Harper Lee gilt als die wohl bedeutendste Ein-Buch-Autorin der jüngeren Literaturgeschichte. Als ihr Roman "Wer die Nachtigall stört" 1960 erschien, wurde sie schlagartig weltbekannt. Die Handlung des Romans, die in den 1930er-Jahren spielt, weckte Hoffnungen auf eine Versöhnung zwischen Weißen und Afroamerikanern. Die Verfilmung des Buches mit Gregory Peck wurde ein Riesenerfolg. Doch auf diesen frühen Ruhm folgten keine weiteren Bücher. Erst 2015 kam ein früher Romanversuch zum Vorschein. Und nun sind die ersten Storys der jungen Schriftstellerin erschienen. Sie fanden sich in Schubladen, zusammen mit einigen Essays und Magazinbeiträgen. "Das Land der süßen Ewigkeit" ist der Band betitelt, ins Deutsche übersetzt wurde er von Nicole Seifert.
Harper Lee führte - anders als ihr Jugendfreund Truman Capote - ein zurückgezogenes Leben. Zurückhaltend war sie auch in Hinblick auf ihre literarische Produktion. Die Erzählungen, die sie in den 1950er-Jahren schrieb, verschwanden jahrzehntelang in Schubladen, ebenso ihr erstes Romanmanuskript. Man musste sich also gedulden, wenn man erfahren wollte, welche Entwicklungsschritte die Schriftstellerin machte, bevor ihr Roman "Wer die Nachtigall stört" erschien.
2015 wurde dann ihr erstes vermeintlich verschollenes Romanmanuskript mit dem Titel "Gehe hin, stelle einen Wächter" aus dem Safe geholt und der Öffentlichkeit präsentiert. In einem schamlosen Hype priesen Verlag, Agent und Werbung das Buch abwechselnd an als sensationelle Entdeckung, als Teil einer geplanten Trilogie oder als Fortsetzung des Erfolgsromans "Wer die Nachtigall stört".
Von einer Sensation kann keine Rede sein
Von solchen sensationsheischenden Manövern bleibt nun die zweite Edition von Texten aus Harper Lees Anfängen verschont. Klugerweise, denn von einer Sensation kann bei diesen acht frühen Storys und acht verstreut publizierten Essays unmöglich die Rede sein. Von Talent allerdings durchaus. Was die Lektorin Tay Hohoff über die junge Harper Lee sagte, das kann auch hier gelten: "Der Funke einer wahren Schriftstellerin blitzt in jeder Zeile auf." Mit wenigen Worten wird da die Entfremdung auf den Punkt gebracht, die eine geborene Südstaatlerin, die inzwischen in New York lebt, beim Besuch ihrer Heimatstadt in Alabama empfindet.
"Ihr wurde nach zwei Tagen klar, dass sie mit Leuten, die sie praktisch ihr ganzes Leben lang kannte, nicht mal eine Viertelstunde Freundlichkeiten austauschen konnte, ohne mitten im Satz auf Grund zu laufen. Diese Schwäche lag vor allem an ihrer Unfähigkeit, eine passende Antwort auf die Frage 'Und, wie ist New York?' zu finden."
Harper Lee: "Das Land der süßen Ewigkeit"
Von Alabama nach New York
"Das Land der süßen Ewigkeit" heißt diese Erzählung. Das ist die Titelgeschichte des Erzählbandes, die mitten hineinführt ins biografische und thematische Spannungsfeld der Schriftstellerin. 1949 zog die damals 23-Jährige aus ihrem Geburtsort Monroeville in Alabama nach New York. Sie gab das vom Vater oktroyierte Jurastudium auf, arbeitete in diversen Jobs und begann zu schreiben. Die ersten drei Geschichten dieses Bandes handeln vom Aufwachsen in der Provinz der Südstaaten, wo Moral, Religion und Rassentrennung den Alltag bestimmten. Ein Mädchen erlebt die Qualen der Pubertät. Die von mangelnder Aufklärung befeuerte Angst vor einer Schwangerschaft treibt sie in einen Teufelskreis von Selbstmordgedanken.
Das ist die stärkste der Kindheitserzählungen, die aber alle drei sehr überzeugend die Kleinstadtatmosphäre und die Konflikte, den Trotz und den Wagemut der jungen Heldinnen vergegenwärtigen.
Großstadtabenteuer und Kleinstadtmoral
Die drei folgenden Erzählungen werfen Schlaglichter auf vorwiegend kuriose Begebenheiten des Lebens in New York mit turbulenten Kinobesuchen, Irrfahrten bei der Parkplatzsuche oder verrückten Freundinnen. In einer anderen Geschichte geht es um die Schwierigkeiten beim Umgang mit der Rassentrennung. Zwanzig Jahre saß ein schwarzer Gärtner einst wegen einer Bagatelle im Gefängnis und nun stößt er seine wohlmeinenden weißen Arbeitgeber vor den Kopf, weil er gegen alle Durchschnittsvernunft ein bisschen Leben nachholen will.
"Weißt du, was er zu mir gesagt hat, bevor er weg ist? Er hat gesagt: 'Tut mir leid, Mr. Lindley, ich muss noch ein bisschen Spaß haben, bevor ich zu alt bin und es nicht mehr genießen kann.'"
Harper Lee: "Das Land der süßen Ewigkeit"
Ein überwältigendes Weihnachtsgeschenk
Während diese acht Erzählungen in Stil und Inhalt eine sehr konkrete Vorstellung von den Talenten der späteren Romanautorin vermitteln, handelt es sich bei den Essays und Magazinbeiträgen um verstreute Gelegenheitsarbeiten. Zwei Porträts über Truman Capote und Gregory Peck fallen blass aus. Besonderes Interesse jedoch verdient durch ihren biografischen Tatsachencharakter die Erzählung "Weihnachten für mich". Darin berichtet die Autorin von einem überwältigenden Geschenk. Ein befreundetes Ehepaar versprach ihr unterm Weihnachtsbaum den Lebensunterhalt für ein ganzes Jahr, um sie von ihrem Brotjob bei einer Fluggesellschaft zu entlasten.
"Sie wollten mir zeigen, dass sie an mich glauben. Ob ich jemals eine Zeile verkaufte, sei egal. Sie wollten mir eine echte, faire Chance geben, mein Handwerk zu erlernen, frei vom Korsett einer festen Stelle."
Harper Lee: "Das Land der süßen Ewigkeit"
Wie Literatur gemacht und modelliert wird
Literarisch sind diese Erzähltexte keine Offenbarung. Für die Auseinandersetzung mit der Schriftstellerin Harper Lee sind sie aber, ebenso wie der spät aufgetauchte erste Roman, erhellend. Denn diese meist frühen Texte waren allein das Werk der jungen Autorin. Der berühmte Erfolg "Wer die Nachtigall stört" hingegen entstand in enger Zusammenarbeit mit der Lektorin Tay Hohoff. Aus dem Vergleich der Entstehungsbedingungen von Harper Lees Anfängen mit ihrem Hauptwerk lassen sich interessante Einsichten darüber gewinnen, wie Literatur gemacht und zuweilen modelliert wird.