Himmlers Objekt der Begierde

von Stefan Monhardt · 17.05.2012
Eines der "hundert gefährlichsten Bücher, die je geschrieben wurden" nannte der italienische Historiker Arnaldo Momigliano, dessen Eltern als Juden von den Nationalsozialisten ermordet wurden, 1954 in einem Vortrag die <em>Germania</em> des Tacitus. Christopher Krebs bezieht sich mit dem Titel seiner Studie ausdrücklich auf dieses Diktum.
Sein Buch setzt ein mit einer filmreifen Szene:

"Mit der Eile von Menschen, die wissen, dass ihre Tage gezählt sind, fuhr die SS-Abteilung über die kies- und sandbedeckte Auffahrt, die, von zwei dichten Baumreihen gesäumt, auf einen freien Platz führte."

Wir befinden uns im Herbst des Jahres 1943 – die Alliierten haben mit der Invasion Süditaliens begonnen – vor einer Villa des Grafen Baldeschi-Balleani in der Nähe von Ancona.

"Die Männer, Abgesandte des Reichsführers SS Heinrich Himmler, hämmerten an die Tür. Im Nu hatten sie sie aufgebrochen und stürmten hinein. (...) In dem Gebäude fanden die Nationalsozialisten niemanden vor, und sie durchsuchten nun systematisch Zimmer und Schränke, Zentimeter um Zentimeter, Stockwerk für Stockwerk. (...) Doch das Objekt der Begierde Himmlers war anderswo sicher verwahrt, und so konnten sie hier nicht fündig werden."

Objekt der Begierde Himmlers ist die älteste erhaltene Abschrift von Tacitus’
Germania. Dieser gescheiterte Versuch, den Text des römischen Historikers nun auch unmittelbar materiell in Besitz zu nehmen, ist in gewisser Weise der Höhe- und Endpunkt einer fast 500-jährigen Geschichte der nationalistischen Aneignung und Instrumentalisierung.

Sie beruht auf zwei fundamentalen Missverständnissen, wie Christopher Krebs zeigt. Denn das schmale Buch des Tacitus ist keine authentische Beschreibung germanischer Lebenswirklichkeit, sondern vor allem eine aus Topoi antiker Ethnographie am Schreibtisch gewobene Fiktion exotischer Ursprünglichkeit und Freiheit, Gegenbild zum versklavten und dekadenten Rom eines Nero oder Domitian. Und bei den "Germani" des römischen Schriftstellers handelt es sich um eine willkürlich nach geografischen Gesichtspunkten herausgegriffene Vielzahl heterogener Stämme, die keineswegs ein einheitliches Volk bildeten. Sie können nicht einfach als Vorfahren der neuzeitlichen Deutschen betrachtet werden. Seine steile Karriere seit seiner Wiederentdeckung in der Renaissance verdankt der Text des Tacitus der systematischen Verkennung dieser beiden Aspekte.

Als sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts zum ersten Mal etwas wie ein deutsches Nationalbewusstsein artikuliert, existiert "Deutschland" – anders als Frankreich, England oder Spanien – nur als vage Bezeichnung für eine unübersehbare Menge von Staaten und mehr noch als imaginäres Gebilde auf einer Landkarte patriotischer Sehnsüchte. So greifen deutsche Intellektuelle begeistert zu der neu aufgefundenen Schrift des Tacitus. Sie bietet die Möglichkeit, die fehlende politische Einheit der Deutschen durch den Verweis auf eine gemeinsame glorreiche Vergangenheit wettzumachen und überzukompensieren: Der Germane wird "als deutscher Ahn geboren". Der Germanenmythos verankert sich schon früh so fest im nationalen Selbstbewusstsein, dass seine Herkunft bald nicht mehr erkennbar ist:

"Um das Jahr 1530 wird der Text, der die Tradition begründet hatte, seinerseits in einem Zirkelschluss durch die Tradition gestützt. Mit einem voll ausgebildeten Profil begabt, wurden die Germanen von ihrer ursprünglichen Quelle nunmehr ganz unabhängig."

Die Germanen sind den anderen Völkern an Alter, in Charakter, Sittlichkeit, Sprache überlegen. Krebs beschreibt anschaulich, wie diese verschiedenen Paradigmen im Lauf der Jahrhunderte einander ablösen und überlagern und analysiert immer wieder detailliert die Strategien, die aus Tacitus’ ambivalenten und komplexen Wertungen ein idealisiertes Bild germanisch-deutscher Vorzeit machen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erscheint ein neues Element in der Rezeption:

"Seit der Wende zum 19. Jahrhundert bog man den römischen Historiker so zurecht, dass er die Reinheit nicht nur der Sitten und der Sprache, sondern auch und in zunehmendem Maße die der rassischen Verfassung der germanischen Vorfahren als Angehörigen erst der kaukasischen, dann der arischen und schließlich der nordischen Rasse bezeugte. Rasserein waren die Deutschen gewesen, rasserein sollten sie wieder sein."

Germanenmythos, völkische Ideologie und Rassismus: Bei der Ausprägung und Propagierung der zentralen Komponenten der nationalsozialistischen Ideologie spielt die Germania eine entscheidende Rolle:

"Als erste unter den 'deutschen Grundschriften' nahm der Text des Tacitus auf völkischen Leselisten einen prominenten Platz ein, auf ihn griff man zurück, um den größten Teil der Behauptungen über die arisch-germanische Rasse zu erhärten, die sich im Lauf der Jahrhunderte angesammelt hatten: über ihre Reinheit, ihre Physiognomie, ihre angeblich bäuerliche Lebensweise, ihre Bräuche und insbesondere ihre Gesittung. Dutzende von Übersetzungen, Bearbeitungen und Kommentaren präsentierten diese Schrift dem deutschen Publikum ..."

Die
Germania wird schließlich zur heiligen Schrift einer Germanenreligion erhoben, sie wird den Deutschen ausdrücklich empfohlen als "Gegenstück der Juden- und Christenbibel".

Schon 1924 hatte der junge Heinrich Himmler Tacitus gelesen und notiert:

"So sollen wir wieder werden oder wenigstens Teile von uns."

Himmlers Satz bringt die tautologische Wirkungsgeschichte dieses Werks auf den knappsten Nenner. Christopher Krebs schreibt:

"Ein höchst gefährliches Buch ist die Germania nicht, weil sie in den Rahmen passte, sondern weil sie dazu beigetragen hatte, diesen Rahmen zu formen. Sie erfüllte ihre eigene Verheißung."

Krebs hebt hervor, dass der Klassische Philologe Eduard Norden bereits 1920 in einer wichtigen Studie den Wert der
Germania als Geschichtsquelle bestritt, und er berichtet auch, wie der Münchner Kardinal Faulhaber in seiner Silvesterpredigt von 1933 unter Verweis auf Tacitus den Versuch der Wiedereinführung einer nordisch-germanischen Religion als Rückfall in unmenschliche Barbarei anprangerte. Krebs skizziert, dass es neben der affirmativ-nationalen Lesart der Germania von Anfang an stets auch diese viel leisere, kritische zweite Stimme in der Rezeptionsgeschichte gab – vom Humanisten Beatus Rhenanus über Christoph Martin Wieland bis zu Heinrich Heine.

Diese kritische Stimme beherrscht seit 1945 die Wahrnehmung des Werks und hat sich auch in einer Fülle von Einzeluntersuchungen zur Rezeption niedergeschlagen, beispielsweise Luciano Canforas Studie zur
Germania von Engels bis zum Nazismus oder Allan Lunds Analyse der Germanenideologie im Nationalsozialismus. Christopher Krebs bietet nun eine souveräne Gesamtdarstellung für einen breiten Leserkreis, die aber keineswegs nur Bekanntes zusammenfasst, sondern auch im Detail neue Akzente setzt und neues Material erschließt.

Das Buch verzichtet auf einen drögen Theorieteil. Die Gefahr, Rezeptionsgeschichte nachträglich als zwangsläufige Teleologie zu lesen, wird unmissverständlich benannt; manche historisch-terminologischen Probleme sind durch knappe Verweise in einer Anmerkung markiert (etwa die Frage des "Nationalismus vor dem Nationalismus"); notwendige Definitionen werden als Verständigungsbasis ad hoc eingeführt (so bei der Abgrenzung des spezifischen Begriffs "Rassismus" vom Topos des "unvermischten Volks").

Die Arbeit von Krebs besitzt alle klassischen Tugenden angelsächsischer Historiografie. Sein vorzugsweise an individuellen Biographien verankertes und darum plastisches Erzählen gelangt vielleicht dort an Grenzen, wo es vereinzelt plakativ wird oder trivialpsychologische Deutungen nahelegt.

Konsensfähig scheint eine nationalistische oder auch nur naiv-nostalgische Auffassung der
Germania in unserer Gegenwart nicht mehr. Doch Christopher Krebs’ Schlusswort lässt sich auch als Mahnung verstehen:

"Schließlich schrieb nicht der römische Historiker Tacitus ein höchst gefährliches Buch; dazu machten es erst seine Leser."

Christopher B. Krebs: Ein gefährliches Buch. Die "Germania" des Tacitus und die Erfindung der Deutschen
Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer
DVA, Frankfurt / Main 2012
348 Seiten, 24,99 Euro