Eigentum verpflichtet - auch heute noch

Uwe Wesel im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 18.05.2009
In einer neuen Reihe im Radiofeuilleton beleuchten wir anlässlich des 60. Geburtstages des Grundgesetzes, inwiefern der Anspruch des Grundgesetzes verwirklicht ist. Der Verfassungshistoriker Uwe Wesel betont, dass Artikel 14 Absatz 2 des Grundgesetzes- "Eigentum verpflichtet" - bis heute fortwirkt. Das merke man z.B. im Mietrecht. Im Arbeitsrecht hingegen klafften Verfassungsanspruch und -wirklichkeit noch weit auseinander. Durch viele internationale Verpflichtungen und das EU-Recht werde der Artikel auch zum Teil außer Kraft gesetzt.
Konrad Adenauer: "Gemäß Artikel 145 verkündige ich im Namen und im Auftrage des Parlamentarischen Rates das Grundgesetz."

Konrad Adenauer am 23. Mai 1949. 60 Jahre Grundgesetz - hält unsere Verfassung, was sie verspricht?

Liane von Billerbeck: Danach fragen wir in dieser Woche, heute mit Blick auf den Artikel 14, der Eigentum- und Erbrecht garantiert. In den aktuellen Debatten um die Wirtschaftskrise wird immer wieder nach der Regulierbarkeit des Kapitalismus und seiner Sozialstaatlichkeit gefragt. Der Artikel 14 wirkt da eher unscheinbar und dennoch prägt er die Gesellschaft und ist die Grundlage der Wirtschaft. Eigentum verpflichtet - hält unsere Verfassung, was sie verspricht? Das wollen wir von dem Juristen und Verfassungshistoriker Uwe Wesel wissen, der jetzt im Studio ist. Herzlich Willkommen!

Uwe Wesel: Guten Tag!

Von Billerbeck: Das Grundgesetz ist 60 alt. Wie wichtig war das für eine stabile Entwicklung der Bundesrepublik?

Wesel: Das Grundgesetz, das vom Parlamentarischen Rat beschlossen worden ist, ist auf eine erstaunliche Weise gelungen und gut, obwohl diejenigen, die das damals beschlossen haben, das waren ja 65 Vertreter der Länderparlamente, die waren gar nicht so überzeugt, dass das so toll war, und die Menschen im Lande haben sich dafür fast gar nicht interessiert. Die haben sich viel mehr noch ein Jahr vorher für die Währungsreform interessiert. Das Interesse an dem, was da in Bonn im Parlamentarischen Rat gemacht wurde, war begrenzt, ich glaube, 40 Prozent haben gesagt, das interessiert mich nicht. Ich war damals 16 Jahre alt, ich muss Ihnen zu meiner Schande gestehen: Mich hat es auch nicht sehr interessiert.

Es ist eigentlich sogar eine Art Wunder, diese Verfassung, mit der wir ja bis heute ganz gut leben. Es gibt Defizite, gar keine Frage, aber im Grunde ist es ein Wunder, dass es auch sogar die staatliche Vereinigung 1990 überstehen konnte und bis heute gut funktioniert.

Von Billerbeck: Wir wollen ja in dieser Woche über einzelne Artikel sprechen, die eine besondere Rolle spielen. Bei uns ist das heute der Artikel 14, der steht also gar nicht so weit vorne im Grundgesetz, und dennoch ist diese Eigentumsgarantie die wohl wichtigste Grundlage für die Wirtschaftsordnung. War so eine Eigentumsgarantie damals eigentlich selbstverständlich?

Wesel: Im Artikel 14 steht im ersten Absatz, das Eigentum wird garantiert, und im zweiten Absatz, es verpflichtet aber auch. Das ist die sogenannte soziale Bindung. Es waren viele damals, auch innerhalb der CDU, der Meinung, man sollte Banken und Großindustrie sozialisieren.

Von Billerbeck: Die hatten ja im Ahlener Programm auch noch den christlichen Sozialismus drin, die CDU.

Wesel: Ja, ja, das hat die CDU in ihrem Ahlener Programm so beschlossen, darüber ist im Parlamentarischen Rat viel gesprochen worden. Ich glaube, diese fürchterliche Agitation der Kommunisten - es waren kommunistische Abgeordnete im Parlamentarischen Rat, besonders Herr Reimann -, die haben das auch verhindert, dass die eher bürgerlichen Abgeordneten, die schon zu sich sagten, das geht so nicht weiter, dann doch den Artikel 1, also die Garantie des Eigentums, aufgenommen haben und dann aber die Sozialbindung im Artikel 2 noch mit hineingeschrieben haben. Und darüber müssen wir jetzt reden.

Von Billerbeck: Wie kam denn dieser Artikel dann in die Verfassung und was hat dessen Autoren bewegt?

Wesel: Es war im Wesentlichen Carlo Schmid. Es war ja so, dass ... Der Adenauer und Carlo Schmid, das waren die beiden überragenden Figuren damals, der Adenauer wurde Präsident und hat im Grunde, unter uns gesagt, erst mal dafür gesorgt, dass er später auch Kanzler wird. Er konnte sich ja immer raushalten, als Präsident des Parlamentarischen Rates brauchte er sich in die Einzelheiten nicht einzumischen, hat, auf Deutsch gesagt, seine Kanzlerkandidatur vorbereitet. Carlo Schmid, der ein Jurist war, Staatsrechtler, Professor an der Uni Frankfurt, glaube ich, war eigentlich der Kopf. Der hat es dann hineingebracht - nicht allein, aber das meiste. Er war sozusagen der Motor dieses Gesetzes, so wie es dann zustande gekommen ist.

Von Billerbeck: Eigentum verpflichtet, dieser Absatz 2 von Artikel 14, hatte der eigentlich Auswirkungen, oder war er dann schnell vergessen?

Wesel: Nein, nein, der hat schon Auswirkungen bis heute. Sehen Sie, ich nenne Ihnen nur ein Beispiel. Wir haben einen sehr starken Mieterschutz, das heißt, ein Hauseigentümer ... Nehmen Sie einen Wohnblock oder selbst die Villa, in der ich wohne, da im Grunewald, hat sechs Wohnungen - die Eigentümerin kann uns nicht kündigen. Die kann mit ihrem Eigentum nicht machen, was sie will, sie kann, auf Deutsch gesagt, mich nicht rausschmeißen - es sei denn, sie hat Eigenbedarf sie hat aber 160 Quadratmeter da unten selber, das ist also sehr unwahrscheinlich, dass sie da noch was machen kann - oder eine andere wirtschaftliche Verwertung. Das ist sehr schwierig, und der Eigentümer eines Grundstücks, eines Hauses, das vermietet ist, ist in seiner Verfügung über das Eigentum zum Wohle der Allgemeinheit, zu der ich dann auch gehöre, in seiner Verfügung über das Eigentum beschränkt. Und es gibt viele andere Beispiele.

Von Billerbeck: Ich könnte mal ein Gegenbeispiel bringen. Da gibt es jetzt zum Beispiel in der Brandenburgischen Landeshauptstadt Potsdam einen Streit um die öffentliche Nutzung eines Uferweges, der war nach dem Mauerfall frei, um den Potsdamer Griebnitzsee herum. Jetzt haben die Anrainer ihn gesperrt, denen die Grundstücke am See gehören und zwar deshalb, weil das Gericht nach einem Urteil ihnen dazu die Möglichkeit gegeben hat. Könnte man jetzt mit dem Artikel 14 Absatz 2 argumentieren in so einer Auseinandersetzung und hätte man damit Erfolg?

Wesel: Man hat gewisse Aussichten auf Erfolg, ja. Das ist ja die Enteignung. Dann müssen die Anrainer eben enteignet werden und entschädigt werden, das ist möglich, auch nach Artikel 14 Absatz 2. Die Probleme bestehen nicht so sehr im Mietrecht und in solchen Fällen, sondern im Arbeitsrecht und in der Verfügung über das Eigentum an einem Betrieb. Zum Teil ist da auch schon einiges geschehen, zum Beispiel mit dem Mitbestimmungsgesetz, aber nicht genügend, es gibt Betriebsräte, die Mitspracherechte haben, aber bei den Betrieben, ob große oder kleine, da ist der Sozialstaat noch nicht ausreichend verwirklicht und da klaffen auch Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit immer noch auseinander.

Von Billerbeck: Meinen Sie, dass in so einer Situation wie der jetzigen, wo wir auf eine große Krise zusteuern - wir sind ja noch gar nicht richtig drin -, dass solche Verfassungsgrundsätze da eher beschädigt oder eher bestätigt werden?

Wesel: Diese Krise, in der wir jetzt sind, zeigt sehr deutlich also das, was Herr Müntefering die Heuschrecken genannt hat, dieser Vorgang von Shareholder Value vor dem Interesse des Betriebes mit seinen Beschäftigten als solchen. Das, was mal in der Bundesrepublik tatsächlich praktiziert wurde, ohne dass das gesetzlich geregelt war, der sogenannte rheinische Kapitalismus. Große Betriebe wie Grundig oder so weiter, wo der Eigentümer auch eine Verantwortung für seine Mitarbeiter fühlt, das ist in den letzten 20, 30 Jahren bei uns nicht mehr so praktiziert worden. Es gibt noch Familienbetriebe, ...

Von Billerbeck: ... aber die Globalisierung schreitet voran und manchmal weiß man ja gar nicht mehr: Wem gehört dieser Betrieb eigentlich?

Wesel: Das ist richtig, das ist richtig. Es hat auch damit zu tun, dass wir in unserer Souveränität ... Leider Gottes - wir haben ständig Einflüsse von draußen -, entweder durch internationale Verpflichtungen wie die Europäische Union oder Ähnliches oder aber eben durch die Globalisierung wird dieser Verfassungsartikel zum Teil außer Kraft gesetzt.

Von Billerbeck: Wann ist denn der Punkt, wo zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit so ein großer Unterschied oder so eine Diskrepanz besteht, dass die Glaubwürdigkeit der Verfassung darunter leidet?

Wesel: Ja, das sehen wir doch jetzt. Es ist eben ... In den letzten Jahren hat sich eben das Eigentum an diesen Unternehmen - auch bei den Banken und auch bei Großbetrieben -, das hat sich zugunsten der Eigentümer verschoben, gegen die Interessen der Allgemeinheit und der dort Beschäftigten. Das sehen wir ja. Das ist jetzt nicht ein, sagen wir mal, ein Versagen des Grundgesetzes 14 2, sondern da brauchen wir nun leider - weil wir unsere Souveränität teilweise verloren haben, auch durch die Globalisierung -, hier brauchen wir jetzt sehr klare, internationale Vereinbarungen, die so etwas verhindern.

Von Billerbeck: Internationale Vereinbarungen, um die deutsche Verfassung so am Leben zu erhalten?

Wesel: Ja. Ungefähr 70 Prozent - andere Leute sagen sogar 80 Prozent - aller Bestimmungen über unser Wirtschaftsleben hier in der Bundesrepublik kommen nicht mehr aus Berlin vom Bundestag und Bundesrat, sondern die kommen als Richtlinien oder Verordnungen von der Europäischen Kommission und dem Ministerrat. Wir sind auch schon selbst innerhalb Europas nicht mehr souverän. Das war bisher in Ordnung, aber jetzt, mit der Globalisierung, stehen bei uns auch die Firmen angeblich unter einem so hohen Druck, dass sie nicht widerstehen können.

Von Billerbeck: Nun gibt es ja auch jetzt allerhand Begehrlichkeiten, was die Verfassung angeht, den Drang, bestimmte Grundsätze hinzuzufügen, an der Verfassung so ein bisschen herumzudoktern, Stichwort Schuldenbremse und solche Dinge. Was halten Sie davon?

Wesel: Das ist im Prinzip richtig, es wird nur nicht viel nützen. Es steht in der Verfassung zum Beispiel auch seit, lassen Sie mich nachdenken, 1967, dass die Haushaltspolitik des Bundes Rücksicht nehmen muss auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht. Das war Karl Schiller mit seiner konzertierten Aktion und der ersten Wirtschaftskrise, die man damals als sehr bedrohlich ansah und die im Verhältnis zu heute eine Minikrise gewesen ist. Da haben schon alle geschrien, um Gottes Willen, unser Sozialprodukt steigt nicht mehr. Das stieg auch tatsächlich nicht, aber jetzt steigt es ja nicht nur nicht, sondern es fällt wahrscheinlich.

Die Krise heute ist viel, viel größer als damals. Wir haben die Katastrophe umschifft, wir sind immer noch in einer großen Krise, aber das können wir nur mit Schulden machen. Und nun kommt die ... Sozusagen auch zum Beispiel in der zweiten Föderalismusreform, da soll das ja dann rein, die Schuldenbegrenzung. Ich halte das für unsinnig. Der Kapitalismus muss ein menschlicheres Antlitz bekommen, dafür müssen wir jetzt einfach zahlen und ich bin auch sicher, dass wir das schaffen werden. Es wird noch schlimmer kommen, aber die Katastrophe ist vermieden und die Schuldengrenze, die wird nicht halten.

Von Billerbeck: 60 Jahre Grundgesetz - der Artikel 14 war heute unser Thema, der das Eigentum gewährleistet, im Gespräch mit dem Juristen und Verfassungshistoriker Uwe Wesel. Danke für Ihr Kommen!