Historiker hält kritische Neuausgabe von "Mein Kampf" für vertretbar

Moderation: Liane von Billerbeck |
Nach Auffassung des Historikers Hans-Ulrich Wehler ist Deutschland reif für eine wissenschaftlich überarbeitete und kommentierte Neu-Herausgabe von Adolf Hitlers "Mein Kampf". Der Nationalsozialismus und die Inhalte von "Mein Kampf" seien in den vergangenen Jahrzehnten ausführlich interpretiert und kritisch aufbereitet worden. Eine kritische Neuausgabe werde keineswegs eine Bibel der Rechtsradikalen, so Wehler.
Liane von Billerbeck: Man kann das Buch in England und den USA kaufen, aber auch in Israel und in arabischen Staaten, Adolf Hitlers "Mein Kampf", geschrieben 1924/25. In Deutschland steht es auf dem Index, die Rechte daran hält das Land Bayern, das bis 2015, also 70 Jahre nach Hitlers Tod, darüber wacht, dass es hierzulande nicht gedruckt wird. Jedoch, was nutzt ein solches Verbot, wenn es sich dank Globalisierung und Internet ziemlich mühelos umgehen lässt? Wäre es nicht an der Zeit, eine kommentierte Ausgabe von "Mein Kampf" herauszugeben, wie das viele Historiker seit Monaten fordern?

Gestern fragten wir bei der Bundeszentrale für politische Bildung nach. Der dortige Fachbereichsleiter Print, Hans-Georg Golz, lehnte das für sein Haus ab. Heute wollen wir von dem Historiker Hans-Ulrich Wehler wissen, warum er für eine solche kommentierte Ausgabe von "Mein Kampf" plädiert. Mit ihm bin ich jetzt in Bielefeld verbunden. Ich grüße Sie!

Hans-Ulrich Wehler: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!

von Billerbeck: Es gibt 13 Bände mit Hitlers Reden und Anordnungen, Goebbels Tagebücher in 29 Bänden und sogar den Dienstkalender Heinrich Himmlers. Es gibt auch eine Studie zur Geschichte von Hitlers "Mein Kampf". Nur das Buch selbst kann man nicht kaufen. Warum?

Wehler: Ja, das ist kurios. Das hängt natürlich damit zusammen, dass sich in Hitler einmal alle Destruktivkräfte des frühen 20. Jahrhunderts zusammengeballt haben und er den Zweiten Weltkrieg ausgelöst und den Holocaust maßgeblich beeinflusst hat. Da gibt es sozusagen eine tief verankerte Scheu, was diesen Text angeht, den Hitler auf der Festung Landsberg geschrieben hat, als er nach einem gescheiterten Putsch in München zu einer sehr komfortablen Haft verurteilt wurde.

Ich finde diese Tabuisierung außerordentlich töricht. Der Mann ist, um das mit Hegels Worten auszudrücken, ein welthistorisches Individuum, was einmal mehr als zehn, zwölf Jahre lang die Welt in Bann gehalten hat und eine unglaubliche Zerstörung über sie gebracht hat. Und da sollte man einen solchen Schlüsseltext wie "Mein Kampf" endlich in einer von Historikern sorgfältig edierten Fassung besitzen. Dann könnte man auch in den Universitäten aufhören, immer nach Antiquariatsexemplaren zu jagen, denn die gibt es natürlich überall zu kaufen. Sondern man könnte diesen sorgfältig kommentierten Text zugrunde legen.

von Billerbeck: Anders als sonst, wo die Rechteinhaber von Werken vor fremden Zugriff auf ihr Werk geschützt werden sollen, wird ja hier, weil das Land Bayern im Besitz der Rechte ist, quasi der Leser vor dem Buch beschützt. Wann ist denn der deutsche Leser mündig genug, um "Mein Kampf" zu lesen?

Wehler: Ja, das ist er längst. Es ist eine der großen Leistungen der deutschen Zeitgeschichte, und die Zeitgeschichte ist eine Erfindung westdeutscher Historiker, dass es ihr gelungen ist, sozusagen diese jüngste deutsche Vergangenheit in einem Maße aufzuarbeiten und zu interpretieren, dass man längst, wenn man sozusagen an den Niederschlag in Schulbüchern oder Unterrichtsmaterialien für die Universität denkt, dass es längst diesen mündigen Leser gibt.

Die derzeitige Studentengeneration, für die liegt das sogenannte Dritte Reich so weit zurück wie die jüngere Steinzeit. Und da braucht man nicht Angst zu haben, dass man durch eine Neuausgabe von "Mein Kampf", die endlich die vielen Stellen, die für den gegenwärtigen Leser sehr, sehr schwer verständlich sind, die Anspielungen auf alte antisemitische Verbände, auf Figuren der Weimarer Republik, auf die ganze Debatte nach dem Ersten Weltkrieg, das müsste einmal sorgfältig aufgeschlüsselt und sozusagen für den gegenwärtigen Leser dargebracht werden. Und dann hätte man einfach eine sauber edierte Quelle.

Und ich kann mir nicht vorstellen, es ist ja gewiss richtig, dass jeder Glatzkopf einer zu viel ist, ich kann mir nicht vorstellen, dass diese historisch edierte Ausgabe, von Fachleuten herausgegebene Ausgabe, dass die sozusagen ein heiliger Text der Rechtsradikalen werden würde. Das ist in gewisser Hinsicht die alte Ausgabe von "Mein Kampf" in diesen kleinen Zirkeln ohnehin.

von Billerbeck: "Mein Kampf", so sagen es ja alle, die das Buch kennen, ist nicht nur schwülstig und ziemlich scheußlich geschrieben, es strotzt auch nur so von falschen Angaben. Die werden ja in einer kommentierten Ausgabe richtiggestellt. Aber wird das Buch dadurch nicht noch unlesbar, ich sage mal, zwei Zeilen Text von Hitler und dann drei Seiten Anmerkungen?

Wehler: Na gut, das wären sozusagen völlig asymmetrisch oder disproportionale Größenverhältnisse. Hitler gibt ja damals als Beruf immer an Schriftsteller. Und bis auf die allerletzte Rede muss man davon ausgehen, dass Hitler seine Reden selber geschrieben hat. Er hat keinen Ghostwriter beschäftigt. Also hat Hitler, allerdings in Zusammenarbeit mit seinem damaligen Privatsekretär Rudolf Heß, der später sein Stellvertreter in der Partei wurde und dann nach England geflogen ist, hat Hitler damals mit Rudolf Heß diesen Text offenbar wirklich selber in zwei Etappen niedergeschrieben. Der Stil ist für unser Sprachempfinden unerträglich. Deshalb trifft auch die sozusagen volkstümliche Kommentierung "den Quatsch hat ja ohnehin damals keiner gelesen" trifft im Allgemeinen zu.

Aber Hitler enthüllt doch mit einer Genauigkeit und Offenheit und Unverfrorenheit das ganze Panorama seiner leitenden Vorstellung, Vorstellungen, dass es für die Ausbildung von jüngeren Lehrern, von Historikern im Allgemeinen, für die zahllosen Akademien und ähnliche Körperschaften, die es in der Bundesrepublik gibt, einfach wichtig wäre, ein solchen Text zu haben, wo man nicht mühsam im "Brockhaus" oder Internet nachschlagen müsste, wer denn Herr Klaas ist, der Leiter des Alldeutschen Verbandes, sondern wo ein Historiker ganz kurz, präzis den Klaas vorstellen würde.

Ich glaube nicht, dass der Text übermäßig befrachtet würde. Aber es wäre endlich eine historisch haltbare Ausgabe.

von Billerbeck: Hans-Georg Golz, den wir gestern hier im "Radiofeuilleton" interviewt haben von der Bundeszentrale für politische Bildung, der hat ja eher bezweifelt, dass es dafür ein großes Leseinteresse gab und gibt. Hören wir das vielleicht mal. ( MP3-Audio )

Hans-Georg Golz: "Das Verbot ist sicherlich nicht mehr angemessen. Nun muss man sich allerdings die Frage stellen, wie man es aufhebt. Man kann es ja eigentlich nur mit einem politischen Akt aufheben. Die Rechteinhaberin, die Landesregierung des Freistaates Bayern, müsste sagen, hiermit geben wir das Verbot von 'Mein Kampf' frei. Das wiederum ist ein politischer Akt mit einer gewissen Außenwirkung. Wie man aus diesem Dilemma herauskommen will, das kann ich Ihnen auch nicht sagen."

von Billerbeck: Das war jetzt ein anderer Auszug aus dem Gespräch. Da hat Herr Golz die Situation beschrieben, die uns droht oder bevorsteht, wenn die Rechte an dem Buch 2015 auslaufen, die das Land Bayern hält. Das wird ja dann ein bisschen schwierig. Was passiert denn dann 2015? Müsste die Sperre verlängert werden, wenn die Argumente weiter ziehen, die aus Bayern und auch manchmal vom Außenministerium kommen, oder was passiert dann 2015?

Wehler: Wenn man das 2015 wirklich noch einmal verlängern wollte, dann wäre das ein Akt einer ganz künstlichen, politischen Hygiene, die völlig unangebracht ist. Man müsste die bayerische Landesregierung und das Finanzministerium davon überzeugen, dass zum Beispiel das angesehene Münchner Institut für Zeitgeschichte mit seinen zahlreichen Mitarbeitern, die für die NS-Zeit breit ausgewiesen sind, durchaus imstande ist, eine solche seriöse, edierte Ausgabe vorzunehmen.

Und wenn ich diese Kommentare höre aus der Bundeszentrale für politische Bildung, dann spüre ich dahinter eine gewisse Furcht vor einigen Attacken, die dann kommen mögen, und seien sie vielleicht auch nur in rechtskonservativen israelischen Zeitungen, dass in Deutschland wieder eine Neuausgabe von Hitlers "Mein Kampf" erscheint. Wenn man ganz massiv auf einer wissenschaftlichen Ausgabe besteht, dann ist das auch ein Gegengift gegen die nichtkommentierten Ausgaben, die in den 30er Jahren, nachdem Hitler Reichskanzler geworden war, zum Beispiel jedem deutschen Ehepaar in die Hand gedrückt wurden. Hitler hat übrigens an "Mein Kampf" auch ganz vorzüglich verdient, weil es eine Millionenausgabe war.

Da müsste man frontal gegen das herannahende Urteil, was tut sich da schon wieder in Deutschland, angehen und sagen, wir wollen jetzt eine wissenschaftlich-kommentierte Ausgabe. Und dann müsste man die zwei Wochen Tumult, die es vielleicht auf dem rechten und linken politischen Spektrum gibt, die müsste man eben einfach aushalten.

von Billerbeck: Wie lange brauchten denn die Historiker eigentlich für so eine seriöse Ausgabe? Wir haben jetzt 2008. Bis 2015 ist noch Zeit.

Wehler: Das kommt drauf an, wie viele kompetente Historiker Sie da ransetzen. Sie brauchen das ja nicht einem Fachmann zu geben, der dann Zeile für Zeile das durchgeht. Sie können ja ein Team, das könnte das Münchener Institut meines Erachtens ganz mühelos, die haben ja auch die großen Erfahrungen mit der Edition der Hitler'schen Schriftstücke seit 1919, mit der Herausgabe der Goebbels-Tagebücher. Man brauchte einfach eine Gruppe von fünf, sechs Historikern zu bilden und denen zu sagen, jetzt sage ich das mal umgangssprachlich, so, Jungs, jetzt wird geklotzt, wir wollen schnell diese kommentierte Ausgabe haben. Und wenn die steht, dann wird noch einmal von vorne alles mit feinem Kamm durchgekämmt, und dann raus. Und dann hat das Institut einen angesehenen wissenschaftlichen Verlag, der kann das, wenn er will, in fünf Monaten rausbringen. Das ist einfach eine Frage der pragmatischen Arbeitseinteilung. Fachleute gibt es, gerade in dem Münchener Institut, genug.

von Billerbeck: Es sollte eine kommentierte Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf" geben. Darüber sprach ich mit dem Historiker Hans-Ulrich Wehler. Ich danke Ihnen!

Wehler: Gern geschehen, ja!
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