Harry Graf Kessler: "Erinnerungen eines Europäers"

Von Gentlemen und Rebellen

06:11 Minuten
Buchcover zu Harry Graf Kessler: Erinnerungen eines Europäers
Drei Bände sollte Harry Graf Kesslers Autobiografie umfassen. Nur einen hat er geschafft. © Steidl Verlag
Von Martin Ahrends · 01.02.2020
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Harry Graf Kessler überlieferte die gesellschaftlichen Stimmungen bis 1937 meisterhaft in voluminösen Tagebüchern. Auch die jetzt neu aufgelegten Erinnerungen an seine erste Lebenshälfte begeistern mit poetischen Menschenbildern und klugen Gedanken.
Die Erstausgabe von 1935 trug den Titel "Gesichter und Zeiten". Harry Graf Kesslers Memoirenband war der erste einer auf drei Bände angelegten autobiografischen Reihe, die leider unvollendet blieb. Kessler starb 1937 im französischen Exil. Dieser Band beschränkt sich auf die Kindheit und Jugendzeit des 1868 in Paris geborenen Autors. Er beschreibt seine Schulzeit in den Internaten von Paris, im südenglischen Ascot und in Hamburg, dann seine Studienzeit in Bonn und Leipzig.
Neben Kesslers viel gelesenen Tagebüchern sind diese Erinnerungen wertvoll, weil er hier das Wetterleuchten des Fin de Siècle meisterhaft in seinen Zeitgenossen spiegelt. Gesichter und Zeiten: Wir begegnen Menschen, die von ihrer Zeit eigentümlich geprägt sind und ihre Zeit repräsentieren. Da finden sich köstliche Frauenportraits, zuerst das seiner Mutter, deren Erinnerungen einen Großteil der ersten Kapitel ausmachen; neben Sarah Bernhardt haben auch "die Lisette", Kesslers erste große Liebe, und die kokette Sonja ihre Auftritte. Letztere stirbt durch die Kugel eines Kommilitonen.

Europäer aus Überzeugung

Nur einen Seitenblick wirft er aufs ungeliebte Hamburg, wo die Menschen und Dinge allesamt blitzeblank, gediegen und ohne Geschmack seien, "weshalb Hamburgerinnen, wenn sie nach Paris kamen, meist etwas steif und gestriegelt aussahen".
Der genuine Europäer kann Mentalitäten und Bildungsideale vergleichen. Er erkennt den Gentleman als etwas in Europa Einzigartiges. Ohne die Typen des Gentleman und des Rebellen wäre England nie Weltreich geworden, schreibt Kessler: "Ich befand mich selber noch als Material in der Fabrik, erlebte die Herstellung von Gentlemen am laufenden Band an anderen und mir selbst. Das fertige Produkt war, wenn es glückte, Qualitätsware, das Beste vom Besten, wie die in englischen Gestüten gezüchteten und prämiierten Vollblüter oder wie die Woll- und Baumwollstoffe von Lancashire."
Der ironische Report seiner Erlebnisse in Ascot kontrastiert mit der zärtlichen Schilderung des mütterlichen Salons und der Empfänge in den höfischen Kurbädern. Es ist ein hoch entwickeltes Geflecht von Begegnungen und Beziehungen, das uns der Autor überliefert: "Die ungewohnte Kühle im Ton einer Stimme, die leichte Senkung oder Hebung eines Fächers auf einem Empfang, einem Botschaftsdinner, einem Ball, wie Blätter, die in der Luft wirbelnd Richtung und Stärke eines aufkommenden Windes anzeigen, schwache Vorboten eines über Europe heraufziehenden Gewitters."

Lauter kleine Bismarcks

Die Rede ist von einer Umbruchzeit, die das überkommene Menschenbild gründlich verändern sollte: Vom Ideal des Humanen, das die Goethe-Zeit entflammt hatte, sei nur der ungeheure Fleiß übrig geblieben. Und dieser Fleiß habe sich selbständig gemacht, habe wie eine satanische Majestät den Thron des alten humanen Ideals usurpiert, um den Herren der neuen Zeit die für die Mechanisierung benötigten Sklaven zu liefern.
Harry Graf Kessler begibt sich auch dort hin, wo seinesgleichen damals nichts zu suchen hatte: ins Arbeitermilieu. Aus nächster Nähe hat er die Aristokratie seiner Zeit wahrnehmen können, seine Eltern verkehrten mit Kaiser Wilhelm I. und Otto von Bismarck.
Harry Graf Kessler (1868−1937) auf einer undatierten Fotografie
Harry Graf Kessler (1868-1937) auf einer undatierten Fotografie© picture alliance / Fine Art Images / Heritag
In Kesslers Beschreibung scheint der historische Luftzug des Eisernen Kanzlers bis heute spürbar: "Das Gefährlichste war, dass infolge der Suggestionskraft seiner Person Hunderttausende von kleinen Bismarcks herumliefen, die bemüht waren, zu hassen wie er, und jeden politisch beschnüffelten, ob er sich als Objekt für diese Leidenschaft eigne. So entstand eine allgegenwärtige Inquisition und schuf über Deutschland ein für selbständige politische Charaktere tödliches Klima."

Nietzsches Gedanken lockten und gruselten

"Erinnerungen eines Europäers" heißt der Band heute, wie er schon 1936 in der französischen Übersetzung hieß. Aus heutiger Sicht verdunkelt die europäische Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs die Jahrzehnte davor, eine kultivierte, glanzvolle Welt, zugleich ein rasanter, riskanter Aufbruch in neue Gedanken, Lebensformen, Moralvorstellungen, im "Monsterfeuerwerk" Nietzscheanischen Geistes.
An ihm hatte seine Generation teil, wie Kessler schreibt, mit einer Mischung aus angenehmem Gruseln und staunender Bewunderung: "Aber war denn überhaupt die Gefährlichkeit einer neuen Idee ein Einwand gegen sie, nicht im Gegenteil, manchmal ihr größter Vorzug? (…) Ja, gerade die Ableitung einer Moral aus den Gefahren, mit denen die immer weiter fortschreitende Zivilisierung den Menschen bedrohte – aus dem Pessimismus und Nihilismus, in die die moderne Welt wie in giftige Nebelschwaden hineintrieb, bezeichnete den Punkt, wo der Weg umbog, auf dem Nietzsche seiner Zeit voranleuchtete."
Herauf leuchten uns aus dem späten 19. Jahrhundert Harry Graf Kesslers poetische Menschenbilder. Sie wirken wie ein unwiederbringlicher Schatz an Eigenart und Charakter.

Harry Graf Kessler: "Erinnerungen eines Europäers"
Steidl Verlag, 254 Seiten, 24 Euro

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