Ethik

Wir friedseligen Idioten

Europafahne in Paris
Laut einer europaweiten Umfrage würden die Menschen 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs "allenfalls noch für die Familie" sterben. © dpa / picture alliance / Francois Lafite
Von Gesine Palmer · 06.06.2014
Erfreulich findet Gesine Palmer die Abscheu, mit der die Europäer heute möglichen Kriegsszenarien begegnen. Doch dass wir "ethische Privatleute" geworden sind, kritisiert sie. Und fordert eine Neubestimmung der Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum.
Ein wohlhabender Privatmann, der Zeit hatte, sich um seine persönlichen Angelegenheiten zu kümmern, weil er kein wichtiges Staatsamt innehatte, hieß im alten Griechenland "Idiotes".
Das klang damals nicht so negativ wie unser heutiges Wort "Idiot". Aber in der Werthierarchie der Griechen stand der Idiotes deutlich unter dem Staatsmann, der sich um das Gemeinwesen verdient machte und in der Öffentlichkeit tätig war. Der Heldentod konnte dabei sein – er trug nur zu Glanz und Ruhm des öffentlichen Handelns bei.
Wir sind teils noch mit der entsprechenden Literatur aufgewachsen. Wir haben Großeltern oder Urgroßeltern, die noch etwas von Kriegen wissen. Vom Heldentod. 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs ist die Stimmung bei den Deutschen und ihren Nachbarn allerdings deutlich anders.
Auf die Frage "wofür würden Sie heute notfalls auch sterben?" lautete die Antwort "allenfalls für die Familie". Von den Bürgern der befragten Länder waren allein die Polen immerhin zur Hälfte bereit, für ihr Vaterland zu sterben. Das ist eine Nachricht, die vielleicht nicht nur die Verteidigungsministerin beunruhigt.
Gesinnungsethik bevorzugt Tod fürs Vaterland
Auch im Sinne alter Gesinnungsethik müssten wir von einem Desaster sprechen. Denn für sie galt die Bereitschaft, den eigenen Nachwuchs zu verteidigen, noch nicht als Tugend, sondern bloß als natürlicher Reflex. Genegoismus, weiter nichts. Der Tod fürs Vaterland oder für die Freiheit galt deswegen eher als heldenhaft und tugendhaft, weil er auch gegen die persönliche Neigung in Kauf genommen wurde. Und für etwas Abstraktes, das als Wert verinnerlicht war.
Damit ist es nach zwei sinnlosen und verbrecherischen Weltkriegen bei uns vorbei. So schnell kriegt man uns nicht mehr in fanatische Kriegsbegeisterung. Das ist die gute Nachricht. Aber es könnte auch eine schlechte Nachricht dabei sein. Wir haben die Lehren aus den Kriegen vielleicht zu sehr verinnerlicht. Und nun akzeptieren wir nur noch Werte, die wir tief innerlich fühlen, nicht aber solche, die nur das Gemeinwesen von uns erwartet. Wir sind Ideotes geworden, ethische Privatleute.
Warum das schlecht sein soll? Die Ethik der Bergpredigt ist, wie nicht nur ihre Kritiker seit vielen Jahren einschärfen, eine typische Nahbereichsethik. In einer Familienauseinandersetzung können Sie mit dem "Hinhalten der anderen Wange" womöglich rühren und überzeugen. In der Außenpolitik und schon bei uns im öffentlichen Raum eher nicht.
Kraftvolle Wehrhaftigkeit im öffentlichen Raum nötig
Dort wird auch das freundlichste diplomatische Vermitteln mit dem Machtstreben der Gegenseite rechnen – und selbst machtbewusst handeln. Umso besser, wenn das dann für Werte geschieht, die Rechtsstaat und Menschenrecht zum höchsten Ziel haben. Ohne kraftvolle Wehrhaftigkeit wird man im öffentlichen Raum und in der Staatengemeinschaft zum friedseligen Idioten.
Nun glaube ich nach der neuen Studie noch nicht so ganz an eine völlige Erschlaffung unseres Engagements für die Errungenschaften von fast 70 Jahren Frieden in Mitteleuropa. Vermutlich würden viele, wenn unsere Verfassung und unserer Rechtsstaat ernsthaft bedroht würden, doch wieder auch das Lebensrisiko nicht scheuen.
Aber mir wäre trotzdem lieber, wenn auch in politikverdrossenen Friedenszeiten moralische Maßstäbe aus der Privatsphäre von Familie und Nachbarschaft nicht mit denen der öffentlichen Sphäre verwechselt würden. Die Suche nach einer neuen Grenzziehung zwischen nahem und öffentlichem Raum wird uns noch eine Weile beschäftigen.
Dr. Gesine Palmer geb. 1960 in Schleswig-Holstein, studierte Pädagogik, evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. Nach mehrjähriger wissenschaftlicher Lehr- und Forschungstätigkeit gründete die Religionsphilosophin 2007 das „Büro für besondere Texte“ und arbeitet seither als Autorin, aber auch als Redenschreiberin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihr wiederkehrendes Thema sind „Religion, Psychologie und Ethik“ – im Kleinklein der menschlichen Beziehungen wie im Großgroß der Politik.
Gesine Palmer
Gesine Palmer© privat
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