Hassemer: Der Staat wird mehr als Partner gesehen

Winfried Hassemer im Gespräch mit Klaus Pokatzky |
Der ehemalige Verfassungsrichter Winfried Hassemer hält das Grundgesetz für "ein Gesetz, was nah am Leben ist, was auf den sozialen Wandel reagiert, was beweglich ist, was lernfähig ist". So verlieren zum Beispiel derzeit die Grundrechte ihren Charakter als Abwehrrechte gegen den Staat, findet Hassemer.
Konrad Adenauer: "Gemäß Artikel 145 verkündige ich im Namen und im Auftrage des parlamentarischen Rates das Grundgesetz."

Konrad Adenauer am 23. Mai 1949. 60 Jahre Grundgesetz. Hält unsere Verfassung, was sie verspricht?

Klaus Pokatzky: Danach fragen wir in dieser Woche jeden Tag im "Radiofeuilleton", und heute fragen wir nach der Verfassung unserer Grundrechte. Jenen Bürgerrechten, die unser nun 60 Jahre altes Grundgesetz garantiert wie keine deutsche Verfassung davor. Gestern wurde in Karlsruhe der aktuelle Grundrechtereport vorgestellt, den jedes Jahr neun Bürgerrechtsorganisationen erarbeiten. Präsentiert hat ihn in der Stadt des Bundesverfassungsgerichts dessen ehemaliger Vizepräsident Winfried Hassemer, den ich nun am Telefon begrüße. Guten Tag, Herr Hassemer!

Winfried Hassemer: Tag, Herr Pokatzky!

Pokatzky: Herr Hassemer, Sie bezeichnen unser Grundgesetz gern als eine "Baustelle". In welchem Zustand ist die Baustelle Grundgesetz denn, wenn Sie sich den Grundrechtereport 2009 ansehen - ist die Baustelle eher in Unordnung oder wird da sauber gearbeitet?

Hassemer: Ihr Zustand ist ewig, hoffe ich jedenfalls. Ich hoffe, das Grundgesetz wird immer eine Baustelle bleiben. Das heißt, ein Gesetz, was nah am Leben ist, was auf den sozialen Wandel reagiert, was beweglich ist, was lernfähig ist. Sie bleibt also immer eine Baustelle. Aber ich glaube schon, sie ist ziemlich geordnet. Sie hat an ein paar Stellen Probleme, aber wer hat das nicht?

Pokatzky: Was hat Sie denn am meisten beunruhigt im Grundrechtereport?

Hassemer: Im Grundrechtereport hat mich am meisten beunruhigt die jetzt aufkommende Diskussion bei uns über die Verwendbarkeit von Aussagen, die auf Folter beruhen. Nicht auf Folter bei uns - Gott befohlen -, aber doch auf Folter in, ja, in Folterstaaten muss man sagen. Und da werden wir anfangen zu diskutieren, dürfen wir das verwenden oder müssen wir uns da abschotten.

Pokatzky: Das heißt, wir sind jetzt bei dem Thema "Sicherheit versus Freiheit", dem großen zentralen Thema sicherlich dieses Grundrechtereportes. Was bedeutet das denn für unsere Verfassung aktuell?

Hassemer: Also das bedeutet für unsere Verfassung, denke ich, vielleicht eine neue Definition der Würde des Menschen. Bisher ist das Bundesverfassungsgericht völlig klar und eindeutig der Meinung, dass Folter unter gar keinen Umständen sein darf. Keine Rettungsfolter, keine Hilfsfolter, auch keine, wenn man so will, Justiz-nicht-Behinderungsfolter, also Wahrheitsfindungsfolter. Und das folgern wir aus dem Artikel 1 des Grundgesetzes: Die Menschenwürde ist unantastbar. Wir haben schon im Fall Gäfgen oder in anderen Konstellationen immer wieder diskutiert, ob das denn so sein muss. Ich meine, es muss so sein. Aber ich glaube, es kommt eine Diskussion auf.

Pokatzky: Wir haben es ja auch mal diskutiert, gerade als es um Ihren Nachfolger ging, den Staatsrechtler in Würzburg, Horst Dreier, dem ja unterstellt wurde, er habe eine Sympathie damals gehabt im Fall des Entführers, des Mörders auch des Frankfurter Bankierssohns Jakob von Metzler, er habe da Sympathie für solche Foltermaßnahmen gehabt. Sie haben einmal gesagt, das Wunderbare an dieser Diskussion sei gewesen, dass es wirklich in unserer Gesellschaft, in der Politik, in den Medien einen völligen Konsens gegeben habe, dass Folter nach wie vor ein Tabu sei. Ist das für Sie nun aufgelockert?

Hassemer: Nein, das glaube ich nicht. Ich habe auch damals, ja klar, man konnte ja sehen, das war kein vollständiger Konsens, aber es war doch die ganz große Mehrheit, und ich habe vor ein paar Jahren, Jahrzehnten fast schon, gedacht, mit diesen Konstellationen, dann kann es gut sein, dass unsere Diskussion entgleitet. Aber sie ist nicht entglitten. Ich war sehr zufrieden.

Pokatzky: Was sagt der Grundrechtereport zum Thema Datenschutz?

Hassemer: Der Grundrechtereport sieht die Sache ein kleines bisschen anders als ich. Der Grundrechtereport klagt. Er sagt, man kann sehen, dass der Datenschutz nun überhaupt nichts mehr wert ist, weil er nämlich in allen möglichen Konstellationen verletzt wird. Und das sieht man ja auch jeden Tag, steht in den Zeitungen. Ganz große Firmen machen das. Das ist richtig soweit, aber ich bewerte das anders. Also ich war eigentlich immer der Meinung, der Datenschutz ist ein totes Recht. Es gibt kein Grundrecht, dem es so schlecht gegangen ist in den letzten Jahrzehnten wie dem Datenschutz. In den 80er-Jahren, 70er-Jahren sind die Leute noch auf die Straße gegangen, das ist heute völlig unvorstellbar.

Aber man sieht's, es lässt sich noch skandalisieren, und das freut mich außerordentlich. Es lässt sich skandalisieren, wenn ein Datenschutzverstoß stattfindet, weil die Leute merken, das betrifft mich möglicherweise. Ich arbeite da oder ich habe da telefoniert - und das freut mich natürlich.

Pokatzky: Ist denn Datenschutz heute denn nicht eher, Sie haben es ja eben schon mal leicht erwähnt, eher bedroht durch große Unternehmen, durch deren Ausspähaktionen gegen Mitarbeiter, als noch durch den Staat?

Hassemer: Da haben Sie recht. Also der große Fehler der Datenschützer ganz im Anfang war, die haben erwartet: Erstens, der große Verletzer ist der Staat - war falsch, die großen Verletzer sind die Privaten. Und zweitens haben sie angenommen, der Staat macht das in großen Containern, Datenverarbeitungscontainern, die stehen an bestimmten Stellen, auch das war falsch. Jeder hat das Datenschutzverletzungsinstrument in der Hosentasche.

Pokatzky: Wenn wir uns die 60 Jahre Grundgesetz einmal ansehen, so hat es ja auf dieser immerwährenden Baustelle immer so Einzelbaustellen gegeben. Wir hatten in den 50er-Jahren die Wiederbewaffnung und die Bundeswehr als Herausforderung auch für das Bundesverfassungsgericht, in den 60er-Jahren die Notstandsgesetze, in den 70er-Jahren den Terror der Roten Armee Fraktion, 80er-Jahre Volkszählung mit dem Urteil des Gerichts, 90er-Jahre Wiedervereinigung. Was ist die große Baustelle für unser Jahrzehnt?

Hassemer: Ich glaube, die große Baustelle bei uns ist Sicherheitsparadigma, Prävention, Verhinderung von Risiko, das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit.

Pokatzky: Wo sehen Sie da die größten Gefahren?

Hassemer: Wir hatten einmal die Sicherheit, dass die Angemessenheit von staatlichen Eingriffen ein wichtiger Punkt ist, dass der Staat, der Leviathan ist, vor dem man sich schützen muss, dass die Grundrechte Abwehrrechte sind, in der Hand des Bürgers gegen eine Übermacht des Staates, das verschiebt sich. Ich glaube, der Staat wird nicht mehr wahrgenommen oder nur noch von wenigen wahrgenommen als Bedrohung. Der Staat wird wahrgenommen als Partner, weil wir gar nicht Angst vor dem Staat haben, sondern weil wir Angst vor Risiken haben. Wir haben Angst vor Krisen - man braucht jetzt nicht nur die Finanzkrise anzusehen, wie väterlich der Staat hier auftritt und wie er alles regelt.

Aber das war in unserer Geschichte immer nur die eine Seite der Medaille. Das tut er auch. Aber auf der anderen Seite ist er auch gefährlich. Und das hat unsere Grundrechte als Abwehrrechte immer bestimmt und charakterisiert. Das verliert sich, das verschiebt sich. Das muss vielleicht nicht schlimm sein, ich bedaure das.

Pokatzky: Ich spreche in unserer Reihe "60 Jahre Grundgesetz" mit Winfried Hassemer, dem ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Herr Hassemer, wie steht unser Grundgesetz in 40 Jahren da, zum 100. Geburtstag? Haben wir da ganz viel an Souveränität, auch an verfassungsrechtlicher Souveränität an Europa abgetreten?

Hassemer: Damit ist zu rechnen. Das muss auch nicht unbedingt Europa sein, das können internationale Bünde sein, und das ist auch nichts Schlimmes. Ich denke zum Beispiel daran, dass nach den Nazis hatte auch das Bundesverfassungsgericht, aber die anderen Gerichte auch, große Probleme, sagen wir mal, ihre Entscheidungen zu begründen mit so etwas wie mit einem Naturrecht, weil sie die Erfahrung gemacht haben, es gibt Unrecht in Gesetzesform. Das war ein großes Problem.

Dieses Problem haben wir nicht mehr, unter anderem deshalb, weil es mittlerweile sehr viele globale internationale Vereinbarungen über den Schutz der Menschenrechte gibt, auf die man sich heute berufen kann. Und insoweit haben uns die internationalen Anbindungen natürlich auch ein bisschen aus dem normativen Dreck gezogen. Ich glaube aber, es wird sich nicht viel am Grundgesetz selbst ändern, also wenn die Politiker ihre schlechte Neigung aufgeben, alles Mögliche, wofür sie gerade eine Zweitdrittelmehrheit haben, nun auch gerade deshalb ins Grundgesetz zu schreiben.

Pokatzky: Was ist Ihr Lieblingsartikel im Grundgesetz?

Hassemer: Artikel 1.

Pokatzky: Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Und wenn Sie einen Wunsch zum Geburtstag jetzt frei hätten, was würden Sie am Grundgesetz ändern?

Hassemer: Am Grundgesetz würde ich eigentlich gar nichts ändern, sondern ich würde mal den 146, Artikel 146 aufschlagen und dann mal versuchen, ihn ernst zu nehmen.

Pokatzky: Was steht da drin?

Hassemer: Nach der Wiedervereinigung hat der Verfassungsgeber gesagt, diese Verfassung verliert, dieses Grundgesetz verliert seine Geltung, wenn das deutsche Volk eine neue Verfassung beschließt. Auf Deutsch: Der Weg ist offen, er muss nicht begangen werden, aber er kann begangen werden, dass wir alle zusammen noch mal über das Grundgesetz abstimmen. Und das Grundgesetz dann oder die Verfassung oder wie man sie immer nennen mag, das muss sich ja inhaltlich gar nicht so sehr von dem unterscheiden, was wir heute als Grundgesetz haben.

Pokatzky: Das heißt, Sie haben durchaus Sympathie für den Vorschlag, den der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering gemacht hat ...

Hassemer: Ja.

Pokatzky: ... noch einmal über eine neue gesamtdeutsche Verfassung nachzudenken?

Hassemer: Ja.

Pokatzky: Für wie realistisch halten Sie das denn?

Hassemer: Oh, wer weiß, was morgen realistisch ist, warum soll das nicht realistisch sein? Ich glaube, man muss gar keine Angst haben, vielleicht, wenn man die Wirtschaftskrise hinter sich hat, man muss gar keine Angst haben, dass die Deutschen irgendwie jetzt nun ganz in eine falsche Richtung marschieren. Das werden sie nicht sicher tun. Aber was ich gut fände an der Sache: Wir hätten wiederum eine schöne Verfassungsdiskussion untereinander. Und das kann immer nur gut sein.

Pokatzky: Wie feiern Sie dann den 60. Geburtstag, jetzt am 23. Mai?

Hassemer: Ich rede zum Beispiel mit Ihnen und ich rede mit anderen Leuten und ich verkünde überall, wo man mich hören will, dass ich das Grundgesetz in einer guten Verfassung sehe.

Pokatzky: Aber Sie lassen da nicht die Champagnerkorken direkt am 23. Mai knallen?

Hassemer: Das wird sich herausstellen, ich habe mich jedenfalls mit dieser Frage noch nicht beschäftigt.

Pokatzky: In unserer Reihe "60 Jahre Grundgesetz" hörten Sie heute ein Gespräch mit Winfried Hassemer, dem ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Vielen Dank, Herr Hassemer! Morgen hören Sie im "Radiofeuilleton" um 15:10 Uhr ein Interview mit dem Verfassungsrechtler Christoph Möllers. Dann geht es um einen Vergleich der Verfassungen Deutschlands sowie der USA, Großbritanniens und Frankreichs.
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