Helena Janeczek: "Die Schwalben von Montecassino"

Familientraumata und Maori im Kampf gegen Hitler

Das Cover des Buchs "Die Schwalben von Montecassino" von Helena Janeczek
© Berlin Verlag

Helena Janeczek

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull

Die Schwalben von MontecassinoBerlin Verlag, Berlin 2022

427 Seiten

24,00 Euro

Von Marko Martin · 03.08.2022
Im Mittelpunkt von Helena Janeczeks Roman steht die Schlacht von Montecassino. Von dort nähert sich die deutsch-italienische Autorin ihrer traumatischen Familiengeschichte und erzählt von Indern und neuseeländischen Ureinwohnern im Zweiten Weltkrieg.
Dass Väter und Großväter ihre einstige Kriegsbeteiligung kleinreden, mag in deutschen Familien oft vorkommen. Man sei „nicht wirklich“ in Kampfeinsätze verwickelt gewesen, außerdem – ein generationsübergreifendes Narrativ, ebenso ahistorisch wie ungemein entlastend: „Krieg ist immer sinnlos.“
Die 1964 in München geborene Schriftstellerin Helena Janeczek hatte jedoch keinen Täter oder Mitläufer des NS-Staates zum Vater, sondern einen polnischen Holocaust-Überlebenden. Die Mutter hatte das KZ Auschwitz überlebt, während der Vater häufig von der berühmten Schlacht von Montecassino erzählte, an der 1944 neben amerikanischen Truppen auch die polnischen Einheiten der sogenannten Anders-Armee teilgenommen hatte, darunter zahlreiche Juden. Doch hatte er wirklich in Italien gekämpft? War es nicht eher so, dass er in einem Versteck überlebt hatte und nach dem Krieg als ehemalige Discplaced Person in München hängen geblieben war, da es kein Visum für die USA gegeben hatte?

Maori in einer Schlacht in Italien

Helena Janeczek lebt seit 1983 in Mailand und schreibt inzwischen auf Italienisch. Ihre in Italien preisgekrönten Bücher haben auch hierzulande ein großes Echo gefunden.
In ihrem biografisch grundierten Roman „Die Schwalben von Montecassino“ nähert sie sich erneut der Familiengeschichte und deren Verzweigungen und Sackgassen, weitet jedoch die Perspektive: da in jener kriegsentscheidenden Schlacht – bei der auf alliierter Seite mehr als hunderttausend Soldaten gekämpft hatten (die Hälfte davon starb oder wurde verwundet) – auch zahlreiche Neuseeländer beteiligt waren, darunter viele Maori.

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Einer der Enkel der damaligen Kämpfer streift nun beinahe ein ganzes Menschenleben später über das ehemalige Schlachtfeld und den immensen Soldatenfriedenhof von Montecassino, im Gedächtnis die Sätze seines mittlerweile verstorbenen Großvaters. Wie war es, als neuseeländischer Ureinwohner auf südeuropäischem Boden dafür zu kämpfen, dass das rassistische Nazideutschland keine Weltmacht wurde? Aber hatte es nicht innerhalb der Truppen ebenfalls Rassismus gegeben? Der Teenager stößt auf Maori-Veteranen aus der Generation seines Großvaters, die die Gräber ihrer gefallen Kameraden nach einem althergebrachten Ritus weihen – und zwar aller gefallenen neuseeländischen Soldaten.

Gestützt auf reale Dokumente

Eine ähnlich berührende Begegnung gibt es zwischen einem jungen Polen und einem Indischstämmigen seines Alters. Denn selbstverständlich hatten damals auf britischer Seite auch Soldaten vom Subkontinent gekämpft. Hatte es während der vier Monate langen Gefechte Kontakte zwischen ihnen und den Polen gegeben? Und falls nicht: War es nicht so, dass während des Zweiten Weltkriegs wiederum Polen in Indien Zuflucht gefunden hatten, nach einer langen Odyssee hinaus aus der Sowjetunion und via Iran? Helena Janaczek dringt immer tiefer in das bis heute existente Geflecht ein, sie nimmt die Lesenden mit, verzichtet jedoch auf erwartbare emotionale Plot-Affekte. Manche der Jüngeren sind fiktiv, die Dokumente, auf die sie zurückgreift, jedoch real.

Jahrhundertgeschichte mit Lakonie erzählt

Je näher die Autorin der eigenen Familiengeschichte kommt – Freunden und Bekannten ihres Vaters –, umso vorsichtiger umkreist sie das Geschehen. Denn, was hatte sich damals in Lemberg ereignet, nach dem sowjetischen Einmarsch 1939, der kurz nach Hitlers Überfall auf das westliche Polen erfolgt war? Stalins Geheimpolizei hatte auch dort zahlreiche Massenmorde begangen – und wer von den angeblichen „Volksfeinden“ überlebt hatte, wurde dann von den späterhin einrückenden Deutschen erschossen oder in die Vernichtungslager deportiert, nunmehr als Jude. Wohin flüchten in diesem Grauen?
Die Größe von Helena Janeczeks weit mehr als nur dokumentarischem Roman zeigt sich auch darin, welchen Stimmen sie darin Raum gibt. So etwa dem Schriftsteller Gustaw Herling, der bereits 1951 in seinem Buch „Welt ohne Erbarmen“ von jenen Polen erzählt hatte, die Stalins Gulag überlebten und – nicht zuletzt auf Drängen der Westalliierten – die Sowjetunion hatten verlassen dürfen, in eben jener Armee des Generals Wladyslaw Anders, die danach im Nahen Osten und in Italien kämpfte. Helena Janeczek folgt auch ihrem späteren Schicksal, denn für kaum einen dieser polnischen Soldaten hatte es nach 1945 eine Rückkehr in ihre inzwischen stalinisierte Heimat gegeben. Jahrhundertgeschichte im Plural, schreckenerregend, aufwühlend – und gerade deshalb erzählt in einer Sprache von geradezu modester Kühle und Lakonie.    
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