Hierarchien in Unternehmen

Was Arbeitswelt und Affenhorde gemeinsam haben

31:52 Minuten
Eine Gorillahorde lagert auf einer Lichtung und wird dabei bewacht vom Silberrückenmännchen.
Bei den Gorillas hat der Silberrücken das Sagen. © imago / Harald Lange
Von Mandy Schielke · 06.07.2020
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Anders als bei den Gorillas liegen in der Arbeitswelt flache Hierarchien im Trend: Manche Unternehmen verzichten sogar ganz auf Führungskräfte. Arbeiten ohne Chef – geht das?
Menschenaffen brauchen zum Überleben eine feste Rangordnung in ihrer Gemeinschaft. Menschen wollen sich davon gern befreien, im Privatleben sowieso aber zunehmend auch in der Arbeitswelt. Weniger Dienst nach Vorschrift, weniger "Jawohl, Chef!". Mehr Verantwortung, mehr Freiheit, mehr Selbstwirksamkeit spüren: Oose, ein Unternehmen aus Hamburg, das Software-Entwickler berät und schult, hat schon 2002 alle Chefs abgeschafft. Die 30 Mitarbeiter organisieren sich seitdem einfach selbst. Tim Weilkiens hat den Umbau der Firma mitgemacht.
"Die Idee war schon immer da. Der Gründer von Oose hat schon immer den Wunsch gehabt, dass wir ein Verbund sind von Unternehmern, und wollte nicht so dieses Klassische: Ich bin hier der Chef und das sind meine Mitarbeiter. Und dann hat es sich 2012 so ergeben, dass ein GF aus privaten Gründen gekündigt hatte und wir dann überlegt hatten, den ersetzen wir jetzt nicht durch einen neuen Geschäftsführer und sind dann in die Selbstorganisation gegangen."
Selbstorganisation als Management-Instrument. Die Idee, das Arbeitsleben ohne Hierarchien zu organisieren, ist indes nicht neu. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg gab es vor allem in den USA aber auch in Skandinavien und hierzulande Firmen, die Alternativen ausprobierten und den Mitarbeitern mehr Entscheidungsmacht gaben. Spätestens durch Hippiebewegung und mit Einzug der Duz-Kultur in die Arbeitswelt wurden strenge Rangordnungen im Job – zumindest formal – infrage gestellt.

Bei den Gorillas herrscht eine klare Rangfolge

"Sango, komm doch mal raus! Sango, Sango... Nein, dich meinte ich nicht. Das ist die kleine Jambala. Klein ist relativ, ist ein ausgewachsenes Gorilla-Weibchen. Aber der Sango liegt irgendwo zurückgezogen." – Der Herbst weht die Blätter von den Bäumen, die Sonne hat Kraft an diesem Nachmittag. André Schüle, Tierarzt im Berliner Zoo, will mit mir über die Rangordnung bei Gorillas sprechen. Aber der Chef der Gorilla-Gruppe ist nirgends zu sehen.
"Bei den Gorillas ist das ganz strikt geordnet. Der Chef einer Gruppe, das ist ein dominantes Männchen, der Silberrücken. Der hat das Sagen, der führt die Gruppe an – der aber nicht nur die gesamte Gruppe zusammenhalten muss, sondern auch beschützen muss. Eine weitere Funktion des Silberrückens ist es, auch Streit innerhalb der Gruppe zu schlichten. Wenn sich die Weibchen untereinander nicht grün sind, dann geht ein Silberrücken auch mal dazwischen. Er hat viele Aufgaben, nicht nur Spaß, auch viel Verantwortung, die er trägt." - Anführer, Moderator, Schlichter.

Hierarchien abzuschaffen, liegt im Trend

Immer mehr Unternehmen wollen Hierarchien abbauen und ihren Mitarbeitern mehr Verantwortung geben. Vor allem im IT-Bereich: Start-ups organisieren sich von Anfang an häufig so. Aber auch Automobilzulieferer, Maschinenbauunternehmen und auch bei der Deutschen Bahn gibt es Teams, die sich selbst organisieren, mehr Eigenverantwortung haben. Ganz auf Führungskräfte verzichten allerdings wenige Firmen. Oose aus Hamburg hat indes keine Geschäftsführer mehr.

Tim Weilkiens: "In der Zeit hatten wir eine großen Wandel. Es haben uns auch etliche Mitarbeiter verlassen. Weil wir Führungskräfte abschaffen wollten, sind vor allem die Führungskräfte gegangen. Wir hatten eine Büroleitung, eine Vertriebsleitung. Die sind gegangen."
Hierarchien abzuschaffen, liegt im Trend, sagt Claudia Schröder. "Wir merken das, weil wir eine extreme Nachfrage haben. Und auch wenn man in Fachzeitschriften schaut, überall liest man etwas über Selbstorganisation. Blogbeiträge, Konferenzen schießen aus dem Boden."

Anpassungsfähigkeit als Argument für flache Hierarchien

Schröder hilft Firmen, sich besser zu organisieren. Das heißt für die Trainerin auch, dabei zu helfen, Hierarchien abzuschaffen. Die Leitmotive Ihrer Beratung "Next U" lauten: "Wir brauchen keine besseren Chefs, wir brauchen bessere Organisationen." Oder: "Führung ist zu wichtig, um sie allein Führungskräften zu überlassen".
Slogans, die verfangen und für Kundschaft sorgen. Claudia Schröders Kunden kommen aus unterschiedlichen Branchen: Handel, Handwerk, Sozialwesen, Metallverarbeitung. Aber auch Tanzschulen hat sie schon beraten.
"Es gibt ganz unterschiedliche Motivationen. Es gibt inhabergeführte Unternehmen, die ihre Nachfolge regeln möchten. Es gibt Unternehmer, die ihr Unternehmen aufhübschen wollen, um Fachkräfte zu bekommen, und es gibt Unternehmen, die ihre Organisation fit machen wollen in Bezug auf den Markt."

Ein Pluspunkt im Innovationswettbewerb

Anpassungsfähigkeit ist ein wichtiges Argument für die Abschaffung von festen Hierarchien, sagt auch Thomas Schumacher, Professor für Organisation und Führung an der Universität Freiburg. Mitarbeiter, die nicht von Formalien aufgehalten werden, können schnell entscheiden. Das Unternehmen kann so auf Veränderungen am Markt rascher reagieren.
"Was jetzt neu ist, dass nicht nur Effizienzorientierung gefragt ist, sondern Unternehmen vielmehr in einem schärferen Innovationswettbewerb stehen. Das heißt, Führung – hierarchisch oder selbst organisiert – wird nicht daran gemessen, inwiefern sie für Effizienz in der Organisation sorgt, sondern vor allem geht es für Unternehmen darum, wie kann Führung erreichen, dass das ganze Potenzial des Mitarbeiters in die Organisation auch einfließt, in Bezug auf Kreativität, Innovation und so weiter."
Flache Hierarchien und Teamarbeit können also Innovationen erleichtern.
"Welche Voraussetzungen braucht es, damit solch ein Konzept der Selbstorganisation umgesetzt werden kann? Das wäre vor allem diese radikale Kundenorientierung. Überall da, wo die Kundenorientierung so wichtig ist für das Geschäft, da bieten solche Selbstorganisationsansätze Vorteile. Überall da, wo die Volatilität, die Ungewissheit, in dem, was letztendlich rauskommen muss, auch da ist."
Mitarbeiter, die nah am Kunden und seinen Bedürfnissen sind, erleben die Volatilität, die Schwankungen am Markt, besonders intensiv. Ihnen mehr Entscheidungsfreiheit zu geben, ist sehr sinnvoll, erklärt auch Claudia Schröder und erläutert, wie sie Unternehmen auf die Abschaffung von festen Rangordnungen vorbereitet.
"Unser Konzept ist auch, dass wir erstmal mit den Führungskräften anfangen zu arbeiten, auszuprobieren, sodass die auch selber die Erfahrung machen: Ah, so kann das funktionieren und so fühlt sich das nachher auch für meine Mitarbeiter an – und was ist der Unterschied zur bisherigen Führungskultur. Sie müssen sich Gedanken machen, was sie an ihrer Führung überhaupt abgeben möchten, also: Welchen Rahmen und welchen Raum machen die auf, was geben sie ab und was eben noch nicht."

Selbstorganisation hat viel mit Vertrauen zu tun

Oose aus Hamburg hat gleich komplett auf kollegiale Führung – also Führung ohne Chefs umgestellt. Viele Unternehmen indes sägen schrittweise an ihrem Hierarchiegerüst, überlassen es den Mitarbeitern zunächst erstmal beispielsweise, ihren Dienstplan allein zu organisieren. Entscheidungen im Team ohne Abnicken durch den Chef: Selbstorganisation und kollegiale Führung hat viel mit Vertrauen zu tun, sagt die Expertin. Und auch mit Kontrollverlust, erinnert sich Tim Weilkiens, der sich auch erst einmal daran gewöhnen musste, nicht mehr Chef zu sein.
"Man muss wirklich lernen auch loszulassen, gerade wenn Dinge passieren, wo man sagt, das hätte ich jetzt anders gemacht, dann auch still zu halten und zu akzeptieren wie das läuft."
Ein Mitarbeiter, der nicht auf das Okay des Chefs warten muss, kann schneller reagieren, sagt auch Weilkiens Kollege Felix Heppner. Er hat sich bei Oose wegen der Abwesenheit von Führungskräften beworben und kann sich noch sehr gut an seinen Arbeitsalltag in hierarchischen Strukturen erinnern. Das operative Geschäft wurde durch jede Menge Formalien regelmäßig ausgebremst.
"Wer darf was unterschrieben? Wer muss was unterschreiben unabhängig davon, ob er die Kompetenz dafür hatte. Das hat für mich sehr viel Reibung verursacht. Die, die die Arbeit gemacht haben, hatten eine gute Idee, konnten es aber nicht machen, weil da irgendwelche Regularien waren, dass der Chef das natürlich genehmigen muss."
Auch wer mir bei Oose das Interview gibt, hat nicht etwa eine PR-Chefin oder ein PR-Chef entschieden. Nein, meine Anfrage wurde der gesamten Mannschaft weitergeleitet und dann hat das Team untereinander besprochen, wer ins Mikrofon spricht.

Der Silberrücken ist der Taktgeber

"Man kann wirklich sehen, dass die Gruppe teilweise darauf wartet, was haben wir zu tun, was sagt uns der Silberrücken? Also der ist wirklich Taktgeber."
Ein westlicher Flachlandgorilla posiert im Sonnenschein im Zoo Berlin.
Die Fetthaube am Hinterkopf lässt den Silberrücken noch größer und mächtiger aussehen.© picture alliance / dpa / Andreas Gora
In der Welt der Menschenaffen funktioniert alles optimal, wenn nur einer den Ton angibt, sagt Zoo-Tierarzt André Schüle. Bei den Gorillas in Berlin macht das Sango. Die drei Weibchen aus dem Vierergespann lümmeln auf der Wiese vor ihrem Haus und blicken den Zoobesuchern kauend fest in die Augen. Sango, der Chef, lässt sich immer noch nicht blicken.
"Unser Sango ist vom Charakter her ein bisschen gemütlich manchmal. Er ist nicht so der schnelle Entscheider immer. Und wenn das dann der Gruppe zu lange dauert, dann sieht es wirklich manchmal lustig aus zu sehen, wie die Weibchen sich dann angucken – nach dem Motto: Und wann geht es los? Was sagt er?"
Ohne Sango scheinen sich die drei Damen tatsächlich ein bisschen zu langweilen.
Hierarchie ist eine stufenmäßig auf Überordnung und Unterordnung beruhende Ordnung. Die Elemente dieser Ordnung sind in vertikaler Reihung nach Bedeutung für die Entscheidungsmacht positioniert.

Verunsicherung, Ratlosigkeit und Chaos?

Klar, wer weiter oben sitzt in der Hierarchie hat mehr zu sagen. Verzichtet eine Arbeitswelt auf Hierarchien, dann bekommen alle gleich oder ähnlich viel Verantwortung. Die ganz oben weniger, die unten mehr. Das klingt nach Gleichberechtigung und irgendwie auch nach Chaos. Denn wenn alle mitentscheiden, dauern Abstimmungsprozesse doch ewig – oder?
"So sehr Chaos ist nicht entstanden, ein bisschen schon, weil es eine Veränderung war. Die Mitarbeiter mussten sich erstmal daran gewöhnen, dass kein Chef mehr da ist. Ich bekam in den Anfängen immer noch Anfragen von Mitarbeitern: Darf ich mir dieses Buch kaufen?" –Verunsicherung, Ratlosigkeit, das gehört zu Veränderungen immer dazu, sagt Tim Weilkiens von Oose in Hamburg.
Aber: "Die Selbstorganisation ist keine Selbstüberlassung. Sondern: Da sind schon Strukturen dahinter. Ich würde sagen, wir sind effizienter geworden, weil die Mitarbeiter direkt beim Kunden unterwegs waren, am Markt unterwegs waren, weil sie jetzt nicht mehr den Weg über die Geschäftsführung gehen mussten, wenn sie was tun wollten, sonst haben sie immer gefragt, darf ich dies, darf ich jenes, sondern: Sie haben es einfach gemacht und das war deutlich schneller und sie konnten das ja auch viel besser entscheiden als wir in der GF, weil wir den Sachverhalt im Detail ja gar nicht kennen. Da sind wir viel schneller geworden, vielleicht so ein bisschen zäher, langsamer in den mehr strategischen Themen des Unternehmens. Themen, wie Gehaltserhöhungen, das ist die Kür einer Selbstorganisation, wie geht man mit Gehaltserhöhungen um."

Wie effizient ist Selbstorganisation?

"Das wird gern gesagt: Selbstorganisation, da wird so viel diskutiert und das dauert so lange, ist so ineffizient. Ich glaube, bei hierarchischen Strukturen wird diese Ineffizienz einfach überdeckt. Das scheint so effizient zu sein, diskutiert wird aber trotzdem über ungerechte Gehälter: Warum hat der so viel mehr als ich bekommen. Es findet nur unter der Oberfläche statt. Es ist nicht explizit diese Diskussion, dieser Diskurs", ärgert sich Felix Heppner. Denn auch wenn Arbeitnehmer in klassisch organisierten Unternehmen nicht mitentscheiden, reden sie doch jede Menge über das, was sie am Ende doch nicht entscheiden. Das sei ineffizient.
Claudia Schröder, die Firmen berät, die auf Selbstorganisation umstellen wollen, kennt die Kritikpunkte gut. "Wir lernen sehr viele Organisationen, Unternehmen kennen, die sehr viele Meetings und Besprechungen durchführen und recht ineffizient arbeiten. Viele Mitarbeiter klagen darüber, dass sie unheimlich viele Besprechungen haben, häufig aber gar nicht wissen, was dabei herausgekommen ist."

Flexible Hierarchien auf Zeit

Unternehmen, die ohne Hierarchie auskommen wollen, verteilen untereinander, wer den Hut für ein bestimmtes Thema aufhat. Die Koordination für ein bestimmtes Projekt beispielsweise. Rollenwahl heißt das Prinzip.
"Man ist für eine bestimmte Zeit Führungskraft für ein bestimmtes Anliegen oder solange ich in einer bestimmten Rolle bin."
Hierarchien gibt es gewissermaßen doch. Nur sind sie nicht starr und fest, sondern bestehen nur temporär. Ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin übernimmt die Leitung eines Projekts – ob in der Tischlerei oder in der Werbeagentur. Große firmeninterne Entscheidungen, etwa große Anschaffungen, der Umzug in ein anderes Gebäude oder Gehaltserhöhungen werden im sogenannten Konsent-Verfahren entschieden. Ein streng durchmoderiertes Prinzip, bei dem alle Einwände der Mitarbeiter berücksichtigt werden. Aber wer Einwände hat, muss Alternativen vorschlagen. Einfach dagegen sein, geht nicht. Das fördert die konstruktive Zusammenarbeit, sagen Anhänger der Methode.

Entscheidungen im Plenum oder kleinen Gruppen

Allerdings werden nur die wenigsten Entscheidungen im Plenum getroffen, die meisten Fragen werden in kleinen thematisch definierten Gruppen, sogenannten Kreisen, besprochen und beantwortet. Abteilungen ohne Abteilungsleiter quasi. Solche Organisationsstrukturen ermutigen Mitarbeiter, Verantwortung zu übernehmen, sagt Claudia Schröder.
"Weil man wirklich auch merkt, wie wirkungsvoll man eben auch selber ist, wenn man das Vertrauen ausgesprochen bekommt, etwas gestalten zu dürfen. Letzen Endes organisieren sich Menschen ja ständig selbst. Deswegen ist dieser Begriff ja auch ein Paradoxon. Aber jetzt im Kontext von Organisationsentwicklung geht es wirklich darum, mehr Führungsverantwortung den Mitarbeitern zu übergeben, und auch den Menschen den Raum zu geben, das selber zu gestalten, wie sie das wollen: Also keine Vorgaben zu machen, so genau musst du das jetzt tun, darauf vertrauen, dass Menschen und Mitarbeiter genügend Kompetenzen in sich haben. Und das ist für Auftraggeber auch eine Motivation, weil sie merken, dass die Menschen auch zufriedener werden."
Selbstwirksamkeit ist der Begriff, der dieses Gefühl benennt.
"Manche Mitarbeiter, Mitarbeiterinnen wollen unheimlich viel selber gestalten und es gibt eben auch andere: Nein, ich möchte lieber weiterhin acht Stunden kommen und sehr engagiert arbeiten, aber ich möchte nicht so Führung übernehmen."

Verantwortung kann anstrengend sein

Aus ihrer Erfahrung als Beraterin und Trainerin weiß sie, dass sich etwa drei Prozent der Mitarbeiter eines Unternehmens nicht von den Vorzügen der Hierarchielosigkeit überzeugen lassen und kündigen, wenn die Firma die Organisationsstruktur ändert. Denn Verantwortung kann nicht nur erfüllend, sondern auch ziemlich anstrengend sein. Das verlangt den Mitarbeitern viel ab. Und da hat nicht jeder Lust zu, schließlich muss man sich ja schon zu Hause jede Menge verhandeln und abstimmen – mit dem Partner, den Kindern, den Nachbarn.
"Es geht auch um Kommunikationskultur und die ist sehr unterschiedlich bei Unternehmen ausgeprägt. Wir finden Unternehmen, da wird eine Feedbackkultur wirklich schon praktiziert. Menschen sind also in der Lage, über Anliegen konkret und wertschätzend zu sprechen. Aber es gibt auch Unternehmen, da ist noch nicht so viel möglich. Da weiß man vielleicht auch noch gar nicht, wie geht aktives Zuhören und wie kann ich überhaupt Feedback geben. Also die Menschen lernen wirklich auf allen Ebenen und sie lernen auch sehr, sehr viel über sich selbst. Wie erlebe ich mich in der Gruppe, wie kann ich mich da auch einbringen, wann halte ich mich auch ein bisschen zurück zum Wohle des Themas. Das auszubalancieren, mich fachlich einzubringen, aber auch nicht so, dass ich eine Gruppe vielleicht auch zu sehr mit egoistischen Themen beschäftige, das ist wirklich das große Lernziel."

Kommunikation und Feedbackkultur sind entscheidend

Achtsame Kommunikation untereinander, Feedbackkultur: All das, was man schnell weiche Faktoren nennen will, ist entscheidend für Management-Konzepte, die ohne Jawohl-Chef auskommen wollen. Bodenbeschaffenheit nennt das die Trainerin. Thomas Schumacher, Organisationsberater und Mitherausgeber der Zeitschrift für Organisationsentwicklung spricht von Menschenbildern.
"Was der Mensch ist, was er mitbringt, was er will, möchte, kann. Und das Menschen das können wollen und in der Lage sind, das ist tatsächlich aus meiner Sicht eine Grenze von der die Umsetzung einer solchen Organisationsform abhängt. Und das beschreiben auch die meisten Praktiker, die mit solchen Organisationsformen arbeiten. Dass es doch ein sehr deutliches Maß an Personalentwicklung auch bedarf."
Also Coaching für die Mitarbeiter. Und das kostet Zeit und Geld. Tim Weilkiens von Oose findet, dass man sich davon nicht abschrecken lassen sollte.
"Das sind jetzt auch nicht so herausragende Fähigkeiten, die man braucht, um der Selbstorganisation fähig zu sein. Die das extrem gut können, das ist bei uns auch nur eine Handvoll Berater, die das gelernt haben und selbst auch nach außen vermitteln. Und die anderen haben auch mal ein Training genossen, um das mal ein bisschen zu erlernen, sind jetzt aber auch nicht die Kommunikationsexperten."

Flache Hierarchien sind kein Allheilmittel

Grenzen gibt es trotzdem. Nicht immer ist Selbstorganisation und die Abwesenheit fester Hierarchien, Experten sprechen auch von Agilität also Beweglichkeit, sinnvoll für Arbeitsprozesse, erklärt Thomas Schumacher.
"Wir haben vor Kurzem mit einem Automobilhersteller gearbeitet. Da muss man sagen, wenn Sie ein Auto zusammenbauen in einer solchen Fabrik, dann ist da eigentlich wenig Bedarf für Agilität, weil: Es gibt kundenseitig nichts so viel Veränderungsbedarf. Das steht relativ klar fest, welche Farbe, welche Zusammensetzung solch ein Auto hat. Dann ist eine traditionelle Organisation im Fließband wirklich besser, weil es um Effizienz geht."

Und auch Claudia Schröder hält die Abschaffung von festen Hierarchien für kein Allheilmittel:
"Für uns ist es wichtig zu gucken, welchen Sinn macht das für das Unternehmen, gibt es überhaupt einen Bedarf, weil jeder Veränderungsprozess ist einfach Stress auch für Unternehmen und Mitarbeiter. Wenn ein Unternehmen gut und effizient mit den bisherigen Strukturen funktioniert, warum sollte man das verändern? Auch wenn Top-Führungskräfte meinen, das ist eine super Methode, um noch mehr aus den Mitarbeitern rauszupressen. Das ist es nämlich ganz und gar nicht."
Und so rät Schröder auch immer wieder von Umstrukturierungsvorhaben ab, auch wenn sich im Vorgespräch herausstellt, dass das Anliegen, feste Hierarchien abzuschaffen, als reine PR-Maßnahme missverstanden wird.
PKW-Produktion: Arbeiter montieren Autos.
Sind Aufgaben klar umrissen, wie beispielsweise bei Fließbandarbeit, bringen flache Hierarchien wenige Vorteile.© picture alliance / dpa / Ulrich Baumgarten

Ist Enthierarchisierung eine Management-Mode?

Der Führungsstil ist heute in vielen Unternehmen bereits demokratischer als noch vor 15 Jahren. Wie radikal sich das Prinzip Arbeiten ohne feste Hierarchien in der deutschen Firmenwelt vollzieht, ist laut Thomas Schumacher, Professor für Organisation und Führung an der Universität Freiburg, dennoch nicht einfach zu beantworten.
"Das ist eine schwierige Frage. Das ist eher anekdotisch zu beantworten und auch ein bisschen daran abzulesen, wie stark sich sowas organisiert. Es gibt mittlerweile zwei Netzwerke, die unternehmensübergreifend auch sehr stark den Fragen von Selbstorganisation nachgehen. Es gibt viele positive Erfahrungen. Aber es gibt auch Unternehmen, die davon ein stückweit abrücken."
Eine Blaupause für gelungene Selbstorganisation gibt es nämlich noch nicht.
"Auf der anderen Seite sehen wir Unternehmen, die durch diesen Innovationswettbewerb, durch die Digitalisierung andere Kommunikationsformen fast verzweifelt suchen."
Die meisten Deutschen arbeiten nach wie vor in ziemlich hierarchischen Firmen. Für den Arbeitssoziologen Stefan Kühl handelt es sich beim Thema Agilität, Selbstorganisation und Enthierarchisierung um eine Management-Mode. Bei einem Vortrag in Zürich erklärt er, was er damit meint.
"Dass zuerst eine Dramatisierung von bestimmten gesellschaftlichen Veränderungen zu finden ist. Dass es zu revolutionierenden technischen Veränderungen gekommen ist, die völlig neue Formen des Organisierens verlangen. Dann merkt man, wie sich ein bestimmtes Organisationskonzept, was diese gesellschaftliche Dramatisierung aufgreift, langsam durchsetzt. Die Wirtschaftsmedien greifen das Thema auf, Konferenzen werden dazu gemacht, Beratungsunternehmen fangen an, diese Managementkonzepte zu propagieren, benennen sich teilweise auch nach dem. Dann kommt es meistens zu einer Diffusion. Und dann gibt es bei den Managementkonzepten immer einen Moment, wo die ersten Zweifel aufkommen."

Die Tücken der flachen Hierarchien

Stefan Kühl gehört also nicht zu den "Oben-Ohne" also den Enthierarchisierungsenthusiasten. Bereits 2015 veröffentlichte er das Buch: "Wenn die Affen den Zoo regieren – Die Tücken der flachen Hierarchien".
"Die Stimmung fängt sich an zu ändern und dann gibt es Rettungsversuche, denn davon leben ja jetzt Personen. Davon leben zum Beispiel Personen, die auf Management-Konferenzen sprechen. Oder Berater, die diese Konzepte vertreiben. Man kann das erkennen: Wachsende Aggression gegen diejenigen, die diese Konzepte kritisieren, Hinweise, dass man das doch mal selbst erlebt haben muss, bevor man überhaupt wagt dazu zu reden. Was ganz beliebt ist, ist der Hinweis darauf, dass bei der Einführung dieser Konzepte handwerkliche Fehler gemacht worden sind. Die Idee ist gut, aber in der Umsetzung, da hatten sie halt die falschen Personen, da müssen sie nochmal Know-how nachlegen, das können sie übrigens bei uns kaufen."

Nicht der Stärkste und Lauteste führt

"Der große Vorteil ist eben der, dass der Silberrücken zwar die Gruppe dominiert, aber zu einem sehr hohen Prozentsatz nur positiv. Er führt die Gruppe zu den besten Futterplätzen. Er passt auf die Gruppe auf. Er schaut, dass alle Jungtiere hinterherkommen. Er beschützt seine gesamte Truppe vor Eindringlingen, hilft als Chef, den sozialen Zusammenhalt hinzubekommen. Von daher ist diese Hierarchie für die gesamte Gruppe nur von Vorteil."
Die Gorilla-Weibchen im Berliner Zoo haben noch nie darüber nachgedacht den Chefposten von Sango abzuschaffen. Kopfzerbrechen gibt es nicht, sondern reine Klarheit. Wir Menschen meinen, es gebe bei den Tieren automatisch eine Hackordnung.
Der Stärkste und Lauteste führt. Aber wenn man das genauer erforscht, stimmt das gar nicht. Stattdessen geht es um Verantwortung. Es führt das Tier, das die Gruppe am besten beschützen kann. Der Verhaltensbiologe Robert Sapolsky sagt in seinem Buch "Gewalt und Mitgefühl": In einer Affenhorde wäre beispielsweise jemand wie Donald Trump schon nach zwei Tagen abgesetzt worden.

Flache Hierarchien - nur etwas für kleine Firmen?

Stefan Kühl kritisiert den Anti-Hierarchie-Hype und diagnostiziert handfeste Schwierigkeiten bei Management-Konzepten, die Abteilungen auflösen und Hierarchien abschaffen wollen. Zum Beispiel eigne sich Selbstorganisation nur für kleine Betriebe. Da sei das problemlos möglich.
Formalität sei nicht notwendig, gerade wenn eine Firma klein ist. Alle könnten miteinander reden, ohne die Übersicht zu verlieren
"Aber sie können bei all diesen Organisationen im Wachstumsprozess beobachten, wie sehr schnell plötzlich Diskussionen beginnen, wer sollte denn weniger miteinander reden, brauchen wir nicht verbindliche Regeln? Müssten wir nicht auch die Entscheidungsstrukturen so schaffen, dass wenn jemand gegenüber dem wichtigsten Kunden auftritt, er auch Aussagen machen kann, die dann auch problemlos in der Organisation durchsetzbar sind. Stichwort Hierarchie. Also: Man kann bei solchen Kleinstunternehmen beobachten, die – wenn sie denn klein sind –Großorganisationen erzählen wollen, wie sie sich zu organisieren haben, sich aber eine gewisse Demut einstellt, wenn sie größer werden."
Eine Beobachtung, die Thomas Schumacher teilt: "Start-ups sind von ihrer Größe her häufig teamförmig organisiert. Man muss aber dann aufpassen, das dann zu skalieren. Das erleben ja viele Start-ups dann, wenn sie anfangen größer zu werden, dann mal über 100 Mitarbeiter haben, dann ist ein höherer Organisationsgrad, eine stärkere Klärung der Zusammenarbeit nötig. Das kann man eigentlich schön beobachten, bei Start-ups, die größer werden, dass die dann tatsächlich über andere Organisationsformen nachdenken."

Wer übernimmt Verantwortung, wenn es schief geht?

Und dann auch mal zu einer hierarchischen Ordnung kommen. Ein anderes Problem: Wer hält eigentlich den Kopf hin, wenn was schiefgeht? Also was ist mit der Verantwortung?
"Das ist tatsächlich ein ganz wesentlicher Punkt, an dem es auch noch hakt. Weil auch durch Rechtssysteme ganz klar sein muss, wer hält den Kopf letztendlich hin, wer ist verantwortlich für eine Gesamtorganisation – und das ist unklar. Deswegen scheitert es auch noch an vielen Stellen, dass Selbstorganisation übergestülpt werden kann auf Gesamtorganisationen."
Stefan Kühl: "Und das Spannende ist, wenn alles klar ist und Ruhe im Betrieb ist, dann ist das ganz unproblematisch, da kriegen die Teams die Probleme alle selbst gelöst. Aber der Moment, wo bestimmte Problem nicht im Team zu lösen gewesen sind, nach oben getrieben werden müssen… Und was wir beobachten, dass Organisationen, die ihre Hierarchien abflachen, dass sie nur noch auf Teams beharren, letztlich einen Zentralisierungseffekt haben, weil die Probleme oben in der Geschäftsführung aufschlagen. Die Abflachung von Hierarchien in Führungsteams kann dazu führen, dass sie es insgesamt mit einem Zentralisierungsprozess zu tun haben. Muss nicht schlecht sein. Als Organisationssoziologen wissen wir die Notwendigkeit von Zentralisierung zu schätzen, weil dann die Verantwortlichkeiten dementsprechend auch klar sind."

Hierarchie ist effizient – in der Tierwelt

Jetzt ist er da. Mit gebeugtem Rücken, einen zerfetzten Jutesack in der Hand läuft Sango zum Rest der Gruppe. Was für ein Affenmann – dicke Muskeln, hoher Wuchs, silbernes Rückenhaar! Ein Silberrücken.
"Die haben über den ganzen Rücken weiß-silber-graue Haare und das unterscheidet sie eben von dem Rest der Gruppe, zusammen mit einer körperlichen Dominanz. Sie sind viel größer, haben an den Armen auch noch längeres Fell. Irgendwann entwickeln die Männchen noch am Hinterhaupt eine Fetthaube, die das Tier noch größer und voluminöser aussehen lässt, alles sekundäres Geschlechtsmerkmal, sie sollen seine Größe und seine Kraft ausdrücken."
Sango ist ein freundlicher Chef, sagt Tierarzt André Schüle.
"Der hätte bei den versuchten Attacken der Weibchen, die Weibchen auch beißen können und schlimm verletzen, hat er aber nicht gemacht, sondern er ist einfach aufgestanden und ist durch die Weibchen durchgelaufen und hat sich so ganz klassisch auf die Brust getrommelt und Laute von sich gegeben, die den Weibchen dann gesagt haben: Okay, er ist wirklich größer und stärker und es ist jetzt unser neuer Chef."
Seitdem ist im Gorilla-Gehege im Berliner Zoo alles geklärt. Hierarchie ist effizient – jedenfalls in der Tierwelt.
Die Erstausstrahlung des Features von Mandy Schielke war am 28.10.2019.

Autorin: Mandy Schielke
Es sprach: Ilka Teichmüller
Ton: Peter Seyffert
Regie: Stefanie Lazai
Redaktion: Martin Hartwig

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