Historie

Verlorene Bodenhaftung

Schlacht um Verdun
Schlacht um Verdun © picture alliance / AFP
Von Arno Orzessek  · 25.06.2014
So richtig erklären lässt sich die große Begeisterung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland für etwas so wenig Greifbares nicht: Vaterland. Sehr viele waren plötzlich bereit, dafür zu sterben.
So weit überliefert, wurde in der Geschichte der Seefahrt noch nie ein Schiff auf den Namen "Nationalismus" getauft...
Wohl aber auf den Namen "Vaterland".
Und die "Vaterland", die am 14. Mai 1914 von Cuxhaven zur Jungfernfahrt nach New York aufbrach, war nicht irgendein Dampferchen, sondern damals das größte Schiff der Welt: 290 Meter lang und 100.000 PS stark - eine "Verkörperung deutscher Kraft", wie es beim Stapellauf geheißen hatte.
Im Rückblick erscheint der Ozeanriese "Vaterland" tatsächlich als stahlgewordenes Zeichen jener Energie, die das Vaterland damals in Menschen und Gesellschaften freisetzen konnte - und nicht nur in Deutschland: Vaterländerei war ein internationales Phänomen.
Wohlgemerkt, die Vaterland war kein Kriegsschiff - und das Vaterland von sich aus kein kriegerischer Begriff.
Ursprünglich bezeichnete 'Vaterland' im Deutschen den Acker, den der Sohn womöglich erben würde. Vaterland - das war etwas buchstäblich Bodenständiges und wurde später oft synonym mit 'Heimatland' verwandt.
Vaterland ohne Bodenhaftung
Im Sommer 1914 indessen hatte der Begriff 'Vaterland' seine Bodenhaftung weitgehend verloren. 'Vaterland' war für viele eine idealistische, wolkige Kategorie geworden, in die Herz, Ehre, Anstand und Pflicht hineinspielten.
Friedrich Schiller hatte in Wilhelm Tell empfohlen:
"Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an, [...]. Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft"
Und diese Überzeugung teilten im Kaiserreich Wilhelms II. Herrschende und Beherrschte, Rechte und Linke, Konservative und Progressive.
Woher man das weiß? Weil es 'das Vaterland' war, das nach dem Kriegsausbruch im schönen August '14 von Menschen aller Schichten reflexartig als höchstes Gut gehandelt wurde.
Vom Kaiser sowieso. Man könnte Wilhelms berühmte Proklamation "Darum auf zu den Waffen! Jedes Schwanken [...] wäre Verrat am Vaterland" als den Beleg für Friedrich Dürrenmatts These nehmen, der Staat trete immer dann als Vaterland auf, wenn er Menschenopfer verlangt.
Doch auch die Menschen selbst waren zunächst oft opferwillig - um ihres geliebten, in heutiger Diktion: gnadenlos gehypten, Vaterlands wegen.
Im Reichstag stimmte die SPD - gegen alte Überzeugungen - den Kriegskrediten zu. "Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich", rief der Parteivorsitzende Haase.
Revival für eine Phrase
Unzählige Kriegs-Poeme entstanden. Rudolf Alexander Schröder etwa dichtete:
"Heilig Vaterland
in Gefahren,
deine Söhne stehn,
dich zu wahren,
von Gefahr umringt."
Horaz' antike Phrase "Süß ist es und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben" erlebte ein gewaltiges Revival, an dem auch rhetorische Traditionen aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon mitwirkten. Damals hatte Ernst Moritz Arndt gedichtet:
"Das ist des Deutschen Vaterland,
Wo Zorn vertilgt den welschen Tand,
wo jeder Franzmann heißet Feind,
Wo jeder Deutsche heißet Freund."
Die neue Vaterlands-Schwärmerei im Weltkrieg überdauerte bei manchem auch die berühmt-berüchtigte August-Begeisterung.
"Statt zu versanden, durfte er nun im Feuermeer sterben. [...] Leben im Tod fürs Vaterland", bejubelte die Kunsthistorikerin Julie Braun-Vogelstein 1915 das Sterben eines jungen Bekannten.
Während die europäischen Vaterländer bluteten, wurde die "Vaterland" in New York festgehalten, 1917 beschlagnahmt und von der US Navy als Transporter benutzt - unter dem Namen "Leviathan", jenem Seeungeheuer der christlich-jüdischen Mythologie.
Eine signifikante Umbenennung: Das Vaterland, das der "Vaterland" eingeschrieben war, hatte sich als Ungeheuer entpuppt.
Mehr zum Thema