Isabell Lorey: „Demokratie im Präsens“

Wie Protestbewegungen die Politik erneuern

34:55 Minuten
Ein junges Paar umamrt sich während des Protest-Camps auf der Puerta del Sol im Mai 2011.
In der Bewegung liegt die Kraft: Das Protestcamp auf der Puerta del Sol in Madrid im Mai 2011 gilt als ermutigendes Vorbild. © Getty Images / Corbis / Dusko Despotovic
Isabell Lorey im Gespräch mit Stephanie Rohde · 27.09.2020
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Ungerecht, ausgrenzend, im Kern eine Fehlkonstruktion: Das Urteil der politischen Philosophin Isabell Lorey über unsere repräsentative Demokratie fällt harsch aus. Neue Impulse erhofft sie sich von internationalen Protestbewegungen.
Die Geschichte moderner Demokratien ist eine Geschichte von Kämpfen um Anerkennung und Mitsprache. Dass Frauen in der Politik heute deutlich stärker repräsentiert sind und spezifische Rechte und Interessen wirkungsvoller durchsetzen können als noch vor ein oder zwei Generationen, ist vor allem dem hartnäckigen Engagement einer zivilgesellschaftlichen Bewegung zu verdanken.
Viele weitere Stimmen prägen die Gesellschaft inzwischen selbstbewusster und vernehmlicher mit als noch vor wenigen Jahren: von Menschen mit Migrationsgeschichte über Angehörige der LGBT*IQ-Communities bis zu Aktivistinnen und Aktivisten, die sich für die Belange von behinderten Menschen einsetzen. Die Öffentlichkeit ist diverser geworden.

Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Doch solche Fortschritte auf einzelnen Feldern lenken von einem grundsätzlichen Problem ab, meint die politische Philosophin Isabell Lorey, die als Professorin für Queer Studies an der Kunsthochschule für Medien in Köln lehrt. Hinter dem Anspruch der Gleichberechtigung blieben die realen Verhältnisse in unserer Gesellschaft weit zurück, sagt Lorey:
"Wir sind nicht in der Lage, ein gutes Leben für alle Menschen hinzukriegen, die wir als sogenannte ‚Behinderte‘ bezeichnen. Wir sind nicht in der Lage, Frauen gleichzustellen, noch nicht einmal in der Bezahlung. Wir sind nicht in der Lage, Deutschland konsequent als Einwanderungsgesellschaft zu begreifen, wo Migration keine Ausnahme ist, sondern das völlig Normale."
In Loreys Augen ist diese Bilanz jedoch nicht einfach ein Ansporn dafür, mehr zu kämpfen, damit die Anliegen der Betreffenden auf der politischen Agenda mehr Gewicht erhielten – wobei sie betont: "Ich diskreditiere in keiner Weise die Kämpfe um Anerkennung. Ich diskreditiere den Zynismus, der dahinter steckt, zu sagen: Ihr müsst um eure Rechte kämpfen, denn von alleine habt ihr die nie."

Kritik an der Repräsentation

Der entscheidende Fehler liegt für Lorey im System. Das Prinzip der Interessenvertretung durch politische Repräsentation sei kein geeignetes "Instrument, um Gleichheit herzustellen", sagt sie. "Die heterogenen Vielen können durch Repräsentation nicht vertreten werden." Denn die Logik der Repräsentation beruhe auf Ausschließung.
Moderne Demokratien zögen eine willkürliche Trennlinie zwischen der politischen und der sozialen Sphäre, so Lorey. "Dazu gehört eine bestimmte Vorstellung dessen, wer in der Lage ist, öffentlich zu agieren, zu erscheinen, und welche Idee wir von politischem Handeln haben."
Als Leitbild des politischen Handelns gelte ein Konzept des autonomen Individuums, dem traditionell "männliche" Attribute zugeschrieben würden. Doch dabei blieben wesentliche Aspekte unseres Lebens ausgeklammert, sagt Lorey. Wer den Menschen als autonomes Subjekt entwerfe, negiere die "Sorgebeziehungen, von denen wir alle primär abhängig sind."
Porträt von Isabell Lorey im schwarzen Pullover vor einem grauen Hintergrund
Verschiedenheit zulassen: Isabell Lorey, politische Philosophin und Professorin für Queer Studies© Claudia Trekel
"Wir kommen als prekäre, sorgebedürftige, nichtautonome Körper auf die Welt", sagt Isabell Lorey. "Wir sind immer abhängig von anderen, in jeder Lebensphase, mal ist es uns bewusst und mal weniger. Wir können nicht abstellen, dass wir krank werden, Unfälle erleiden, dass wir sterben."
Für Lorey ist die Beobachtung, "dass wir prekär sind und bleiben" eine Grundvoraussetzung der menschlichen Existenz. Diese Einsicht prägt auch ihre Auffassung vom Menschen als Gesellschaftswesen: "Wir sind nicht ohne Sorgebeziehungen. Wir sind nicht ohne Verbindung zu anderen. Wir leben nicht autonom." Doch alle Konsequenzen daraus würden in eine als "weiblich" definierte Sphäre des Sozialen abgeschoben.

Zu wenig Anerkennung für Sorgearbeit

Dass diese Rechnung nicht aufgehe, habe gerade erst die Coronapandemie vor Augen geführt: Auf einmal seien Pflegeberufe als "systemrelevant" erkannt worden, und die Arbeitsbedingungen in der Branche wurden hinterfragt. Bisher mit bescheidenem Ergebnis, so Lorey:
"Eine pauschale Einmalzahlung von 500 Euro, das ist zynisch. Ein Interesse, diese Arbeit umzustrukturieren, anders zu bewerten, müsste eine komplette Restrukturierung des Gesundheitssystems bedeuten, ein Neuaufsetzen von Lohnverhältnissen."
Doch Loreys Verständnis von "Sorge" geht tiefer: Eine Gesellschaft, die Sorgebeziehungen in einem umfassenden Sinne als Teil des Politischen anerkenne, müsse die Trennung von Politik und Sozialem, von Staat und Zivilgesellschaft, von öffentlicher und privater Sphäre aufheben. Ein ermutigendes Beispiel dafür, wie daraus neue Formen von Demokratie erwachsen könnten, erkennt Lorey etwa in der spanischen Protestbewegung der Jahre 2011 und 2012.

Demokratie ohne "Volk"

Die Bewegung der Demonstrierenden richtete sich gegen die EU-Wirtschafts- und Finanzpolitik und sah sich im starren spanischen Zweiparteiensystem nicht vertreten. Darüber hinaus vertraten die Beteiligten aber durchaus heterogene Positionen. Aus Loreys Sicht gelang es ihnen dennoch, eine "präsentische Demokratie" zu praktizieren, die ohne klassische Formen der Repräsentation auskam:
"Natürlich sind die Positionen heterogen, und das ist gerade das Interessante. Mit dieser Heterogenität umzugehen, sie zuzulassen, sie nicht sofort schließen zu wollen, bedeutete eine unglaubliche Kraft, die über Jahre anhielt."
Lorey knüpft mit dieser offenen Form einer zivilgesellschaftlichen Bewegung an den Begriff, der "Multitude" des italienischen Politikwissenschaftlers Antonio Negri an. Ein Begriff, der für sie "die komplementäre Figur zum Volk" darstellt: "Die Idee, den Demos als die heterogenen Vielen, also die ‚Multitude‘, zu begreifen, bedeutet, Theorie ohne Nation und ohne Volk zu denken."
Die "Multitude" sei transnational, so Lorey. "Sie kann sich nicht beschränken auf nationale Grenzen, weil sie nicht über Zugehörigkeit funktioniert, sondern über Verbundenheit und über Sorge." Gerade das mache sie zu einem guten Ausgangspunkt dafür, neue, inklusive Formen von Demokratie jenseits patriarchaler Machtstrukturen zu entwickeln.
(fka)

Isabell Lorey: "Demokratie im Präsens. Eine Theorie der politischen Gegenwart"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
217 Seiten, 20 Euro

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