Hermann Hesse: Briefe 1958–1962
© Suhrkamp Verlag
Zwischen Weltruhm und Alltagsärger

Hermann Hesse
„Noch lacht der Tag, noch ist er nicht zu Ende“. Die Briefe 1958–1962Suhrkamp, 2025643 Seiten
68,00 Euro
Niemand weiß, wie viele Briefe Hesse schrieb – rund 26.000 sind archiviert. Der vorletzte Band der Suhrkamp-Edition zeigt den greisen Autor als Naturfreund, genervt vom Trubel, doch bis zuletzt neugierig auf junge Literatur.
Angeblich werden Menschen im Alter ja immer gelassener. Auf Hermann Hesse traf das zumindest im Umgang mit der Literaturkritik zu. Egal, ob „Der Spiegel“ den Nobelpreisträger als „literarischen Schrebergärtner“ verspottete oder ihn der junge Karl-Heinz Deschner zum drittklassigen Kitschproduzenten erklärte: Der „Weise von Montagnola“ fand solche Schmähungen nach all den Preisen und Ehrungen seiner letzten Lebensjahrzehnte „beinah erfrischend“, wie er 1958 in einem Brief erklärte.
Dass sich die „literarischen Halbstarken“ über sein „ehrwürdiges Haupt“ lustig machten, sei der natürliche Lauf der Dinge, schließlich habe er es in seiner Jugend nicht anders gehalten, bekannte Hesse amüsiert. Seine Korrespondenzpartner erinnerte er gern an seinen wachsenden Ruhm im Ausland, zum Beispiel in Indien, wo sein „Siddharta“ in immer neue Landessprachen übersetzt wurde.
„Und neulich wurde mir erzählt: in Berkeley, California, haben die Avantgardisten der Universität eine kleine Bar, deren Schild heißt ,Steppenwolf‘“.
Wie „ein Tier im zoologischen Garten“
Andere Dinge konnten Hesses zeitlebens explosives Gemüt dafür umso mehr erhitzen. Auch noch im hohen Alter und aller Beschäftigung mit ostasiatischen Weisheitslehren zum Trotz. Zum Beispiel die ungenehmigten Raubdrucke, die in den Fünfzigerjahren von seinen Werken in DDR-Verlagen erschienen. Oder die gaffenden Touristen, die – das „Bitte keine Besuche“-Schild ignorierend – unbekümmert auf seinem Grundstück in Montagnola auftauchten, sodass sich Hesse mehr und mehr wie „ein Tier in einem zoologischen Garten“ vorkam.
Ganz zu schweigen vom Bauboom, der plötzlich das Tessiner Bergdorf erfasst hatte, in dem der Dichter schon seit Jahrzehnten lebte: Von seinem Anwesen aus erblickte er ein regelrechtes Heer an Neubauten, das ihm und seiner Frau Ninon aus dem Tal entgegenkroch. Und dann waren da noch all die Schreiben geplagter Schülerinnen und Schüler, die ihn um Hilfe bei der Interpretation seiner Werke anflehten.
„Warum muß jede dritte Abiturientin eine Arbeit über Hesse machen? Die Schülerin tut, mit seltenen Ausnahmen, das, was die Lehrerin gewiß weiß und erwartet: Sie schreibt an Hesse und fragt ihn, warum er den Knulp verfaßt und was er sich bei Goldmund gedacht habe! Keine Woche ohne ein paar solcher Briefe. Da schüttelt man nicht mehr den Kopf, sondern die Faust.“
Über 26.000 Briefe Hesses
Hesse wäre nicht Hesse gewesen, wenn er nicht auch solche Schreiben gewissenhaft beantwortet hätte. Denn mit dem Briefeschreiben war Hesse noch bis einen Tag vor seinem Tod im August 1962 beschäftigt. „Noch lacht der Tag, noch ist er nicht zu Ende“ ist der von Volker Michels herausgegebene Band mit ausgewählten Briefen aus Hesses letzten vier Lebensjahren betitelt. Mit diesem vorletzten Band nähert sich die zehnbändige Hesse-Briefedition damit ihrem Abschluss; 2012 ist ihr erster Teil erschienen, etwa 26.000 Briefe sind bislang von der Forschung dokumentiert. Für diese ist ein Ende nicht absehbar, schließlich tauchen immer wieder bislang unbekannte Schreiben des Autors auf.
Für solch späte Entdeckungen ist eigentlich der Abschlussband vorgesehen, doch einige Funde hat der Herausgeber schon in den 9. Band geschmuggelt, darunter die Korrespondenz mit dem Verlegerehepaar Samuel und Hedwig Fischer. Oder eine 15-seitige Positionierung Hesses zum Verhältnis von Kommunismus und Literatur. Letzteres ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Hesses Briefe vor allem eines sind: eine Fundgrube an Reflexionen dieses großen Weltbürgers und Humanisten über Kulturelles, Politisches oder Religiöses, viele davon heute so lesenswert wie zur Zeit ihrer Entstehung. So die Anmerkungen über den Nationalismus seines Jugendfreundes Ludwig Finckh:
„Daß du nur deutsche Ahnen hast, überschätzest du. Du stammst von Adam ab, und gegen die Millionen Jahre, in denen du Mensch geworden und dich der Menschheit verpflichtet hast, sind die drei bis vier Jahrhunderte deiner Vergangenheit, über die du Dokumente hast, recht kurz und unwichtig.“
Zeit des Erinnerns und Bewahrens
Umfangreichere Texte entstanden in dieser letzten Lebensphase keine mehr, dafür noch einige berührende Gedichte und Kindheitserinnerungen. Hesses letzte Lebensjahre waren eine Zeit des Erinnerns und Bewahrens, ausgelöst nicht zuletzt durch schmerzliche Verluste wie den Tod seines Freundes und Verlegers Peter Suhrkamp. Ungebrochen war hingegen sein Interesse an der jungen Gegenwartsliteratur, an Uwe Johnson etwa, an Peter Weiss oder Max Frisch.
Gesundheitliche Klagen finden sich in diesen späten Briefen erstaunlich wenige – erstaunlich jedenfalls für den, der das Dauerlamento über den „Bruder Leib“ aus früheren Lebensphasen kennt. Hesse litt im Alter an einer Polyarthritis sowie einer schwelenden Leukämie, die größere Reisen unmöglich machten.
„Je kleiner der Raum wird, in dem ich lebe (schon mein Garten ist mir längst zu groß, es können Monate vergehen, ehe ich bis zur Quelle oder bis zur Einfahrt komme) […], desto wichtiger und nachwirkender werden die Eindrücke, Spiele und Träume jener Stunden, in denen die Seele offensteht und alterslos auf die Rufe und Bilder antwortet, die ihr wie Schneeflocken oder wie Blätter vom Lebensbaum vorüberwehen.“
Wohl auch deshalb gehören Hesses späte Natur- und Alltagsbeobachtungen zu den schönsten Passagen dieses Briefbandes: von einer Schnecke am Stiel eines Grashalms bis zum weggeworfenen Stanniol-Fitzelchen einer Schokoladenverpackung, auf dem der Sonnenschein sein eigenwilliges Spiel veranstaltete.