Arbeitskultur im Wandel

Wie deutsche Firmen um Mitarbeiter kämpfen

29:51 Minuten
Ein Mann sitzt auf einem Schreibtisch und balanciert einen Basketball auf dem Finger. Um ihn herum stehen Kollegen. Das Büro ist licht, stilvoll und geräumig eingerichtet.
Freizeit oder Arbeit? Teambesprechung oder WG-Treffen? Immer mehr Unternehmen verwischen die Grenzen, um damit möglichst gute Fachkräfte an sich zu binden. © imago/westend61
Von Sonja Heizmann · 30.10.2018
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Wirtschaftswachstum und demographischer Wandel haben in Deutschland in vielen Branchen zu einem Kandidatenmarkt geführt: Unternehmen bewerben sich bei ihren künftigen Arbeitnehmern, nicht umgekehrt. Dafür braucht es neue, oft ungewöhnliche Strategien.
"Du möchtest zur Codecruise? Du kriegst von mir eine Bewerbungsmappe, dort sind alle Unternehmen beschrieben, die heute an der Codecruise teilnehmen und sich bei Euch bewerben, lies es Dir gut durch..."
Sechzehn Unternehmen bewerben sich heute bei 120 IT-lern – Studenten, Absolventen und Berufstätigen. Mit Bewerbungsmappe. Dazu gibt es ein Goody Bag, einen schwarzen Baumwoll-Turnbeutel mit Geschenken. Der Hit an diesem warmen Frühlingstag in Hamburg: eine zitronengelbe Sonnenbrille.

Tour durch die Digitalwirtschaft

Es folgen ein Mittagessen und Freigetränk, dann eine ganztägige Bustour zu den potentiellen Arbeitgebern. Die Idee für die Codecruise – Code steht dabei für Codieren – hatte Lutz Leichsenring:
"Bei dem IT-Jobshuttle geht es in erster Linie darum, dass wir Einblicke hinter die Kulissen von IT-Unternehmen geben. Die Teilnehmer steigen vormittags in einen Bus ein, gehen dann auf eine kuratierte Tour durch die Digitalwirtschaft der Stadt, können dann Leute aus den Fachabteilungen persönlich kennenlernen, bekommen Kurzvorträge, wo sich die Unternehmen fachlich vorstellen. Und wir bauen überall kleine Challenges ein. Wir haben eine App entwickelt, wo man Fragen beantworten muss, damit sie sich mit den einzelnen Aufgabengebieten der Unternehmen auch auseinandersetzen müssen."
Kandidaten, die im Quiz die richtigen Antworten geben, können am Ende des Tages einen Preis gewinnen.

Die Firmen stellen sich Fragen

Lutz Leichsenring hat mit seiner Firma "Young Targets" eine Geschäftsidee aus dem Mangel an IT-Kräften in Deutschland entwickelt. Verbindet das Anwerben von Mitarbeitern mit spielerischen Elementen. Leichsenring nennt es Recruitainment, was sich aus den zwei englischen Begriffen Recruiting und Entertainment zusammensetzt. Ein Konzept, das bei den jungen Teilnehmern gut ankommt:
- "Ich finde es cool, dass man in lockerer Atmosphäre auf Firmen trifft und das nicht den Stil von einem Bewerbungsgespräch hat."
- "Ich bin zum zweiten Mal bei der Codecruise dabei. Mir gefällt einfach das Format, weil man an viele verschiedene Firmen herankommt, weil man direkt Fragen stellen kann. Man hat in einem relativ kleinen Rahmen direkt Kontakt mit den Mitarbeitern."
Eine hellblau-graue Mappe im modischen Design liegt auf einem Holztisch, daneben diverse weitere Broschüren
Die Bewerbungsmappe beim Code Cruising Hamburg.© Sonja Heizmann/Deutschlandradio
Damit punktet die Codecruise – die Teilnehmer können bei der Rundfahrt ihr potentielles Arbeitsumfeld kennenlernen und ihre zukünftigen Kollegen – und manchmal auch Chefs. Sich einen Eindruck von der Arbeit und bestenfalls der Stimmung innerhalb der Firma machen. Im klassischen Bewerbungsgespräch sind es die Kandidaten, die Fragen beantworten und überzeugen müssen, dieses Mal sind es die Firmen. Sie übernehmen auch die Kosten für die Codecruise samt Essen, Rundfahrt, Snacks und Party. Um die 3000 Euro zahlen sie dafür.

Die Unternehmen bewerben sich - nicht umgekehrt

Mit dabei sind heute unter anderem Hermes Deutschland, Dräger, ein Hersteller von Medizin-und Sicherheitstechnik und mytaxi, die Taxi-App. Wie viele andere Unternehmen suchen sie Softwareentwickler, Projektmanager und IT-Consultants. Insgesamt sind in Deutschland laut dem Branchenverband Bitkom 55.000 IT-Stellen unbesetzt. Sophie Büsch arbeitet in der Personalabteilung der Online-Bank Comdirect, die auch an der Codecruise teilnimmt:
"Alle Unternehmen sind mit einer Herausforderung unterwegs: Wir haben einen Bewerbermarkt, wir wollen uns natürlich präsentieren, wir wollen die Leute auf uns aufmerksam machen. Und die Codecruise ist ein super innovatives Format. Wir sind zum zweiten oder dritten Mal mit dabei, ja, wir müssen auf die Kandidaten zugehen."
Rollentausch sozusagen. Stellenanzeigen aufgeben und darauf warten, dass sich Interessenten bewerben – das ist längst vorbei. Heute müssen sich Unternehmen aktiv um qualifizierte Mitarbeiter bemühen. Wer IT-ler ist, aber auch wer mit digitalen Technologien souverän umgehen kann, analytisch denkt, flexibel und schnell agiert und lernfähig ist, hat die Wahl.

Leistungsstarke Mitarbeiter - händeringend gesucht

Mitten in der Diskussion um Digitalisierung, Automatisierung und künstliche Intelligenz rückt jetzt also der Mensch in den Fokus. Um ihn wird gekämpft. Mit allen Mitteln. So früh wie möglich. Denn Unternehmen müssen sich auf dynamischen, global verknüpften Märkten behaupten und auf neue Entwicklungen und Anforderungen reagieren können. Dafür brauchen sie qualifizierte und leistungsstarke Mitarbeiter.
"Es geht darum, sich wettbewerbsfähig aufzustellen und Zukunftsfähigkeit zu sichern und ja, wenn man es ganz dramatisch sagt, geht es hier um Überlebensfähigkeit. Denn Unternehmen, die nicht mehr wachsen im digitalen Zeitalter, die sich nicht mehr anpassen, sind de facto dem Untergang geweiht."

Zeitenwende in der Arbeitswelt

Die Personalberaterin Constanze Buchheim berät Firmen, die sich für das digitale Zeitalter aufstellen wollen und sucht für sie Mitarbeiter. Zu ihren Kunden gehören Adidas, Bertelsmann, aber auch kununu, eine Arbeitgeberbewertungsplattform.
Constanze Buchheim steht bei einem Vortrag an einem Computer und präsentiert eine Präsentation
Der Kampf um die Talente ist im vollen Gang, sagt Constanze Buchheim© Martin Permantier/Short Cuts
Buchheim sagt, der sogenannte "War for talent", der Krieg oder Kampf um Talente, der in den USA längst im Gange ist, zeichne sich mittlerweile auch in Deutschland ab. Firmen zahlen selbst für relativ unerfahrene digitale Talente mittlerweile sehr hohe Gehälter. Dazu wären sie noch vor ein paar Jahren nicht bereit gewesen.
"Dass sie es jetzt sind und gleichzeitig dazu bereit sind, ihre eigene Kultur zu hinterfragen, auf Unternehmen wie uns zukommen und sagen: ‚Helfen Sie uns bitte, uns ins digitale Zeitalter zu führen, wir sind sogar dazu bereit unser Verhalten zu verändern.‘ Wenn Unternehmen sich veranlasst fühlen, das zu tun, daran merkt man schon, dass wir in einer Zuspitzung und einem Krieg um Talente sind."

"Der Arbeitsmarkt ist so gut wie leergefegt"

Grund für den Mangel: der demografische Wandel, mit dem die Zahl der erwerbsfähigen Menschen sinkt. Es werden aber vor allem mehr Fachkräfte benötigt als ausgebildet werden. Und der Bedarf wächst, weil im Zuge von Digitalisierung und Automatisierung nicht nur IT-Firmen nach qualifizierten Mitarbeitern mit technischem Wissen suchen, sondern auch alle anderen Branchen.
Eine S-Bahn mit einer Werbebotschaft des Zolls, der nach Fachpersonal sucht.
Die Zahl der Erwerbsfähigen sinkt, damit steigt der Bedarf an Fachkräften. Immer mehr Firmen lancieren daher Werbekampagnen in der Öffentlichkeit, um Personal zu finden.© Sonja Heizmann/Deutschlandradio
"Recruiting ist natürlich mit der Situation konfrontiert, dass der Arbeitnehmermarkt so gut wie leer gefegt ist". sagt Frederik Nyga, Commercial Director bei Quadriga Berlin, einem Weiterbildungsunternehmen, das unter anderem Kurse zum Thema Personalgewinnung anbietet.
"Fachkräftemangel und die Auswirkungen sind in aller Munde. Es geht sehr stark darum, mit Kreativität und mit den neuen technologischen Möglichkeiten, die man hat, den Bewerber trotzdem noch da aufzuspüren, wo er ist und möglichst authentisch anzusprechen und für sich selber zu begeistern."
Nyga sitzt auch in der Jury für einen Award, der besonders erfolgreiche und innovative Recruiting-Kampagnen prämiert. Er sagt, wer Mitarbeiter sucht, muss heutzutage vor allem Marketing machen. Das gilt für alle Branchen.

Imagekampagne der Berliner Verkehrsbetriebe

Die Berliner Verkehrsbetriebe haben bereits vor einiger Zeit begonnen, Lob und Kritik von Kunden in ihre Kampagne "Weil wir Dich lieben" zu integrieren:
"Das Geräusch der Türen macht mir Tinnitus. Die Bahn fährt so ruckelig, so dass man nicht in Ruhe schlafen kann. Ich fass nichts an, die Bank ist mir zu schmutzig, außerdem auch unbequem..."
Sie veröffentlichen Lob und Kritik auf Social-Media-Kanälen wie Twitter und reagieren dort umgehend auf die Tweets der Kunden. Aus den Beschwerden hat die BVG sogar einen Werbespot gemacht, im Stil einer Oper, gesungen von professionellen Sängern. Das Motto: "Keine Liebe ohne Drama":
"...Wenn Du stets pünktlich wärst, nicht dreckig wärst und nicht zu unersetzlich wärst, dann hätte man ja nichts mehr zum Beschweren. Und das tun wir nun mal so gern."

Authentizität statt Hochglanz

Arbeitgeber, die offen und humorvoll mit ihren Stärken und Schwächen umgehen und gleichzeitig zeigen, dass sie Verantwortung für Missstände übernehmen und sich bemühen, sie zu beheben, sind auch für Kandidaten attraktiv, sagt Buchheim.
"Unternehmensattraktivität definiert sich im digitalen Zeitalter vor allem über Authentizität. Wir sind an einem Punkt, wo wir eigentlich vollkommen gesättigt sind von Hochglanzbroschüren, von dem perfekten Lächeln, von Stock-Bildern, von Versprechungen, die am Ende nicht eingehalten werden. Menschen kommen in Unternehmen, weil sie diesem Unternehmen vertrauen. Vertrauen entsteht dann, wenn ich authentisch und glaubwürdig auftrete."
Kampagnen, wie die der BVG, wirken also nicht nur auf Kunden, sondern auch auf potentielle Arbeitnehmer, sagt Buchheim. Immer mehr Firmen gehen heute ungewöhnliche Wege, um auf sich aufmerksam zu machen. Auch deutsche Großunternehmen, wie die Lufthansa und die Deutsche Bahn.

Neue Recruiting-Formate

Die Lufthansa und die Deutsche Bahn veranstalteten groß angelegte Castings, um ihren Bedarf an neuen Mitarbeitern zu decken.
"Nie war bewerben so einfach. Sieben Tage, sieben Städte: Hamburg, Berlin, Frankfurt. Köln, Nürnberg und München... Willkommen zum Lufthansa Casting!"
Interessenten konnten ohne Voranmeldung auftauchen und am gleichen Tag ein Bewerbungsgespräch durchlaufen und eine Zu- oder Absage erhalten.
Zwei DB-Mitarbeiter warten am 05.05.2015 im Bahnhof in Stuttgart auf Reisende.
Zwei Mitarbeiter der Deutschen Bahn - langfristig muss das Unternehmen eine Vielzahl neuer Mitarbeiter einstellen. Weil ein Großteil ihrer bisherigen Mitarbeiter in Rente geht.© dpa/picture-alliance/Kastl
"Wir überlegen uns solche Recruiting-Formate", sagt eine Rekruterin der Deutschen Bahn, "weil wir festgestellt haben, wir sind ein großes Unternehmen und wir müssen dahin gehen, wo die Bewerber sind. Wir können es heute nicht mehr so machen, dass wir eine Stellenanzeige in der Zeitung aufgeben und warten, dass die Bewerber sich darauf melden, sondern wir müssen zum Bewerber rausgehen."
Das Unternehmen sucht dringend Mitarbeiter, denn in den nächsten zehn Jahren wird die Hälfte ihrer 200.000 Beschäftigten in Deutschland in Rente gehen. Außerdem baut die Bahn neue Geschäftsbereiche auf und braucht Experten für Digitalisierung und Automatisierung.

Lokführer, Elektroniker, Quereinsteiger - dringend gesucht!

Allein in diesem Jahr will die Bahn 19.000 Stellen besetzen. Dafür beschäftigt sie ein Recruiting-Team von 500 Mitarbeitern. Mit dem Casting versucht sie Facharbeiter zu gewinnen, Lokführer und Elektroniker zum Beispiel. Jobs, für die sich immer weniger Menschen entscheiden, vor allem junge Kandidaten.
Die Lufthansa plant in diesem Jahr, 2.500 Flugbegleiter einzustellen. Der Druck ist also bei beiden Unternehmen groß. Die Bahn wirbt deswegen auch gezielt um Quereinsteiger. Und die Lufthansa betont, dass ältere Kandidaten mit ihrer Lebenserfahrung das Team in der Kabine bereichern würden.
Schnelle, unkomplizierte Verfahren, einfacher Zugang und direkte Ansprechpartner, ein Gegenüber, das Fragen beantwortet: Das macht die Castings für Kandidaten attraktiv. Um auch mehr Auszubildende zu gewinnen, verzichtet die Bahn seit Sommer 2018 bei ihren Bewerbungen sogar auf das klassische Anschreiben. Telefonica Deutschland hatte es bereits 2016 für alle Bewerber abgeschafft und setzt stattdessen auf eine sogenannte One-Klick-Bewerbung.

Vereinfachte Bewerbungsverfahren nach Prinzip Dating-App

Interessenten können also per Smartphone einen Link zu ihrem Xing- oder Linkedin-Profil herstellen. Frederik Nyga sagt, Bewerbungsverfahren grundsätzlich zu vereinfachen, macht Sinn:
"Die Kommunikation wird immer schneller und die Aufmerksamkeitspanne der Leute und auch die Zeit, die man investieren möchte, um sich für etwas zu interessieren oder zu bewerben oder zu recherchieren, wird immer geringer. Dann glaube ich, dass extrem viel an Recherche bzw. an Ansprache über mobile Endgerät passiert. Und da liest man keine langen Texte, man füllt ungerne Formulare aus."
Junge Menschen stehen zusammen und nutzen ihre Smartphones.
Bewerbung schnell und leicht per Smartphone: Unter den neuen Bedingungen des Arbeitsmarktes Pflicht.© picture alliance / Bildagentur-online/Tetra Images
Firmen in allen Branchen stellen mittlerweile Bewerbungstrainings ins Internet, um es den Interessenten so einfach wie möglich zu machen und zahlen Mitarbeitern, die neue Kollegen anwerben, Prämien. Personaler müssen aber auch die Sprache der Bewerber sprechen, die sie erreichen wollen und ihnen auf die Social-Media-Kanäle folgen, die sie nutzen.
Neben ihrer Suche in sozialen Netzwerken, wie Xing oder Linkedin, testen Recruiter längst Tools aus, die mit Hilfe von Algorithmen Daten potentieller Kandidaten auswerten und helfen sie zu finden. Tools, die nach dem gleichen Prinzip wie Dating-Apps funktionieren und eine Stellenbeschreibung mit einem Kandidatenprofil abgleichen.
Andere Tools helfen Kandidaten individuell und je nach deren Präferenzen anzusprechen und sie fair zu beurteilen. Der Nutzer erhält dann Hinweise darauf, ob die Person geduzt oder gesiezt werden möchte, ein Anruf oder eine E-Mail bei der Ansprache besser geeignet ist, Smileys und andere Emoticons gut ankommen oder nicht.

Eine Bewerbungsrundfahrt zeigt die Standort-Vorteile

Bei der Codecruise in Hamburg geht es jetzt los zu den Bussen. Die Firmen warten schon auf den begehrten IT-Nachwuchs. Nachdem die Teilnehmer aus der ersten Gruppe eingestiegen sind, erklärt eine Mitarbeiterin von "Young Targets" das Prozedere:
"Wir sind an jedem Standort ungefähr eine Stunde und 10 Minuten. Es wäre auch ganz gut, wenn wir das einhalten könnten, damit wir heute Abend pünktlich zum Get-together sind. Dann wünsche ich Euch erst mal viel Spaß und bis gleich..."
Der Bus setzt sich in Bewegung, fährt vorbei an Wasserstraßen, Landungsbrücken und Speicherstadt. Für die Kandidaten eine kleine Stadtrundfahrt durch Hamburg, und für die Unternehmen die Möglichkeit, ihren attraktiven Standort zu zeigen.

Buhlen um junge Arbeitskräfte

Im Bus sitzen 26 Teilnehmer, die Hälfte sind Studenten, die anderen arbeiten bereits. Firmen versuchen heute, ihre Marke schon möglichst früh in den Köpfen von potentiellen Kandidaten zu etablieren und werben verstärkt um Studenten. Gerade für kleinere und mittlere Unternehmen, die weniger bekannt sind, ist das wichtig. Lutz Leichsenring, der Veranstalter der Codecruise:
"Da eine Gruppe von Studenten zu begrüßen, bei denen ins Gespräch zu kommen, dass man so einen Ruf bekommt, ein Profil bekommt in der Szene als attraktives Unternehmen, das zahlt sich auch aus, weil viele, viele Stellen heutzutage über Weiterempfehlung besetzt werden. Und das kann man natürlich dadurch befeuern."
In den USA gibt es Arbeitgeber, die sich auf die Rekrutierung an Universitäten fokussieren und versuchen, noch während des Studiums Leute für ein Praktikum zu gewinnen, sie dann an die Firma binden und in zwei bis drei Jahren zu den Spezialisten ausbilden, die sie eigentlich brauchen. Das ist oft einfacher und kostengünstiger als berufserfahrene Mitarbeiter zu finden.

"Das Team ist ein bisschen so wie eine kleine Familie"

An einem Kai unweit der Elbphilharmonie, hält der Bus an. Eine Mischung aus CEOs, Leuten aus den Fachabteilungen und Mitarbeitern der Personalgewinnung begrüßt die Gruppe. Danach folgen die 5minütigen Präsentationen der Firmen.
"Ich stelle gerade mal ein Team vor. Mein Team, das sind gut 40 Mitarbeiter. Was ist mein Team? Unser Team ist vor allem ein bisschen so wie eine kleine Familie. Ich lege wirklich Wert darauf, dass ich alle Mitarbeiter aus meinem Team ein Stück weit kenne, ein Stück ihrer Lebensgeschichte kenne. Denn letztlich ist es, glaube ich, am allerwichtigsten, nicht welche Firma sucht ihr Euch aus, sondern welches Team sucht ihr Euch aus. Wie fühlt ihr Euch da wohl..."
Zwei Männer stehen vor der Hamburger Elbphilharmonie und plaudern
Plauderei an der Elbphilharmonie: IT-Mitarbeiter und Arbeitskandidaten beim Hamburger Code Cruising.© Sonja Heizmann/Deutschlandradio
Die Kandidaten von heute wünschen sich Mitarbeiter und Chefs, die ihnen auf Augenhöhe begegnen und mit denen sie sich identifizieren können. Das wissen die Firmenvertreter. Manche sind selbst nicht viel älter als die Teilnehmer, andere bereits Mitte 50. Ihr Auftritt und ihre Sprache sind betont locker.
"Auch bei uns gilt das Prinzip der geteilten Verantwortung. Das heißt, da kommt kein CEO, der jedem erklärt, was er zu tun hat, sondern die Teams arbeiten eigenverantwortlich… Wir sind ein lockeres Unternehmen. Bei uns wird nicht gestempelt oder so, sondern es gibt Vertrauensarbeitszeit. Und wenn ihr mal Familie habt: Wir haben da eine Kultur, die dem sehr offen gegenübersteht."

Arbeitgeber schaffen zusätzliche Anreize

Nur mit Geld oder einem tollen Produkt können Firmen Mitarbeiter nicht mehr locken. Die Arbeitnehmer von heute wollen in dem, was sie tun, einen Sinn sehen, an wichtigen Entwicklungen mitarbeiten und Spuren hinterlassen. Sie sind bereit, etwas zu leisten, wollen aber auch genug Freizeit haben. Wer heute Personal sucht, muss darauf eingehen.
"Solche Sachen wie flexible Arbeitszeiten, Home-Office, das ist schon gang und gäbe, dass man das als Unternehmen anbieten muss", sagt Sophie Büsch von Comdirect. "Ich glaube, dass die Kandidaten von heute vor allem Freiheit möchten und sich selbst verwirklichen möchten. Sie möchten gerne eigenständig arbeiten und Verantwortung übernehmen. Wertschätzung und Vertrauen sind ganz groß geschrieben."
Eine junge Frau beim Yoga in einem Büro
Yoga im Büro: Wellness-Angebote werden von heutigen jungen Arbeitnehmern als obligatorisch vorausgesetzt.© imago/Westend61
Viele Firmen bieten heutzutage eine Reihe von zusätzlichen Angeboten an, um Personal anzulocken und den Arbeitsalltag so angenehm wie möglich zu gestalten. Dazu gehören Partys, Playstations, Massagen, Yoga-Kurse, frisches Obst, Sprachkurse, Team-Reisen.
"Es gibt jede Woche Freitag das Chill-out. Morgen zum Beispiel wieder, wo wir das Wochenende einläuten mit ein paar Bierchen. Und auch Kickern ist bei uns ein fester Bestandteil unserer Firmenkultur."
Ganz so weit wie die Arbeitgeber im Silicon Valley gehen deutsche Unternehmen allerdings noch nicht. Dort wird Mitarbeitern zum Beispiel zwei Mal im Monat eine Putzfrau bezahlt, die in den USA sehr hohe Studiengebühr erstattet, ein Sabbatical finanziert und finanzielle Unterstützung bei künstlicher Befruchtung angeboten. Und weil selbst das manchmal nicht mehr ausreicht, um Kandidaten anzulocken, bieten sie auch noch an, dem Ehepartner einen Job zu suchen und zahlen im Todesfall des Mitarbeiters dem Partner 10 Jahre lang die Hälfte des Gehalts weiter.

Wellness-Angebote am Arbeitsplatz

Die Vorträge der ersten Firmen sind jetzt vorbei. In einem Raum mit direktem Blick auf die Elbphilharmonie kommen Kandidaten und Firmenmitarbeiter ins Gespräch. Es gibt Snacks und Getränke. Eine junge Frau verteilt frisch gemachtes Popcorn.
- "Das heißt aber auch für Dich, wenn Du am Produkt arbeitest, dass Du so etwas wie spezielle Deadlines gar nicht hast..."
- "Wir haben eine Webseite, da sind Stellenausschreibungen angegeben. Ich glaube auch mit einer E-Mail. Ich kann Dir sonst auch eine Visitenkarte mitgeben....
Manche Büros auf dieser Codecruise erinnern an das Silicon Valley, wo Firmen Orte geschaffen haben, an denen die Belegschaft gerne ihre Zeit verbringt. Weitläufige Räume mit bodentiefen Fenstern, wohnzimmerähnliche Ruhezonen mit ausladenden Sofas, bunte Küchen mit vollen Kühlschränken und frischem Obst.

"Der Mensch bleibt, wenn er sich wohlfühlt"

Einer der Teilnehmer heute ist Clemens. Er ist bereits berufstätig.
"Ich glaube nicht, dass ein Konkurrenzkampf, wer hat die meisten Goodys, das Wichtigste ist. Wenn jemand Lust auf eine Firma hat, arbeitet er nicht deswegen dort, weil er da jetzt mehr Geld kriegt. Es geht ums Gefühl. Weil: Ich investiere ja unglaublich viel Zeit, Lebenszeit – die kann ich mir nirgendwo wiederholen – in eine Firma. Und wenn die keinen Spaß macht, dann macht das auch keinen Sinn."
Eine Draufsicht auf einen typischen Gemeinschaftsbürotisch. In der Mitte treffen sich die Fäuste der Mitarbeiter, um den Zusammenhalt zu symbolisieren.
Das Arbeitsklima muss stimmen: Junge Arbeitnehmer wollen Spaß bei der Arbeit und ihre Arbeit als sinnvoll erleben.© rawpixel/Unsplash
Puriah studiert Wirtschaftsinformatik, er sagt:
"Ein guter Unternehmer möchte jemanden haben, der auch bleibt. Ein Mensch bleibt, wenn er sich wohlfühlt und als jemand wertgeschätzt wird. Das fehlt gerade bei den meisten Unternehmen. Die wollen einfach nur einen, der Informatik kann, und das reicht ihnen aus. Aber ein Mensch ist ein Mensch und kein Computer."

An der Spitze der Gesellschafts-Pyramide

In Berlin hält die Headhunterin Constanze Buchheim heute einen Vortrag bei der Veranstaltung "Strategisches Recruiting in fünf Schritten".
"Wie bauen wir denn jetzt eine attraktive Organisation, mit der wir in der Lage sind Menschen – es geht ja um Recruiting heute –, Menschen anzuziehen und auch bei uns zu halten?"
Teil nimmt auch Volker Steven, Personalleiter des Internet-Unternehmens SysEleven, das Informatiker, Leute für den Verkauf und die Personalgewinnung sucht.
"Die große Herausforderung ist tatsächlich, die richtigen Leute zu finden, die zum Unternehmen passen. Und die richtigen Kanäle dafür zu finden: Wo sind die Leute, wo treiben die sich rum, in welche Kneipen gehen die, über welches Medium kann man sie ansprechen, was spricht sie an, wie stelle ich sicher, dass sie zum Unternehmen passen."
Menschen stehen um einen Tisch in einer Arbeitsumgebung und diskutieren.
Diskussionen bei der Veranstaltung "Strategisches Recruiting".© Martin Permantier/Short Cuts
In ihrem Vortrag fordert Constanze Buchheim die Zuhörer vor allem zu einem auf: Setzt Euch intensiv mit dem potentiellen Kandidaten, dem Gegenüber auseinander.
"Wir sind gerade an einem Punkt gesellschaftlich, wo wir zum ersten Mal als Gesellschaft die Spitze der Pyramide erreicht haben: Dank langer Friedenszeiten, dank Wohlstandssteigerung in den letzten 70 Jahren sind wir jetzt da oben angekommen. Und mit dieser Verschiebung der Bedürfnisse der Menschen, die in einer Gesellschaft leben, hat sich dramatisch in gleichem Masse das Konzept von Arbeit verändert, das wir haben."

Auf der Suche nach einem erfüllten Leben

Nach der Babyboomer-Generation, der es hauptsächlich um die Existenzsicherung ging, kam die Generation X, die für Wohlstand und sozialen Aufstieg gearbeitet habt, so Buchheim.
"Und dann kommt sie Generation Y vollständig versorgt, vollständig sicher in die Arbeitswelt und sagt, was hilft mir noch mehr Geld, was hilft mir noch mehr Status, was hilft mir noch mehr Aufstieg, wenn ich meine Kinder nicht sehe zum Beispiel."
Eine aus vier Personen bestehende Familie steht an einem Strand im Dämmerlicht, sodass nur ihre Silhouetten zu sehen sind.
Lebensqualität und Zeit für die Familie: Für junge Arbeitnehmer ein wichtiger Faktor bei der Wahl des Arbeitgebers.© Mike Scheid/Unsplash
Buchheim sagt, dass in der heutigen Zeit, in der es den Menschen in Deutschland wirtschaftlich gut geht, alle Bedürfnisse befriedigt sind, ihnen vor allem eines wichtig ist: Zeit. Denn ihre Lebenszeit ist das Einzige, was begrenzt ist. Kandidaten fragen sich deswegen:
"Kann ich mit dem, was ich bin und wer ich bin, in diesem Unternehmen einen Unterschied machen. Kann ich in irgendeiner Art und Weise mit der Zeit, die ich investiere, dazu beitragen, dass sich etwas verändert, dass etwas besser wird, dass ich einen Beitrag leiste. Punkt 2 ist: Wird die Führungskraft, die letztendlich darüber entscheiden kann, was ich tue, in welchem Rahmen ich es tue, wird diese Führungskraft sinnvoll und verantwortungsvoll mit meiner Lebenszeit umgehen."
Die größte Angst sei, am Ende des Lebens festzustellen, nicht richtig gelebt zu haben und die verfügbare Zeit nicht genutzt zu haben, so Buchheim. Daher käme der ständige Wunsch nach Entwicklung, nach Optimierung und die Suche nach einem Arbeitgeber, der einen dabei unterstützt, sein volles Potential auszunutzen.

Die nachwachsende Generation ist ungebunden

Sicher – sich immer weiter optimieren können nur die, die zu einer privilegierten Minderheit gehören, die gut ausgebildet sind und ohnehin genug verdienen und nur noch ein Sahnehäubchen auf ihr Leben setzen wollen. Aber der Wunsch, über sich hinaus zu wachsen, zieht immer weitere Kreise, auch seitdem den jüngeren Generationen bewusst ist, dass sie wenige sind und deswegen viel fordern können. Und wenn die Forderungen bei einem Arbeitgeber nicht erfüllt werden oder eine neue Herausforderung lockt, ziehen sie weiter. Oft schon nach zwei bis drei Jahren, denn das Angebot ist groß.
"Wir sehen auch relativ wenig Bereitschaft, auch mal harte Phasen zu durchleben, auch mal sich mit Rückschlägen auseinanderzusetzen, weil es einfach nicht notwendig ist, weil man sagt: Es wird mir hier zu schwer, ich gehe weiter, ich gehe dahin, wo es einfacher wird."

Unternehmen und Arbeitnehmer müssen harmonieren

Für die Arbeitgeber beginnt die Suche dann von neuem. Umso wichtiger ist es, dass beide von vornherein gut zueinander passen. Der Kandidat zum Unternehmen und andersherum. In ihrem Vortrag rät Buchheim Firmen deswegen, sich ihrer Kultur und Werte bewusst zu werden. Dabei geht es zum Beispiel darum, sich zu fragen, nach welchen Kriterien innerhalb des Unternehmens Entscheidungen getroffen werden und wie Herausforderungen begegnet wird. Sind die Werte definiert, sollen auch die Kandidaten danach ausgesucht werden. Das praktizieren bereits viele Firmen, vor allem in den USA, und sprechen vom "cultural fit".
"Damit müssen wir anfangen zu rekrutieren, was wir kulturell benötigen in den Organisationen. Soll heißen, wir müssen wegkommen von einer Wissens-und Fähigkeitslogik, weil Wissen im digitalen Zeitalter auf Plattformen, Videos, allen Medien zur Verfügung steht und ohnehin eine sehr geringe Halbwertszeit hat. Wir müssen auf Persönlichkeit und Haltung rekrutieren..."
Wenn beide die gleichen Werte teilen, das können zum Beispiel Offenheit, Effizienz, Flexibilität und Nachhaltigkeit, sein, wird die Führung dem Mitarbeiter vertrauen, sagt Buchheim, und ihn eigenverantwortlich arbeiten lassen. Das kommt nicht nur den Unternehmen zugute. Es ist auch genau das, was sich viele Kandidaten heute wünschen. Und wer die Wahl hat, wird sich den Arbeitgeber aussuchen, der ihm das bietet. Firmen müssen also zum Teil auch bestehende Strukturen und Hierarchien überdenken und sich neuen Werten öffnen.

Technisches Wissen und flexibles Denken als Kernkompetenz

Qualifizierte Mitarbeiter zu finden, zu gewinnen und zu halten, scheint eine immer kompliziertere Aufgabe zu werden, die viel Arbeit, Geld und Expertise erfordert. Dabei wird sich der Kampf um Talente in Zukunft noch zuspitzen. Denn während die klassischen Fertigungstätigkeiten im Zuge der Digitalisierung wegfallen, werden Jobs, die ein bestimmtes technisches Wissen und flexibles Denken voraussetzen, um ein Vielfaches zunehmen. Auch Volker Steven von SysEleven sagt, der Rekrutierungsprozess sei mittlerweile sehr aufwendig, weil es um mehr geht als die Fähigkeiten, die ein Kandidat mitbringt.
"Wie ist dieser Mitarbeiter, wie reagiert er unter Druck, wie will er geführt werden, was ist das, was für ihn wichtig ist? Was motiviert ihn morgens zur Arbeit, warum geht er zur Arbeit, was erwartet er sich von dieser Arbeit? Das sind Dinge, die gehen schon ins Psychologische hinein, das sind Fragen, die man offen stellen und erproben muss. Das ist sehr zeitintensiv, das fordert sehr viel Fingerspitzengefühl und fachliche Bildung von einem Recruiter."

Die Recruiter brauchen selber neue Mitarbeiter

Beratungsleistungen, wie die von Constanze Buchheim, werden also auch in Zukunft gefragt sein. Der Gesamtumsatz der Personalberatungsbranche legte in Deutschland bereits 2017 um zehn Prozent auf etwas mehr als zwei Milliarden Euro zu. Für 2018 wird eine ähnliche Steigerung prognostiziert. Auch Buchheims Firma 'i-potentials' wächst und muss sich jetzt selbst verstärkt um neue Mitarbeiter bemühen.
"Wir veröffentlichen selber auf den bekannten Posting-Kanälen. Wir sprechen Leute direkt über Xing und Linkedin an, gehen an Universitäten. Wir machen das, was viele andere Unternehmen machen."
Darüber hinaus versucht sie, ihre Ideen und ihr Wissen möglichst breit zu streuen, auch im Internet. So werden Kandidaten auf sie und 'i-potentials' aufmerksam und finden ihren eigenen Weg zu dem Unternehmen.

Beim FC St. Pauli wird gefeiert

In Hamburg sind die Teilnehmer der Codecruise jetzt an ihrer letzten Station angekommen: dem Clubheim des FC St. Pauli im Millerntor-Stadion. Hier wird gleich gefeiert. Vorab sammelt die Busbegleiterin die Fragebögen ein, auf denen die Kandidaten die Firmen und deren Präsentationen beurteilen sollen.
"Hermes war ok. Minus kann ich niemandem geben, außer denen, an die ich mich nicht mehr erinnere..."
Clemens haben zwei, drei Firmen besonders gut gefallen. Ob er sich tatsächlich bewerben wird, weiß er noch nicht.
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