicht von Verlierern erzählen, häufig überwiegt Ersteres. Es ist wahrscheinlich auch einfacher. Der Trierer Historiker Lutz Raphael steht dagegen der Obsession für Fortschritts- und Wachstumserzählungen skeptisch gegenüber und beschreibt in seiner groß angelegten Studie "Jenseits von Kohle und Stahl" einen Schrumpfungsprozess, ja das Verschwinden eines ganzen Milieus der Industriearbeiterschaft.
Gibt es wirklich keine Industriearbeiter mehr? Nein, gibt es doch noch, nur ihr Milieu ist weg.
Raphael: Das ist sicher richtig so, wie Sie das formulieren. Vor allen Dingen ist die Industriearbeit, die auch heute noch zumindest in der Bundesrepublik nicht nur ganz wichtig für den Wirtschaftsprozess insgesamt ist, sondern auch eine Menge Menschen beschäftigt, diese Industriearbeit ist unsichtbarer geworden. Das macht auch einen großen Unterschied aus.
Nicht nur Milieus sind verschwunden – denken Sie an den Bergmann, an den Stahlarbeiter, also all das, was wir im Deutschen mit dem Wort Maloche und Malocher belegen –, sondern die Sichtbarkeit von Industriearbeit ist merkwürdigerweise auch mit verschwunden. Deshalb ist es häufig so schwierig, überhaupt Menschen klarzumachen, dass Westeuropa natürlich immer noch im ganz wesentlichen Teil seiner Wirtschaftskraft auf industrielle Leistungen beruht.

Gesellschaft steht auf dem Prüfstand

Weyh: Sie beschreiben das in drei Ländern: in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Aber bevor die Industriearbeit verschwand, sagen Sie, verschwand etwas anderes: In den Nachkriegsjahrzehnten war das das Ende der Proletarität. Was bedeutete denn das bis Anfang der 70er-Jahre?
Der Historiker Lutz Raphael, aufgenommen am 14.09.2009 in seinem Büro in Trier. Raphael ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier.
Beschäftigt sich mit Arbeitern und ihrem schwindenden Milieu: Historiker Lutz Raphael.© privat
Raphael: Das bedeutete noch zum einen, dass Industriearbeiter und mit Einschränkung auch Industriearbeiterinnen immer mehr Anteil am gesellschaftlichen Reichtum bekamen, dass ihnen auch die gesellschaftliche Anerkennung zukam, die ihnen lange Zeit in den Ländern verwehrt wurde. Diese Stufe ist von einem englischen Soziologen mit Recht als die Zeit des Industriebürgertums beschrieben worden. Man kann das an Kleinigkeiten sehen: Die vielen Nachteile, die Industriearbeiter noch hinnehmen mussten im Vergleich zu Beamten und Angestellten, sind nach und nach, und vor allen Dingen dann in den 70er-Jahren, abgeschafft worden.
Diese Form der demokratisch doch so wichtigen Beziehungsgleichheit schien überall gesichert und hergestellt. In dem Augenblick kam es zu dem Prozess der Deindustrialisierung. Damit wurde gewissermaßen dieser erreichte Standard von gesellschaftlicher Beziehungsgleichheit plötzlich wieder auf den Prüfstand gestellt, und in vielen Regionen verschwand das dann.

Internationale Arbeitsteilung hat sich verändert

Weyh: Warum passierte das und warum Anfang der 80er-Jahre?
Raphael: Im Grunde sind es mehrere: Zum einen spielt die Verschiebung in den Weltmärkten für Industrieprodukte eine Rolle. Mit den beiden Ölkrisen, also '73, '74 und dann '80, '82, erhöhte sich all das, was Energie im industriellen Prozess kostet. Damit war aber auch verbunden, dass parallel dazu mit den doch relativ hohen Löhnen die Produkte, die in Westeuropa hergestellt wurden, weltweit nicht mehr konkurrenzfähig waren. Dieser Prozess des Aufholens anderer Industrieländer – vor allen Dingen an ostasiatische Länder – hatte in den 60er- und vor allen den 70er-Jahren Fahr aufgenommen.
Das bedeutete nun, dass es zu Neuverteilungen in der internationalen Arbeitsteilung industrieller Produktion kam. Darauf mussten sich alle Branchen in Westeuropa, die industrielle Produkte fertigten einstellen. Ein Ergebnis war, dass bestimmte Branchen fast verschwanden. Wir denken immer an den Stahl, wir denken an die Bergleute, vor allen Dingen in Großbritannien, weil es so dramatisch auch in diesem großen Bergarbeiterstreik ausgefochten wurde. Aber denken Sie bitte auch an die Textilindustrie, wo zum Beispiel sehr viele Textilarbeiterinnen beschäftigt waren, die typischerweise, ich sage nicht spurlos ihren Arbeitsplatz verloren, aber wo die großen Auseinandersetzungen natürlich fehlten.

Rechte punkten bei Arbeitern

Weyh: Nun mache ich mal einen Sprung und rolle etwas von hinten auf. Ein Zitat von Ihnen: "Die derzeit zu beobachtenden wachsende Unterstützung von Arbeiterinnen und Arbeitern für rechtspopulistische Parteien und Politiker ist ohne diese Vorgeschichte jedenfalls kaum zu verstehen." Die Vorgeschichte haben Sie vorher erzählt, jetzt müssen Sie sie nachtragen für den Hörer. Warum gibt es so einen Bogen von Leuten, wo man sagt, Arbeitermilieu eher links, heute zu rechts. Was ist diese Vorgeschichte?
Raphael: Die Vorgeschichte ist eine lange, und sie ist sicherlich auch kompliziert, aber man kann sich dem nicht entziehen, dass man folgende Beobachtungen machen muss und dann zu einem diesen, ich nenne es mal Syndrom des politischen Verlassenwerdens zusammenbringt. Der erste Punkt ist: In allen drei Ländern können Sie beobachten, wie die Verbindungen zwischen Gewerkschaften und ihrem Herkunftsmilieu schwächer werden, gleichzeitig die Verbindung zwischen Gewerkschaften und Volksparteien der linken Mitte oder links schwächer werden, dass in einem nächsten Schritt auch die Mitgliedschaften in diesen Organisationen nachlassen und die Milieus auseinanderdriften, die vorher zu dieser Repräsentation dieses Ausschnitts der Arbeitswelt und der sozialen Milieus auf der politischen Ebene bei der kollektiven Interessensvertretung geführt hatten.
Stellen Sie sich also vor, dass in diesem Prozess, der sehr langsam, aber auch sehr lange anhielt, die Leute sich gewissermaßen verlassen fühlten. Gleichzeitig aber baute sich vielfach mit den Erfahrungen, die mit dieser Deindustrialisierung verbunden waren, also auch der Verwahrlosung von Stadtteilen, dem Niedergang ganzer Regionen, der Eindruck auf, dass die eigenen Sorgen, die eigenen Interessen kaum noch Berücksichtigung fanden. Die Zukunft schien verbaut, und in diesen Situationen konnten rechtspopulistische Organisationen, Parteien entsprechend Punkte machen.
Ganz deutlich ist das in Frankreich zu beobachten, wo es gewissermaßen zwei Wellen der Zustimmung zum Front National gab. Die erste Welle im Zusammenhang mit den großen Problemen, die vor allen Dingen in den Sozialblocks der Banlieue auftauchten, die verwahrlost wurden, in denen ständig nachrückende Migranten und Asylbewerber untergebracht wurden und die dort lebenden Arbeiter sich mehr oder weniger nicht mehr heimisch fühlten und auszogen.
Da haben Sie ein erstes Milieu, wo man typischerweise beobachten kann, dass der Front National plötzlich – und da sind wir jetzt in den 80er-, 90er-Jahren – große Wahlerfolge hat. Die heutigen Wahlerfolge des Front National finden ganz unauffällig in Randzonen statt, in Gegenden, in denen kaum, ganz ähnlich wie bei uns, solche Arbeitsmigranten, Zuwanderer heute leben, in denen aber die Spätfolgen dieser, ich nenne das an den Rand drängen oder peripherisieren, diese Prozesse ganz deutlich langfristige Spuren hinterlassen haben. Das wäre meine aus der Sicht der Sozialgeschichte argumentierende Teilerklärung für die Erfolge der rechtspopulistischen Parteien in diesen Milieus.

Die SPD müsste aus Fehlern lernen

Weyh:Was bedeutet das für die altehrwürdige Arbeitermilieupartei SPD? Hat die überhaupt noch eine Chance?
Raphael: Natürlich hat die SPD, wie alle anderen Parteien auch, ihre Chance. Sie kann aus den Erfahrungen lernen, wie ich sie in diesem Buch versucht habe aus historischer Sicht nachzuzeichnen. Sie ist schon lange nicht mehr eine Arbeiterpartei. Sie trägt gewissermaßen dieses Ehrenemblem mit sich rum. Schon als die Geschichte, die ich erzähle, in den 80er-Jahren anfängt, ist sie im Wesentlichen eine Partei des öffentlichen Dienstes. Das heißt, diese Distanz, die Parteien immer wieder auch gegenüber ihren Wählern haben, ist doch kein Hinderungsgrund, um sich daran zu orientieren, was die Bedürfnisse der vielen, die lohnabhängig beschäftigt sind – und das sind heute eben die meisten in häufig gar nicht so gut bezahlten, in manchen Bereichen sogar ganz schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs –, was diesen Leuten auf den Nägeln brennt.
Ich finde, eine Partei muss das nicht fatal hinnehmen. Das ist ein Problem der politischen Arbeit und dann auch der Überzeugungskraft. Aber an der Stelle würde ich sagen, aus der Geschichte lernen heißt, dass man Prozesse auch stoppen und aus bestimmten Konstellationen vielleicht etwas für die Zukunft mitnehmen kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Lutz Raphael: "Jenseits von Kohle und Stahl"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
525 Seiten, 32 Euro

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