Hirnforschung zum Tourette-Syndrom

Das Tic-Netzwerk

06:28 Minuten
Künstliche 3-D-Aufnahme in der Form eines menschlichen Gehirns
Parallel verlaufenden Netzwerke zwischen höheren und tieferen Hirnzentren sind für Krankheiten wie Parkinson oder Zwangsstörungen relevant. © picture alliance / Zoonar / Roman Budnikov
Von Volkart Wildermuth · 10.03.2022
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Menschen mit Tourette-Syndrom haben ständig mit unkontrollierten Zuckungen, sogenannten Tics zu kämpfen. Manche lassen sich deswegen Hirnschrittmacher implementieren. Nicht immer helfen die gut. Ein Team der Charité untersucht die Ursachen.
„Eigentlich war schon mein ganzes Leben da“, sagt Henry Kalke: Ein paar Sekunden, dann zuckt entweder sein Hals oder der Arm – oder am Bein zucken die Muskeln zusammen. Oft auch nachts, sodass Henry Kalke aufwacht.
Der Brandenburger hat gelernt, mit seinen Tics zu leben, auch wenn die Schrift kaum leserlich ist, am Computer die Maus wegrutscht, es länger dauert, den Fahrschein in den Automaten zu bekommen – und er auf dem Fahrrad ungewollte Schlenker miteinkalkulieren muss. „Es funktioniert. Es ist nur anstrengend, wenn der Arm sich immer so dreht, so zuckt. Bei bestimmten Bewegungen ist es blöd, aber man arrangiert sich.“
Die Umgebung ist oft wenig tolerant. In der Schule wurde Henry Kalke gehänselt und auch heute noch stoßen seine Tics oft auf Unverständnis. Denn, obwohl er mit starker Konzentration das Zucken kurz hinauszögern kann, unterdrücken lässt es sich nicht. „Es ist wirklich der Drang: Jetzt muss ich zucken“, beschreibt Kalke das Gefühl. „Wenn ich es nicht mache, kribbelt es innerlich.“ Die Körperstelle werde warm. „Ich verkrampfte innerlich richtig und dann muss ich losgelassen. Dann geht es.“

Veränderte Filterfunktion des Gehirns

Was bei Tics im Gehirn passiert, ist noch nicht ganz klar. Der Tourette-Spezialist Christos Ganos von der Berliner Charité erklärt es so: „Wir haben die ganze Zeit Gedanken, Ideen, sodass das fließt alles. Obwohl da so viel passiert auf unserer Gehirnoberfläche, bringen wir alles nicht raus. Wir bewegen uns nur so, wie wir uns bewegen möchten, es sinnvoll für unser Verhalten ist.“ Es gebe also eine Filterfunktion im Gehirn, damit nur rauskomme, was relevant sei. „Und im Falle von Tourette-Syndrom nehmen wir an, dass dieser Bereich des Gehirns letztendlich ein bisschen anders funktioniert.“
Fast eines unter 20 Kindern entwickelt Tics, bei etwa einem Prozent der Jungen und Mädchen sprechen Ärztinnen oder Ärzte von Tourette. Aber meist sind die Tics mild, stören nicht weiter und verschwinden dann oft im Lauf der Pubertät.
Die, bei denen die Tics bleiben, kommen nicht selten zu Christos Ganos in die Charité. Der Neurologe klärt über biologische Ursachen auf und schaut dann, ob und wenn ja, welche Behandlung helfen könnte. Henry Kalke etwa hat Botoxspritzen bekommen, um den Hals zu entspannen. Wegen der vielen Zuckungen verkrampft er sonst schmerzhaft.
Anderen helfen Medikamente wie Ritalin, die den Bewegungsdruck abbauen können. Und einige wenige leiden so stark unter ihren Tics, dass sie sich Elektroden ins Gehirn operieren lassen, deren Impulse die unsinnigen Bewegungsbefehle ausbremsen sollen. „Wir hatten Menschen, die gut profitiert haben, anderen, die weniger gut profitiert haben, obwohl sie in ähnlichen Regionen das Gehirn stimuliert wurden, ähnlich, allerdings nicht die gleichen“, so Ganos.

Netzwerk im Gehirn

Bei der Hirnstimulation kommt es auf die Details an. Die waren aber nicht wirklich bekannt. Deshalb haben die Forschenden an der Charité jetzt sehr viele Daten ausgewertet, erklärt der Neurologe Andreas Horn. „Wir haben uns dem Netzwerk, das vielleicht diesen Dingen zugrunde liegen würde, von zwei Seiten genähert.“ Und zwar über die genaue Beschreibung von Schlaganfällen und über Daten von Hirnschrittmachern.
In der Literatur fanden die beiden Forscher genaue Beschreibungen von 22 Patientinnen, bei denen Läsionen, also Verletzungen des Gehirns, überhaupt erst zu Tics geführt haben. Den exakten Ort jeder Schädigung verglichen sie anschließend mit einer Art Schaltplan des Gehirns. Der beruht auf den Daten von über 1000 Personen, deren Nervenaktivität im Scanner genau beobachtet wurde. Dabei zeigte sich, welche Regionen häufig im selben Takt schwingen und welche kaum miteinander kommunizieren.
Von eine Art Blueprint des Gehirns spricht Horn, „oder wie so eine Art Verbindungsprofil“, das zeige, welche Bereiche miteinander verbunden seien. „Wir haben geschaut, wie sind diese Läsionen jetzt verschaltet? Gibt es ein Netzwerk, das die alle verbindet?“ Und in der Tat: So ein Tic-Netzwerk gibt es. Im nächsten Schritt zeigte sich: Je besser die Elektroden die Tics linderten, desto genauer lagen sie in diesem Netzwerk.  
„Es ist ein Verbindungsnetzwerk zwischen Großhirnrinde und tieferen Strukturen, wo wir auch wissen, dass die in so einer Art Schleife miteinander interagieren können“, sagt Horn. Genau die Strukturen, die die Literatur schon seit Jahrzehnten lose mit zig Störungen zusammengebracht habe. „Das Entscheidende an der Studie aktuell ist eben wirklich diese Kausalität.“ Kausalität heißt: Es ereignet sich ein Schlaganfall in diesem Netzwerk und ein Tic entstehen. Oder: Eine Elektrode wird im Netzwerk platziert, und die Tics schwächen sich ab.

Auch bei anderen Krankheiten relevant

Wichtig für die Neurologen dabei ist: Die parallel verlaufenden Netzwerke zwischen höheren und tieferen Hirnzentren sind auch für andere Krankheiten wie Parkinson oder Zwangsstörungen relevant. „Man kann auch sagen, dass das sehr viele Parallelen gibt zwischen den Schaltkreisen, die sehr rein motorisch sind, wie bei Parkinson mit eher kognitiven Schaltkreisen, die möglicherweise bei Tourette wichtige Rolle spielen, und dann sogar noch bei emotionalen Schaltkreisen weiter vorne im Gehirn, die vielleicht bei Zwangsstörung oder auch bei Depression eine Rolle spielen können“, sagt Horn.
Gerade weil die verantwortlichen Netzwerke so dicht beieinanderliegen, kommt es bei der Tic-Therapie mit Hirnschrittmacher ganz genau auf die Platzierung der Elektroden an. Christos Ganos hofft, dass die neuen Daten hier in Zukunft helfen werden. „Wenn man tatsächlich mit einer tieferen Hirnstimulation dieses identifizierte Netzwerk erzielt, führt es mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer relevanten Tic-Verbesserung.“
Henry Kalke wiederum hat sich auch so mit seinen Tics mittlerweile gut arrangiert. „Man lebt damit“, sagt er. „Ich freue mich über Tage, wo es nicht ganz so schlimm ist, aber es passt schon, ist ein bisschen meine Natur.“

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