Heinz Helle: „Die Überwindung der Schwerkraft“

Wenn die bleierne Leere für immer bleibt

Buchcover Heinz Helle: „Die Überwindung der Schwerkraft“, im Hintergrund ein herbstlicher Wald.
Der Protagonist in Heinz Helles neuem Roman muss den Tod seines Halbbruders verarbeiten - und scheitert daran. © Suhrkamp / AP
Von Carsten Hueck · 05.10.2018
Den Tod eines Angehörigen zu verkraften, das gelingt nicht jedem Betroffenen: Heinz Helles neuer Roman „Die Überwindung der Schwerkraft“ ist ein einfühlsamer Nachruf, ein Requiem - und ein Highlight der deutschen Gegenwartsliteratur.
Wir haben eine höchst kunstvolle Fähigkeit entwickelt, verstörende Nachrichten, all die unschönen Tatsachen des Lebens, auf Dauer von uns fernzuhalten. Wir wissen um diesen und jenen Völkermord, um Gräueltaten und Kriege, Ausbeutung, die Allgegenwart von Gewalt in der Welt. Wir können dennoch das Leben genießen.
In seinem neuen Roman " Die Überwindung der Schwerkraft" macht uns Heinz Helle mit einem bekannt, der das nicht kann. Er ist der ältere von zwei Halbbrüdern, die keine Namen tragen, sich den Vater teilen, nicht jedoch die Mutter. Zwölf Jahre trennen sie voneinander und doch sind sich die beiden auf zärtliche, mitunter verzweifelte Art nah.
Auf 200 Seiten erzählt der jüngere, inzwischen Anfang 40, vom älteren, der sieben Jahre zuvor gestorben ist, und dessen Tod ihm immer noch irreal vorkommt.

Der Tod bleibt irreal

Der Text hat die Form eines stetigen Bewusstseinsstroms, in dem es thematische und geographische Wechsel, keine Absätze, zuhauf Kommata und nur wenig Satzenden gibt. Als dürften Erinnerungen und rekonstruierte Gespräche nicht abreißen, als wolle dieses von Sinnfragen grundierte Requiem den Tod dementieren, als ließe sich die Schwerkraft des Faktischen doch irgendwann aufheben.
Wer sich diesem ausgedehnten Nachruf öffnet, wird erschüttert. Zum einen schildert Helle zärtlich eine intensive Beziehung zweier unterschiedlicher Menschen und ihrer Unsicherheiten, zum anderen beschreibt er den Versuch, das Leben mit seiner Komplexität, Härte, seinen Widersprüchen zu verstehen - und auszuhalten, ohne dabei vor die Hunde zu gehen. Helle, der studierte Philosoph, schafft es, die schlichte Konstruktion des Romans - einer ist tot, ein anderer erinnert sich an gemeinsam verbrachte Zeit – mit einem Höchstmaß an Welthaftigkeit zu füllen. Er zeigt, wie Vergangenes unsere Gegenwart durchdringt und eröffnet einen Erlebnisraum, in dem kollektive und subjektive Erfahrungen sich zu einer bedrängenden Schwere verdichten.
In langen Nächten, bei unzähligen Bieren, in verrauchten Kneipen und gelegentlichen Telefongesprächen sprechen die Brüder von ihrem Vater, Liebesverhältnissen, Stalingrad, der "Operation Gomorrah", dem Kindermörder Marc Dutroux, Goldman Sachs und IS.

Durchdacht und gefühlvoll

Durch sein empathisches Temperament kann der Ältere sich nicht die Welt und nicht ihr Leid vom Leibe halten. Es entsteht das Porträt eines Menschen, dem auf Erden nicht zu helfen ist: Historiker, sensibel und scharfsinnig, abgebrochenes Ingenieursstudium, verhinderter Lyriker, erfolgreicher Werbetexter, Mitarbeiter des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen, Aussteiger, Alkoholiker, gescheitert im Berufs-und Privatleben.
Heinz Helles Roman ist ein Highlight der deutschen Gegenwartsliteratur. Er zeigt durchdacht und gefühlvoll, in ruhiger, doch rhythmisierter Sprache, dass diese vor allem dazu da ist, "uns zu trösten und um die Leere zu füllen, die sich in uns ausweitet, wenn wir merken, wir haben keine Ahnung, warum geschieht, was geschieht."

Heinz Helle: "Die Überwindung der Schwerkraft"
Suhrkamp, Berlin 2018
200 Seiten, 20 Euro

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