Helene Hegemann: „Schlachtensee“
© Kiepenheuer & Witsch
Körper im Kampf
06:00 Minuten

Helene Hegemann
SchlachtenseeKiepenheuer & Witsch, Köln 2022272 Seiten
23,00 Euro
Dieses Buch folgt keinem Schema. Es ist chaotisch, brutal und geht um Leben und Tod. Helene Hegemann erzählt von Endzwanzigern, von moralischen Dilemmata unserer Gegenwart und schenkt ein wenig Trost.
Sie sind älter geworden, die verwahrlost-kaputten Teenager aus Helene Hegemanns Romanen. Älter, aber nicht erwachsen. Einige orientierungslose Endzwanziger stellt die Autorin ins Zentrum ihres Kurzprosa-Bands, lässt sie in loser Folge immer wieder auftauchen – und gegen den Tod antreten, mal mehr und mal weniger erfolgreich.
Da befreit sich eine auf Machtgesten versessene junge Geschäftsfrau ausgerechnet in der vergifteten Wolga aus der Affäre mit einem russischen Immobilienmogul. Und ein 27 Jahre alter Drogendealer ist zuerst umzingelt von einer Horde Wildschweinen, umzingelt von seiner Homosexualität, und dann tot.
Körper wissen mehr
Helene Hegemann ist brutal gegen ihre Figuren, auch in diesen 15 unterschiedlich langen Texten. Ihre Figuren leiden dabei nicht nur an der Welt. Auch ihren Körpern ist ein schmerzhaftes Wissen eingeschrieben von den Widersprüchen, dem Macht- und Gewaltfetisch unserer Gegenwart und Geschichte.
Sobald Esther etwa einen Mann anschaut, symbolisiert er für sie zwangsläufig jene Zerstörung, die sich seit Jahrhunderten in Männerkörpern manifestiert und verselbstständigt. Sie sieht Bilder von Krieg und Gemetzel im Kopf, ob sie will oder nicht.
An vielen Stellen folgen die Geschichten aus „Schlachtensee“ nicht der Logik und liefern keine Erklärung. Auch erzählerisch sind Stringenz oder Chronologie keine Prinzipien, die Helene Hegemann für ihr Anliegen förderlich schienen.
Ihre Texte können mit einem starken Verweis einsteigen – und bei einem ganz anderen enden. Sie können in wenigen Dialogzeilen das Thema wechseln oder zwischen Imagination und Wirklichkeit ins Leere laufen.
Starke Bilder über Weltschmerz
All das erscheint aber keineswegs als Mangel, sondern nur konsequent. Denn wer die Kontingenz der Welt erzählen will, kann keinem bewährten Baukastenschema gehorchen. „Ich kann vor mir selbst nicht mehr rechtfertigen, das Chaos, das wesentlich ist, zugunsten gängiger Erzählstrukturen zu übergehen, nur damit Sie nicht aussteigen, dieser Text darf nicht funktionieren, er darf nicht funktionieren, er kann es auch nicht“, erklärt der Erzähler des poetologischen Texts „Himmel“ in direkter Ansprache an die Lesenden.
Wer Hegemanns „Schlachtensee“ liest, will sofort widersprechen. Natürlich „funktioniert“ dieser Text. Weil die stilsichere Autorin uns mit gerade so viel Kausalität versorgt, dass wir ihr von einem starken Bild ins nächste folgen. Dann beugen sich Prostituierte über Drogen, „als würden sie ein trauriges Buch aus dem Regal ziehen“. Oder ein Leben ist vorbei „wie ein viel zu brutaler Porno, den man endlich ausschalten konnte, weil alle abgespritzt haben“.
So unverbraucht wie Helene Hegemann schreibt niemand über Weltschmerz.
Am Ende ein wenig Trost
Und das Beste: Ganz am Ende lässt uns die Autorin doch noch etwas Trost. Und der erscheint nach seitenlangem Schmerz, Ekel und moralischem Dilemma überraschend profan. Für wenige glückselige Tage können zwei ausgewählte Figuren sich befreien von zumindest einem Übel dieser Welt, von den Männern.
In der letzten Geschichte des Bandes finden zwei junge Frauen zueinander. Zufällig sind sie im selben Hotel in Ägypten. Sie erkennen sich wieder, verlieben sich und schreien ihre Lust aneinander bis auf die Straße, auf der sie keine kurzen Hosen trägen dürfen.