Hermann Bausinger: „Vom Erzählen“

Rotkäppchen ist nicht tot

07:09 Minuten
Das Cover des Buches "Vom Erzählen" von Hermann Bausinger. Zu sehen sind bunte Großbuchstaben in Regenbogenfarben, die den Titel bilden. In den Buchstaben sind Synonyme für das Wort "Erzählen" zu lesen, etwa Bericht erstatten, plaudern, schwätzen, beschreiben.
© S. Hirzel Verlag
Vom ErzählenS. Hirzel Verlag, Stuttgart 2022

206 Seiten

22,00 Euro

Von Helmut Böttiger · 02.07.2022
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Der Tübinger Volkskundler und Ethnologe der Südwestdeutschen, Hermann Bausinger, hat seine lebenslangen Studien zum Forschungsgegenstand „Erzählen“ lebendig zusammengefasst. Dabei wird deutlich: Selbst Märchen sind alles andere als harmlos.
Der 2021 im Alter von 95 Jahren gestorbene Hermann Bausinger war eine Institution in Südwestdeutschland: Als Volkskundler an der Universität Tübingen machte er die „Empirische Kulturwissenschaft“ zu einem Erfolgsmodell und drang tief in die nur scheinbar vertrauten Mentalitäts- und Seelenstrukturen seiner Landsleute vor.
Zu seinen intensivsten Forschungstätigkeiten gehörten Feldstudien über das Erzählen. Die orale Tradition, die langsam im Aussterben begriffen ist, gehört für einen Volkskundler zu den wesentlichsten Studienobjekten. Für seine letzte Buchveröffentlichung hat Bausinger deshalb das „Erzählen“ in den Mittelpunkt gestellt und einzelne Aufsätze miteinander verknüpft.

Die Doppelbödigkeit des Erzählens

Er nähert sich seinem Gegenstand mit drei unterschiedlichen Zugriffen: Es geht um das Erzählen, wie es sich im konkreten zeitgenössischen Alltag zeigt, zum Zweiten um Erzählmuster, die sich in der Geschichte herausgebildet haben, und zuletzt um Reflexionen über das Wesen der Sprache, in denen sich die Doppelbödigkeiten des Erzählens zeigen: Täuschungen, Manipulationen, narzisstische Tricks.
Bausinger steigt dabei mit einem anschaulichen Beispiel ein. An einem großen Tisch sitzen ungefähr ein Dutzend Personen, und es gibt einen Unterschied zwischen üblichen Beiträgen in einer Konversation – Meinungsäußerungen oder Beobachtungen – und dem Moment, wenn einer eine Geschichte zu erzählen hat.

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Was dazu gehört, dass er zu Wort kommt, dass alle anderen ihm eine Zeit lang zuhören, was dazu nötig ist, um die Geschichte schlüssig aufzubauen: Das zergliedert Bausinger sehr detailliert. Und er kommt zu dem verblüffenden Bild, dass der Erzähler anfangs unter einem starken Erzähldruck steht und sich danach von der Geschichte tatsächlich „befreit“ hat. Die Verselbstständigung des Erzählens, um die es häufig geht, kann viele unterschiedliche Formen annehmen.

Die böse Moral von der Geschicht‘

Natürlich ist das mittlere Kapitel über die Erzähltradition die Basis von allem. Märchen und Sagen bilden die ältesten Überlieferungen, das mitteleuropäische Märchen entspricht alten Mythen, die in der jeweiligen Gegenwart immer auch variiert werden. Bausinger verbindet die wesentlichen Forschungsergebnisse durch einen humorvollen – ja: Erzählton.
Sehr aufschlussreich ist etwa die Geschichte, was aus der französischen Urfassung des „Rotkäppchens“ in der berühmten deutschen Version der Gebrüder Grimm geworden ist. Bei Charles Perrault, dessen Sammlung bis ins 17. Jahrhundert zurückführt, werde das Rotkäppchen wie zuvor die Großmutter vom Wolf gefressen.
Bei den Brüdern Grimm jedoch werden sie aus dem Bauch des Wolfs gerettet, und der Wolf ist tot. Das führt Bausinger zu sehr differenzierten Überlegungen über das Wesen der Moral und der deutschen Pädagogik vor allem im 19. Jahrhundert. Das Beispiel der „Hexen“-Verbrennungen zeigte schon vorher, wie demagogisch Erzählstrategien eingesetzt werden können. Die „Moral von der Geschicht‘“, die dann in deutschen Fabeln sprichwörtlich geworden ist, versucht, die Macht der Fiktion für gesellschaftspolitische Zwecke einzusetzen.
Überlegungen zum Witz, zur Lüge, zur Selbstdarstellung des Erzählers, zum „Narrativ“ oder zum „Treppenwitz“ führen immer wieder zu überraschenden Befunden. Und eines wird eindeutig klar: Das Erzählen ist alles andere als harmlos.

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