Hedwig Richter: „Demokratie. Eine deutsche Affäre“

Reform, nicht Revolution

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Das Buchcover "Demokratie" von Hedwig Richter ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
"Ein Projekt von Eliten"? Hedwig Richter wirft einen kritischen Blick auf die Demokratie. © C.H.Beck Verlag / Deutschlandradio
Von Ingo Arend · 05.10.2020
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Das neue Buch der Historikerin Hedwig Richter ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die liberale Demokratie westlicher Prägung. Diese sei zwar bedroht, etwa durch Populismus und die Digitalisierung. Für einen Abgesang sei es aber zu früh.
"People have the Power". Mit ihrem Song setzte die Rocksängerin Patti Smith dem Credo von der Demokratie als Volksherrschaft 1988 ein musikalisches Denkmal. Anhänger dieses Evergreens dürfte es da provozieren, wenn eine Wissenschaftlerin dieses Mantra nun als "Projekt von Eliten" charakterisiert.
Die Historikerin Hedwig Richter versucht sich mit ihrem jüngsten Buch an der Quadratur des Kreises. Die Professorin an der Bundeswehr-Universität in München, Jahrgang 1973, will die Schattenseiten der Demokratie betrachten. Zugleich will sie aber auch eine Lanze für dieses "krumm gewachsene Gemisch" brechen.

Friedliche Reformen

Wasser in den Wein des demokratischen Idealismus will Richter nicht nur mit dem Hinweis auf das historische Kontinuum der Wahlmüdigkeit gießen. Ihre Kernthese lautet, die Beteiligung der breiten Massen an der Politik verdanke sich mehr der Reform von oben als Revolutionen.
Vom Preußischen Landrecht 1794 bis zum Grundgesetz von 1949 zieht die Historikerin eine Linie des Mediums, das den Kern der Demokratie ausmacht: friedliche Reform durch aufgeklärte Eliten. Klassenkämpfe oder Volksaufstände finden keine Gnade vor ihren Augen: zu viele gewalthaltige Nebenwirkungen.
Abstrus wird ihre Argumentation dem Hinweis auf eine weitere, die demagogische Schattenseite der Demokratie. Der 1. Weltkrieg wird da zum "Irrweg der aufgeputschten Massen". Als ob Fritz Fischer nie seine Studie "Griff nach der Weltmacht" über die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18 geschrieben hätte.

Eine Herzenssache

Richter ist eine anschauliche Erzählerin, sie argumentiert gern leidenschaftlich. Im Eifer des Gefechts verrutschen ihr dabei gelegentlich Metaphern und Begriffe. So oft, wie sie Demokratie als "Herzenssache" bezeichnet, verschwimmt auch die Grenze zwischen Analyse und Apologie. Zudem verwickelt sie sich in Widersprüche.
"Führende Nationalsozialisten konnten beim Aufbau der bundesrepublikanischen Demokratie keine tragende Rolle spielen", behauptet sie faktenwidrig. Wenige Seiten später beklagt sie dann die "laxe Verfolgung von nationalsozialistischen Straftätern" in der Nachkriegszeit. Die weiterbeschäftigten Beamten hätten sich letztlich aber doch als "Stabilitätsfaktor der jungen Republik" erwiesen.
Überzeugend dagegen belegt sie ihre These von den "neuen Körper- und Gefühlsregimen": Von der Bauernbefreiung über die Abschaffung der Prügelstrafe bis hin zur MeToo-Bewegung. Aus der Forderung nach der Unversehrtheit des Körpers entwickelte sich für sie die Idee des demokratischen Subjekts.
Richters Buch ist keine streng historische Studie, sondern ein mit viel Sekundärliteratur illustriertes Plädoyer für die liberale Demokratie westlicher Prägung. Diesen "Konsenskapitalismus" sieht sie zwar von Krisen wie der globalen Ungleichheit, Populismus und der Digitalisierung bedroht. Andererseits kanzelt sie die postdemokratischen Sirenengesänge als "intellektuellen Luxus" ab.
So wie sich die Problemlagen verschärfen, die damit beschrieben werden, fällt es allerdings schwer zu glauben, es würde schon reichen, "gelassen den Alltag der Demokratie zu leben". Wenn der "Dritte Stand" 1789 in Paris auf Richters Motto Reform statt Revolution gesetzt hätte, gäbe es diese Staatsform womöglich heute nicht.

Hedwig Richter: "Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart"
C. H. Beck Verlag, München 2020
400 Seiten, 26,95 Euro

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