Hartmut Lange: "Der Blick aus dem Fenster"

Ein Augenblick, der alles entscheidet

Der Himmel über Berlin
Der Himmel über Berlin mit dem Fernsehturm. © picture alliance / dpa / Foto: Britta Pedersen
Von Manuela Reichart  · 07.10.2015
In acht Erzählungen ist Hartmut Lange geheimnisvollen Begegnungen auf der Spur - vorrangig in Berlin. Denn "wer eine ganze Stadt aufreißt, kann vor Überraschungen nicht sicher sein". Momentaufnahmen über das Böse und die Liebe.
Die Vergangenheit drängt sich mit Macht in die Gegenwart, aber die verlorene Liebe kommt nicht zurück, das Böse bleibt unerklärlich: Acht Geschichten über alltägliche Irritationen und verstörende Geheimnisse.
Ein Mann schaut aus dem Fenster und sieht dort, was er vorher auf einem alten Gemälde betrachtet hatte: Eine Dame in Pelerine steigt aus einer Kutsche. Er ist ein vernünftiger Ministerialbeamter und eigentlich nicht anfällig für solcherlei Phantastereien. Und doch besetzt und beschäftigt ihn, was sich nachts auf der Straße vor seinem Fenster abspielt, aber eigentlich nicht sein kann. Ebenso wenig kann Rahel Varnhagen am Potsdamer Platz herumirren und ihren Hut verlieren, aber sie ist es leibhaftig, der der Ich-Erzähler einer anderen Geschichte begegnet.
In Berlin bleibt gerade kein Stein auf dem anderen
Er ist irritiert, aber nicht verstört, schließlich bleibt in seiner Stadt, in Berlin gerade kein Stein auf dem anderen, da muss die Vergangenheit mit Macht hervor kommen. Die Erinnerungsspuren im Stadtbild werden getilgt, gerade auf dem Potsdamer Platz, der so hässlich und ungefügt ist wie er nie war. "Ich spürte, wie öde und trostlos es war, auf Spaziergängen immer nur gegenwärtig zu sein." Also verfolgt er die Varnhagen, die am Ende tatsächlich Spuren hinter lässt auf der Gedenktafel, die ihren Namen trägt. "Man soll die Toten nicht unterschätzen, dachte ich."
Hartmut Lange erzählt – wie er das oft und mit großer Meisterschaft getan hat – in der gegenwärtigen Alltäglichkeit angesiedelte Spukgeschichten. Es ist nur ein Schritt vom Wege, der die Toten erwachen, die Bilder oder Statuen lebendig werden lässt. Diese acht neuen Erzählungen spielen in München und in der Nähe von Hamburg, an der Ostseeküste und der Nordwestküste Englands und – vor allem – in Berlin, denn "wer eine ganze Stadt aufreißt, kann vor Überraschungen nicht sicher sein".
Eine attraktive Frau wird zum Spielball
Der Autor ist in seinen Momentaufnahmen, diesen literarischen Schnittstellen zwischen Realem und Irrealem aber nicht nur geheimnisvollen Begegnungen auf der Spur, es geht auch um das Böse – und um die unvernünftige Liebe. Mit der spielt eine attraktive Frau so lange, bis sie selber zum Spielball wird. Plötzlich begreift sie, was sie dem verstoßenen Geliebten angetan hat, aber es ist zu spät. Und eine gefeierte schwedische Opernsängerin kann ihre Melancholie nur schwer beherrschen, als sie Mahlers "Lied von der Erde, diesen unbedingten Willen zum Abschied" singen soll im prunkvollen, heiteren Münchner Cuvilliés Theater.
Manchmal ist es nur ein Augenblick, der alles entscheidet, eine Windung des Schicksals führt ins Grauen. Eva Braun hätte eine andere sein können, aber dieser Gedanke im Führerbunker kurz vorm Giftselbstmord wispert ihr eine Stimme zu, die angesichts des übermächtigen Bösen keine Chance hat, und so geht es am Ende dieser verstörenden Geschichte nur um die Wahl des passenden Kleides. Sie soll das baumwollene nehmen, weil das besser brennen wird.

Hartmut Lange: "Der Blick aus dem Fenster. Erzählungen"
Diogenes Verlag, Zürich 2015
104 Seiten, 19,00 Euro