Henri Lefebvre: "Das Recht auf Stadt"

Die Feinde der urbanen Gesellschaft 

Der Blick über die Innenstadt von Paris (Frankreich) am 16.08.2015. In der Mitte ist der Eiffelturm zu sehen, rechts im Bild der Invalidendom. Das Foto entstand vom Hochhaus Tour Maine-Montparnasse.
Blick über die Innenstadt von Paris: Hinter den begradigten Boulevards des 19. Jahrhunderts stecken Herrschaftsstrategien, so Henri Lefebvre. © picture alliance / dpa / Kevin Kurek
Von Marko Martin · 12.05.2016
Henri Lefebvres "Das Recht auf Stadt" von 1968 ist ein Klassiker – der nun endlich auf Deutsch erschienen ist. Den protestierenden und träumenden Pariser Studenten lieferte der Essay die theoretische Grundlage – die auch heute noch von Bedeutung ist.
Vermag ein Buch aus dem Jahre 1968 noch aufzurütteln, oder beschenkt es uns lediglich mit dem nostalgischen Gefühl früherer Empörung? Als in jenem Annus mirabilis Henri Lefebvres "Das Recht auf Stadt" im französischen Original erschien, nahmen die protestierenden Pariser Studenten diese Streitschrift als theoretische Grundierung ihrer Träume und Visionen: Unter dem Pflaster liegt der Strand.
Dabei war Lefebvre (1901-1991) zeitlebens ein eher strenger Denker, der nicht nur die idealistischen Wortblasen des "traditionellen Humanismus" ablehnte, sondern auch die formatierte Sprache der Kommunistischen Partei, welche den ehemaligen Résistance-Kämpfer bereits 1958 aus ihren Reihen ausgeschlossen hatte.

Verblüffende Analysen eines unorthodoxen Marxisten

Der Soziologe aber blieb (unorthodoxer) Marxist, was die Stärke, jedoch auch die Grenzen dieses Essays erklärt. Lefebvres Kritik an der zunehmend segregierten Stadt folgt nämlich nicht jenem kulturkritischen Lamento, nach welchem früher alles besser und beschaulicher war.
Bereits in den berühmten, ab 1853 vollzogenen Straßenbegradigungen des Baron Haussmann sieht er zu Recht Herrschaftsstrategien am Werk. Verblüffend auch, wie er eine Entwicklung analysiert, die 1968 doch erst begonnen hatte: Das Stadtzentrum wird entkernt von sozialer und politischer Heterogenität und beherbergt – in der römischen Tradition von "Brot und Spiele" – bald nur noch Einkaufstempel, in denen banalisierte Träume verkauft werden, die sich die Bewohner der Vororte nur partiell zu leisten vermögen.
Gegen diese Vermassung, die nur in Frustration enden kann, setzt Lefebvre einen urbanen Individualismus, der sich städtische Räume selbstbewusst (wieder) aneignet und deren "Gebrauchswert und nicht allein Tauschwert" erkennt. Dass freilich "allein das Proletaritat" diesen neuen Humanismus hervorbringen könne, liest man heute mit Staunen: Die einstmals "roten Banlieues" wählen längst Front National, und auch in Deutschland steigt gerade unter Arbeitern der Anteil von AfD-Sympathisanten.
Außerdem: Was, wenn nicht allein kapitalistische Manipulation für das Elend der Städte verantwortlich wäre, sondern auch jene religiös-archaischen Verhaltensmuster, die in gewissen Einwanderer-Milieus zu beobachten sind?
Überdies gibt es von Birmingham über Manchester bis zum Ruhrgebiet inzwischen unzählige Beispiele eines menschenfreundlich gelingenden postindustriellen Strukturwandels der Stadtgestalt – finanziert mit Geld, das im Rahmen der vielgescholtenen Marktwirtschaft erarbeitet wurde.

Inspiration und Relevanz für die Gegenwart

Wenn Henri Lefebvres Text dennoch inspirierende Gegenwartsrelevanz besitzt, liegt dies an seinen Grundqualitäten: ein kühler Blick auf das Gemachte der städtischen Realität sowie die Zurückweisung von staunender Naivität und grummelndem Fatalismus. Wer die Wirklichkeit auf diese Weise betrachtet, besitzt das geistige Rüstzeug, sie zum Besseren zu verändern. "Das Recht auf Stadt" ist kein Slogan, sondern ein konkretes Menschenrecht.

Henri Lefebvre: Das Recht auf Stadt
Essay
Aus dem Französischen von Birgit Althaler
Edition Nautilus, Hamburg 2016
220 Seiten, 18 Euro

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