Hiroshima in der Popmusik

Die Atombombe als Gottesgeschenk und Menschheitsplage

06:49 Minuten
Schwarzweiß-Aufnahme vom Golden Gate Quartet im Studio von NBC.
Das Golden Gate Quartet zählte zu den ersten, die sich mit dem Abwurf der Atombombe in Hiroshima musikalisch auseinandersetzten. © gettyimages / Redferns / Gilles Petard
Von Laf Überland · 06.08.2020
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Die amerikanische Popkultur feierte den Bombenabwurf auf Hiroshima vor 75 Jahren zum Teil mit naiven Bombensongs und anderen Absurditäten. Eine Gegenkultur entstand erst später als die Byrds und Bob Dylan die atomare Bedrohung in Songs aufgriffen.
Am 6. August 1945, vor 75 Jahren, warfen die USA die erste Atombombe in einem Krieg ab, Zehntausende Bewohner von Hiroshima waren sofort tot. Viele weitere Menschen sind in den folgenden Wochen und Monaten gestorben, insgesamt wird die Zahl der Toten auf über 140.000 allein in Hiroshima geschätzt.
Trotz dieser schrecklichen Bilanz wurden die Bombenabwürfe in den USA gefeiert, schließlich war damit der Zweite Weltkrieg auch in Asien endgültig beendet. Eine kritische Auseinandersetzung gab es erst später in der Wissenschaft – und dann auch in der Literatur und in der Musik.

Die Geschichte von Atom und Evil

Diese Art der Auseinandersetzung begann in der Musik vielleicht mit dem Golden Gate Quartet, das den Atombombenabwurf in Hiroshima und Nagasaki bereits 1947 in ihrem Song "Atom and Evil" aufgegriffen hat.
"Dies ist die Geschichte von Atom und Evil", singt das Quartett – von Herrn Atom also und Fräulein Übel – und auch wenn die Analogie zu Adam und Eva ein bisschen dümmlich wirkt, so bleibt dieser Song mit ein bisschen gutem Willen doch eines der ganz wenigen Popstücke, die nach dem Ereignis von Hiroshima ein bisschen warnten.
Der Großteil der amerikanischen Popkultur war nämlich schwer begeistert: Fred Kirby aus North Carolina dichtete gleich am Tag nach dem Bombenabwurf: "Hiroshima, Nagasaki haben einen hohen Preis für ihre Sünden bezahlt", aber die Atomkraft, so sang Kirby, hatten die USA ja schließlich auch aus der mächtigen Hand Gottes erhalten.

Patriotismus beflügelt die Popkultur

Es kamen einige solcher Songs heraus, die amerikanischen Patriotismus und göttliche Intervention mit Hiroshima und Nagasaki in Verbindung brachten. Die Faszination vor allem der Countrymusik für Gott und für die Atombombe führte sogar zu einem neuen Untergenre namens "nuclear country".
Die Monstrosität der Bombe überforderte in Wirklichkeit jedoch jedes menschliche Verständnis, und wer sich nicht in distanzlosen Jubel begab, der flüchtete gern in Zynismus.
Es dauerte jedenfalls nur ein paar Tage, bis neben den ersten Liedern auch die Atomic-Welle losbrach, die mehr als ein Jahrzehnt lang anhielt: Man beträufelte sich mit Atomic-Parfüm, aß Atomic Fireball-Bonbons, Friseure boten Atom-Haarschnitte an, Fast-Food-Läden den Uran-Burger, es gab sogar Atomic Dessous. Und Slim Gaillard besang den Atomic Cocktail an der Bar. "Dies ist der Cocktail, den du nicht wegschlürfst, denn nach einem kleinen Schluck brauchst du nichts mehr – boom!"
Nach ein paar Jahren hatten sich die Amerikaner dann aber an die Existenz der Bombe und die Bedrohung durch die andere, die Russland ja besaß, gewöhnt. Und die neue pubertierende Jugend arrangierte sich mit der Bedrohung durch Eskapismus und Geschmacklosigkeit – zum Beispiel bei der Rockabilly-Sängerin Wanda Jackson, die 1957 sang: "Ich war in Nagasaki und Hiroshima. Das, was ich ihnen angetan habe, kann ich auch dir antun." Und sie meinte damit höchst explosiv im Bett!

Gegen das Vergessen

Anfang der Sechziger, als die Popkultur anfing, zur Gegenkultur zu werden, entfaltete sich massiv gesungene Kritik an der Atombombe und überhaupt eine allgemeine Antikriegshaltung.
Die Byrds vertonten noch ein Gedicht des türkischen Dichters Nâzim Hikmet über ein siebenjähriges Hiroshima-Opfer, aber Bob Dylan sang bereits allgemein über die Gefahr des Atomkriegs, und die Popkultur lebte fortan mit dem grummelnden Gefühl im Hinterkopf, dass ein Knopfdruck genügen würde, jedes Morgen, ach was: jedes Jetzt auszulöschen – bis man auch das vergaß.
Weil aber manche nicht vergessen wollen, entstanden über die Jahrzehnte neben den Friedensliedern auch immer wieder mal neue Stücke über die unfassbare Unmenschlichkeit von Hiroshima: Von Maria Farantouri oder der Progrockband Utopia, dem Chansonnier Georges Moustaki oder den britischen Anarchopunks von Crass. Die englische Synthie-Pop-Gruppe Orchestral Manoeuvres in the Dark besang 1980 den Abwurf aus der Sicht der Flugzeugbesatzung der Enola Gay als Pophit.
Das bekannteste Lied über die Bombe auf Hiroshima – Nagasaki wird merkwürdigerweise so gut wie nie erwähnt – stammt aber von der britischen One-Hit-Band Wishful Thinking: 1971 veröffentlicht, wurde ihr "Hiroshima" zunächst zum Charterfolg und mutierte dann nach und nach zu einem der beliebtesten Kuschelrock-Hits aller Zeiten.
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