Henry und William James

"Alles wird nie erzählt"

Der Schriftsteller Henry James
Henry James - er prägte die Akademie zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem literarisch. © picture-alliance / Mary Evans Picture Library/ EDWIN
Von Manfred Bauschulte · 05.12.2020
Der eine prägte die empirische Psychologie, der andere begründet die moderne literarische Fiktion: Die Brüder William und Henry James prägten auf ihre jeweils eigene Weise den Diskurs zum beginnenden 20. Jahrhundert.
Die Brüder Henry (1843-1916) und William James (1842-1910): Ihr Wirken wird von einer osmotischen Produktivität und Rivalität angetrieben. Als Psychologe und Philosoph führt William James ein Phänomen in das moderne Geistesleben ein, das wir als "stream of consiousness" oder "Bewusstseinsstrom" kennen.
Henry James wird zum Begründer der modernen literarischen Fiktion. Seine Werke kreisen um eine provokante Frage, die er in der berühmten Erzählung "The Turn of the Screw" bis ins Unerträgliche zuspitzt: Wie weit kann die Vorstellungskraft gehen?

Intellektuelles Wirken des Psychologen William James

Die Zukunft von William James – der Willy genannt wird - ist ungeklärt. Der 19-Jährige, der Unterricht bei dem berühmten Maler William Morris Hunt nimmt, fühlt sich zunächst zum Künstler berufen. Er schreibt an den Vater, der schon einen Wissenschaftler in ihm sieht:
"Ich vermag nicht zu erkennen, warum die spirituelle Einstellung eines Menschen nicht unabhängig von seinen ästhetischen Aktivitäten verlaufen kann, warum die Kraft, die ein Künstler in sich fühlt, ihn vergessen lassen soll, was er ist."
In den ersten Jahren des Sezessionskriegs (1861-1865) verfolgt Willy ein regelloses Studium, während ihn die vielen Todesnachrichten von den Fronten verstören. Unter den Gefallenen sind Verwandte und Freunde.
Als er hört, dass sein Bruder Wilky schwer verwundet nach Hause gebracht wurde, eilt er umgehend an sein Krankenbett. Tag und Nacht sitzt er neben ihm, hält den Block auf den Knien und zeichnet den mit dem Tode Ringenden. Er hofft, ihn durch seine physische Gegenwart am Leben zu halten.
Wilky kann zwar nach Monaten genesen, aber die Albträume der Gefechte, die er erlebte, lassen ihn nie wieder los. Danach nimmt er aus innerem Antrieb das Studium der Medizin auf. Intensiv beschäftigen ihn Debatten, die das sensationelle Werk von Charles Darwin "Der Ursprung der Arten" entfacht.
Eine Reise durch Deutschland führt ihn von Berlin, wo er den Philosophen Wilhelm Dilthey kennenlernt, weiter nach Heidelberg. Hier hört er Vorlesungen des bewunderten Physiologen Hermann von Helmholtz.
Als er im Herbst 1868 wieder in Harvard ist, zieht er zurück zu den Eltern in die Quincy Street. Er ist fest entschlossen, das Medizinstudium zu beenden. Mit Erfolg gelingt das im kommenden Jahr. Nach Erlangung des akademischen Grads lichtet sich das Wirrwarr der Gefühle keineswegs. Willy hat sich in Minnie Temple verliebt:
"Was kann ich Dir aus unserem Elternhaus erzählen? Minnie Temple war vor 14 Tagen für eine Woche bei uns. Sie war in jeder Hinsicht entzückend, obwohl sie recht schmal aussah, war sie sehr fröhlich. Ich bin mir bewusst, dass ich ihr vor Jahren unrecht tat, als ich ihr meine Abneigung zeigte. Sie ist eine achtbare Persönlichkeit geworden, beweist durch ihre Aufrichtigkeit einen bewundernswerten Mut und bekennt sich zu ihren Schwächen. Ich meine, sie zeigt so ihre religiöse Seite. Mehr noch, sie ist ganz ohne Vorurteile mehr als jeder andere Mann oder jede andere Frau, die ich kenne."
Der amerikanische Psychologe William James
Physiologische Psychologie - so nennt William James das Feld seiner Forschungen und Erkenntnisse© picture alliance / Mary Evans Picture Library
Mit seiner Schwärmerei nimmt Willy das Ideal seiner späteren pragmatischen Philosophie vorweg: ihre Vorurteilslosigkeit.
Mit 30 Jahren erlebt er nach dem überraschenden Tod von Minnie den totalen Kollaps seines bisherigen Fühlens und Denkens. Am Ende folgt auf seine psychische Krise der erlösende Befreiungsschlag.
William etabliert sich an der Universität Harvard, indem er schrittweise die medizingeschichtliche Ausrichtung seiner Vorlesungen in eine eigene Thematik überführt, die er Physiologische Psychologie tauft.
Für ihn zielt das Forschen auf Daten, Fakten und Exempel. Entsprechend experimentiert er mit Stoffen und Themen. Der frühe Aufsatz über "das Gefühl der Rationalität" zeigt, wie intensiv seine Forschungen um Formen subjektiven Erleben kreisen. Er verfasst zahlreiche Werke.
Prägend wirkt sein Mammutwerk "The Principles of Psychology", das man als "Moby Dick der modernen Psychologie" bezeichnet; es bündelt in zwei Bänden mehr als 100 Kapitel und umfasst 1400 Seiten.
"Wir bewerten uns aufgrund von Standards der Stärke und Intelligenz, der Gesundheit und sogar des Glücks. Sie wärmen unser Herz und befähigen uns zur Bewältigung des Lebens. Aber tiefer als diese Einstellungen reicht der Sinn für Angemessenheit, den wir benötigen. Angesichts seiner wirkt alles entweder schattenhaft oder heroisch."
In den "Prinzipien" wird zum ersten Mal die Idee entwickelt, dass es ausgehend von der Willensfreiheit moralische Äquivalente zu Krieg und Gewalt geben könne. Der radikale Empirist William James hat "seine Kräfte restlos verbraucht", wie es seine Frau Alice ausdrückt, als er am 26. August 1910 in seinem Sommerhaus am Mount Chocorua das Bewusstsein verliert und stirbt.

Die Erzählkunst von Henry James

Seit Beginn des Sezessionskrieges (1861) schreibt Henry James anonym Artikel für Magazine und Zeitschriften. Die erste Erzählung, die er unter eigenem Namen im März 1865 veröffentlicht, heißt "The Story of a Year". Es ist eine Romanze aus dem Sezessionskrieg. In der Figur der Lizzie entwickelt er die Psychologie einer Frau, die sehnsüchtig auf ihren Geliebten, einen Soldaten an der Front, wartet.
Ihn schockiert die Rückkehr des Bruders Wilky aus dem Bürgerkrieg im Jahr 1863. Das Erlebnis geht als Episode ungefiltert in "The Story of a Year" ein:
"In der Dämmerung des vierten Abends wurde John Ford in Begleitung seiner im Kummer erstarrten Mutter und umgeben von schweigenden Freunden, die sich mit helfenden Händen um ihn sorgten, auf seiner Bahre vor die Tür getragen."
James greift ein Stück bedrückender Realität auf, die Rückkehr des schwer verwundeten Bruders aus dem Krieg, und verwebt es mit den Mitteln der Fantasie. Bis der Stoff als Erzählung ein Eigenleben zu führen beginnt.
Die komplexe Erscheinung des US-amerikanischen Mädchens Minnie Temple, um die Henry James ebenso wirbt wie sein Bruder, dient ihm als Folie für einige exzentrische Frauenporträts. Ihre Charakterzüge finden sich zum Beispiel bei "Daisy Miller", der Titelheldin seiner gleichnamigen Novelle. Weil die Leser mit seinen Figuren wie in einem vertrauten Schauspiel Umgang pflegen sollen, legt Henry James Wert auf die Darstellung ihrer inneren Einstellungen.
Als er "Das Bildnis einer Dame" in Florenz im Frühling 1880 zu schreiben beginnt, ist Henry James zum ersten Mal Constance Fenimore Woolson begegnet, einer Enkelin des Urvaters der nordamerikanischen Literatur: James Fenimore Cooper. Die Autorin, die seit 1879 ebenfalls in Europa lebt, erreicht mit ihren Romanen eine breite Leserschaft in den Vereinigten Staaten.
Der Autor Henry James
Schockiert über den Zustand seines Bruders bei der Rückkehr aus dem Bürgerkrieg im Jahr 1863 schreibt Henry James diese Erfahrung nieder als Episode in „The Story of a Year“.© picture alliance / Everett Collection | CSU Archives/Everett Collection
Zwischen den literarisch Gleichgesinnten entwickelt sich eine komplizierte Beziehung. Über viele Jahre und Stationen changiert sie zwischen Freundschaft und Liebschaft. Mit dem Selbstmord von Fenimore Woolson am 25. Januar 1894 findet ihr Verhältnis zu Henry James ein tragisches Ende.
Unter Depressionen leidend springt die Autorin in Venedig aus dem obersten Stock der Casa Semitecolo in den Tod. Auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin wird sie auf dem Protestantischen Friedhof in Rom beigesetzt. Hier hatte Henry James das amerikanische Mädchen, "Daisy Miller", die Heldin seiner gleichnamigen Erzählung, einst beerdigen lassen.
Aufgrund schmerzhafter Sehnenscheidenentzündungen kann er nach 30 Jahren nicht mehr wie gewohnt mit der Hand und einer Feder schreiben. Er sieht sich gezwungen, einen Sekretär einzustellen, dem er Bücher und Briefe diktiert.
Die mechanische Schreibmaschine erzeugt während des Diktats ein ungewöhnlich lautes Klappern. Die erste Novelle, die er seinem neuen Sekretär diktiert, heißt "Im Käfig" (1898). Der Geräuschpegel der Schreibmaschine fließt direkt in die Handlung mit ein, die in einem Telegrafenamt ansiedelt ist. Die Heldin, eine namenlose Telegrafistin, findet sich "im Käfig" ihres Schalters tagtäglich über Lese- und Entzifferungsarbeiten gebeugt.
"Es war ihr schon frühzeitig der Gedanke gekommen, dass sie in ihrer Position, der einer jungen Person, die in der Eingeengtheit eines mit Draht vergitterten Holzverschlages, das Leben eines Meerschweinchens oder einer Elster führte, eine große Anzahl von Menschen kannte, die sich selbst dieser Bekanntschaft nicht bewusst waren."
Das Geheimnis von Henry James liegt in dem Gefühl, dass ihn als Autor kaum etwas je gleichgültig lässt. Diese Haltung kann sich auf Leser übertragen, denn seine Geschichten sind jedes Mal Proben aufs Exempel: Wie weit sind die Leser bereit und fähig, ihm zu folgen?
Im letzten Lebensjahrzehnt tritt Henry James wieder in regen Austausch mit seinem Bruder. William ist als Vortragsreisender oft in Europa unterwegs. In einem Brief aus dem Jahr 1907 charakterisiert William die deutlichen Unterschiede zwischen seiner philosophischen Sicht und dem literarischen Wirken von Henry:
"Mein Ideal ist es, die Dinge in einem Satz so direkt und genau wie möglich auszudrücken und anschließend kein weiteres Wort mehr darüber zu verlieren. Dein Ideal hingegen ist es, aus dem Nichts heraus etwas zu evozieren, ohne es genau zu benennen. Du gibst erst auf, wenn Du es in der Vorstellung des Lesers erreicht hast, dass die Umrisse eines soliden Gegenstandes mit vagen Vorstellungen von ihm verschwimmen."
In den ihm verbleibenden Jahren wählt Henry James wieder London als seinen Lebensmittelpunkt. Am 1. Dezember 1915 erleidet er einen Schlaganfall. Danach diktiert er seiner letzten Sekretärin in einem wahnhaften Zustand lange Briefe, die er mit Napoleon signiert. Drei Monate später, am 28. Februar 1916, stirbt er in Gegenwart seiner Schwägerin Alice.

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